Die neulateinische Poesie: Das Epos aus der alten Geschichte; die Africa — Mythendichtung — Christliches Epos; Sannazaro — Zeitgeschichtliche Poesie — Einmischung der Mythologie — Didaktische Poesie; Palingenius — Die Lyrik und ihre Grenzen — Oden auf Heilige — Elegien und ähnliches — Das Epigramm — Macaronische Poesie

Der höchste Stolz des Humanisten endlich ist die neulateinische Dichtung. Soweit sie den Humanismus charakterisieren hilft, muss auch sie hier behandelt werden.

Wie vollständig sie das Vorurteil für sich hatte, wie nahe ihr der entschiedene Sieg stand, wurde oben dargetan. Man darf von vornherein überzeugt sein, dass die geistvollste und meistentwickelte Nation der damaligen Welt nicht aus bloßer Torheit, nicht, ohne etwas Bedeutendes zu wollen, in der Poesie auf eine Sprache verzichtete, wie es die italienische ist. Eine übermächtige Tatsache muss sie dazu bestimmt haben.


Dies war die Bewunderung des Altertums. Wie jede echte, rückhaltlose Bewunderung erzeugte sie notwendig die Nachahmung. Auch in anderen Zeiten und bei anderen Völkern finden sich eine Menge vereinzelter Versuche nach diesem nämlichen Ziele hin, nur in Italien aber waren die beiden Hauptbedingungen der Fortdauer und Weiterbildung für die neulateinische Poesie vorhanden: ein allseitiges Entgegenkommen bei den Gebildeten der Nation und ein teilweises Wiedererwachen des antiken italischen Genius in den Dichtern selbst, ein wundersames Weiterklingen eines uralten Saitenspiels. Das Beste, was so entsteht, ist nicht mehr Nachahmung, sondern eigene freie Schöpfung. Wer in den Künsten keine abgeleiteten Formen vertragen kann, wer entweder schon das Altertum selber nicht schätzt oder es im Gegenteil für magisch unnahbar und unnachahmlich hält, wer endlich gegen Verstöße keine Nachsicht übt bei Dichtern, welche z. B. eine Menge Silbenquantitäten neu entdecken oder erraten mussten, der lasse diese Literatur beiseite. Ihre schöneren Werke sind nicht geschaffen, um irgendeiner absoluten Kritik zu trotzen, sondern um den Dichter und viele Tausende seiner Zeitgenossen zu erfreuen.

Am wenigsten Glück hatte man mit dem Epos aus Geschichten und Sagen des Altertums. Die wesentlichen Bedingungen einer lebendigen epischen Poesie werden bekanntlich nicht einmal den römischen Vorbildern, ja außer Homer nicht einmal den Griechen zuerkannt; wie hätten sie sich bei den Lateinern der Renaissance finden sollen. Indes möchte doch die Africa des Petrarca im ganzen so viele und so begeisterte Leser und Hörer gefunden haben als irgendein Epos der neueren Zeit. Absicht und Entstehung des Gedichtes sind nicht ohne Interesse. Das XIV. Jahrhundert erkannte mit ganz richtigem Gefühl in der Zeit des zweiten punischen Krieges die Sonnenhöhe des Römertums, und diese wollte und musste Petrarca behandeln. Wäre Silius Italicus schon entdeckt gewesen, so hätte er vielleicht einen anderen Stoff gewählt, in dessen Ermangelung aber lag die Verherrlichung des älteren Seipio Africanus dem XV. Jahrhundert so nahe, dass schon ein anderer Dichter, Zanobi di Strada, sich diese Aufgabe gestellt hatte; nur aus Hochachtung für Petrarca zog er sein bereits vorgerücktes Gedicht zurück. Wenn es irgendeine Berechtigung für die Africa gab, so lag sie darin, dass sich damals und später jedermann für Seipio interessierte, als lebte er noch, dass er für größer galt als Alexander, Pompejus und Cäsar. Wie viele neuere Epopöen haben sich eines für ihre Zeit so populären, im Grunde historischen und dennoch für die Anschauung mythischen Gegenstandes zu rühmen? An sich ist das Gedicht jetzt freilich ganz unlesbar. Für andere historische Sujets müssen wir auf die Literaturgeschichten verweisen.

Reicher und ausgiebiger war schon das Weiterdichten am antiken Mythus, das Ausfüllen der poetischen Lücken in demselben. Hier griff auch die italienische Dichtung früh ein, schon mit der Teseide des Boccaccio, welche als dessen bestes poetisches Werk gilt. Lateinisch dichtete Maffeo Vegio unter Martin V. ein dreizehntes Buch zur Aeneide; dann finden sich eine Anzahl kleinerer Versuche zumal in der Art des Claudian, eine Meleagris, eine Hesperis usw. Das Merkwürdigste aber sind die neu ersonnenen Mythen, welche die schönsten Gegenden Italiens mit einer Urbevölkerung von Göttern, Nymphen, Genien und auch Hirten erfüllen, wie denn überhaupt hier das Epische und das Bucolische nicht mehr zu trennen sind. Dass in den bald erzählenden, bald dialogischen Eklogen seit Petrarca das Hirtenleben schon beinahe völlig konventionell, als Hülle beliebiger Phantasien und Gefühle behandelt ist, wird bei späterem Anlass wieder hervorzuheben sein; hier handelt es sich nur um die neuen Mythen. Deutlicher als sonst irgendwo verrät es sich hier, dass die alten Götter in der Renaissance eine doppelte Bedeutung haben: einerseits ersetzen sie allerdings die allgemeinen Begriffe und machen die allegorischen Figuren unnötig, zugleich aber sind sie auch ein freies, selbständiges Element der Poesie, ein Stück neutrale Schönheit, welches jeder Dichtung beigemischt und stets neu kombiniert werden kann. Keck voran ging Boccaccio mit seiner imaginären Götterund Hirtenwelt der Umgebung von Florenz, in seinem Ninfale d’Ameto und Ninfale fiesolano, welche italienisch gedichtet sind. Das Meisterwerk aber möchte wohl der Sarca des Pietro Bembo sein: die Werbung des Flussgottes jenes Namens um die Nymphe Garda, das prächtige Hochzeitsmahl in einer Höhle am Monte Baldo, die Weissagungen der Manto, Tochter des Tiresias, von der Geburt des Kindes Mincius, von der Gründung Mantuas und vom künftigen Ruhme des Virgil, der als Sohn des Mincius und der Nymphe von Andes, Maja, geboren werden wird. Zu diesem stattlichen humanistischen Rokoko fand Bembo sehr schöne Verse und eine Schlussanrede an Virgil, um welche ihn jeder Dichter beneiden kann. Man pflegt dergleichen als bloße Deklamation gering zu achten, worüber, als über eine Geschmackssache, mit niemanden zu rechten ist.

Ferner entstanden umfangreiche epische Gedichte biblischen und kirchlichen Inhaltes in Hexametern. Nicht immer bezweckten die Verfasser damit eine kirchliche Beförderung oder die Erwerbung päpstlicher Gunst; bei den Besten, und auch bei Ungeschickteren wie Battista Mantuano, dem Verfasser der Parthenice, wird man ein ganz ehrliches Verlangen voraussetzen dürfen, mit ihrer gelehrten lateinischen Poesie dem Heiligen zu dienen, womit freilich ihre halbheidnische Auffassung des Katholizismus nur zu wohl zusammenstimmte. Gyraldus zählt ihrer eine Anzahl auf, unter welchen Vida mit seiner Christiade, Sannazaro mit seinen drei Gesängen „De partu Virginis“ in erster Reihe stehen. Sannazaro imponiert durch den gleichmäßigen gewaltigen Fluss, in welchen er Heidnisches und Christliches ungescheut zusammendrängt, durch die plastische Kraft der Schilderung, durch die vollkommen schöne Arbeit. Er hatte sich’ nicht vor der Vergleichung zu fürchten, als er die Verse von Virgils vierter Ekloge in den Gesang der Hirten an der Krippe verflocht. Im Gebiet des Jenseitigen hat er da und dort einen Zug dantesker Kühnheit, wie z. B. König David im Limbus der Patriarchen sich zu Gesang und Weissagung erhebt, oder wie der Ewige thronend in seinem Mantel, der von Bildern alles elementaren Daseins schimmert, die himmlischen Geister anredet. Andere Male bringt er unbedenklich die alte Mythologie mit seinem Gegenstande in Verbindung, ohne doch eigentlich barock zu erscheinen, weil er die Heidengötter nur gleichsam als Einrahmung benutzt, ihnen keine Hauptrollen zuteilt. Wer das künstlerische Vermögen jener Zeit in seinem vollen Umfange kennen lernen will, darf sich gegen ein Werk wie dieses nicht abschließen. Sannazaros Verdienst erscheint um so viel größer, da sonst die Vermischung von Christlichem und Heidnischem in der Poesie viel leichter stört als in der bildenden Kunst; letztere kann das Auge dabei beständig durch irgendeine bestimmte, greifbare Schönheit schadlos halten und ist überhaupt von der Sachbedeutung ihrer Gegenstände viel unabhängiger als die Poesie, indem die Einbildungskraft bei ihr eher an der Form, bei der Poesie eher an der Sache weiterspinnt. Der gute Battista Mantuano in seinem Festkalender hatte einen anderen Ausweg versucht; statt Götter und Halbgötter der heiligen Geschichte dienen zu lassen, bringt er sie, wie die Kirchenväter taten, in Gegensatz zu derselben; während der Engel Gabriel zu Nazareth die Jungfrau grüßt, ist ihm Mercur vom Carmel her nachgeschwebt und lauscht nun an der Pforte; dann berichtet er das Gehörte den versammelten Göttern und bewegt sie damit zu den äußersten Entschlüssen. Andere Male freilich müssen bei ihm Thetis, Ceres, Aeolus usw. wieder der Madonna und ihrer Herrlichkeit gutwillig Untertan sein.

Sannazaros Ruhm, die Menge seiner Nachahmer, die begeisterte Huldigung der Größten jener Zeit — dies alles zeigt, wie sehr er seinem Jahrhundert nötig und wert war. Für die Kirche beim Beginn der Reformation löste er das Problem: völlig klassisch und doch christlich zu dichten, und Leo sowohl als Clemens sagten ihm lauten Dank dafür.

Endlich wurde in Hexametern oder Distichen auch die Zeitgeschichte behandelt, bald mehr erzählend, bald mehr panegyrisch, in der Regel aber zu Ehren eines Fürsten oder Fürstenhauses. So entstand eine Sphorcias, eine Borseis, eine Borgias, eine Triultias usw., freilich mit gänzlichem Verfehlen des Zweckes, denn wer irgend berühmt und unsterblich geblieben ist, der blieb es nicht durch diese Art von Gedichten, gegen welche die Welt einen unvertilgbaren Widerwillen hat, selbst wenn sich gute Dichter dazu hergeben. Ganz anders wirken kleinere, genreartig und ohne Pathos ausgeführte Einzelbilder aus dem Leben der berühmten Männer, wie z. B. das schöne Gedicht von Leos X. Jagd bei Palo oder die „Reise Julius’ II.“ von Hadrian von Corneto. Glänzende Jagdschilderungen jener Art gibt es auch von Ercole Strozza, von dem eben genannten Hadrian u. a. m., und es ist schade, wenn sich der moderne Leser durch die zugrunde liegende Schmeichelei abschrecken oder erzürnen lässt. Die Meisterschaft der Behandlung und der bisweilen nicht unbedeutende geschichtliche Wert sichern diesen anmutigen Dichtungen ein längeres Fortleben als manche jetzt namhafte Poesien unserer Zeit haben dürften. Im ganzen sind diese Sachen immer um so viel besser, je mäßiger die Einmischung des Pathetischen und Allgemeinen ist. Es gibt einzelne kleinere epische Dichtungen von berühmten Meistern, die durch barockes mythologisches Dreinfahren unbewusst einen unbeschreiblich komischen Eindruck hervorbringen. So das Trauergedicht des Ercole Strozza auf Cesare Borgia. Man hört die klagende Rede der Roma, welche alle ihre Hoffnung auf die spanischen Päpste Calixt III. und Alexander VI. gesetzt hatte und dann Cesare für den Verheißenen hielt, dessen Geschichte durchgegangen wird bis zur Katastrophe des Jahres 1503. Dann fragt der Dichter die Muse, welches in jenem Augenblick die Ratschlüsse der Götter gewesen, und Erato erzählt: auf dem Olymp nahmen Pallas für die Spanier, Venus für die Italiener Partei; beide umfassten Jupiters Knie, worauf er sie küsste, begütigte und sich ausredete, er vermöge nichts gegen das von den Parzen gesponnene Schicksal, die Götterverheißungen würden sich aber erfüllen durch das Kind vom Hause Este-Borgia; nachdem er die abenteuerliche Urgeschichte beider Familien erzählt, beteuert er, dem Cesare so wenig die Unvergänglichkeit schenken zu können als einst — trotz großer Fürbitten — einem Memnon oder Achill; endlich schließt er mit dem Tröste, Cesare werde vorher noch im Krieg viele Leute umbringen. Nun geht Mars nach Neapel und bereitet Krieg und Streit, Pallas aber eilt nach Nepi und erscheint dort dem kranken Cesare unter der Gestalt Alexanders VI.; nach einigen Vermahnungen, sich zu schicken und sich mit dem Ruhme seines Namens zu begnügen, verschwindet die päpstliche Göttin „wie ein Vogel“.

Man verzichtet indes unnützerweise auf einen bisweilen großen Genuss, wenn man alles perhorresziert, worein antike Mythologie wohl oder übel verwoben ist; bisweilen hat die Kunst diesen an sich konventionellen Bestandteil so sehr geadelt als in Malerei und Skulptur. Auch fehlt es sogar für den Liebhaber nicht an Anfängen der Parodie, z. B. in der Macaroneide, wozu dann das komische Götterfest des Giovanni Bellini bereits eine Parallele bildet.

Manche erzählende Gedichte in Hexametern sind auch bloße Exerzitien oder Bearbeitungen von Relationen in Prosa, welche letztere der Leser vorziehen wird, wo er sie findet. Am Ende wurde bekanntlich alles, jede Fehde und jede Zeremonie besungen, auch von den deutschen Humanisten der Reformationszeit. Indes würde man unrecht tun, dies bloß dem Müßiggang und der übergroßen Leichtigkeit im Versemachen zuzuschreiben. Bei den Italienern wenigstens ist es ein ganz entschiedener Überfluss an Stilgefühl, wie die gleichzeitige Masse von italienischen Berichten, Geschichtsdarstellungen und selbst Pamphleten in Terzinen beweist. So gut Niccolo da Uzzano sein Plakat mit einer neuen Staatsverfassung, Macchiavelli seine Übersicht der Zeitgeschichte, ein dritter das Leben Savonarolas, ein vierter die Belagerung von Piombino durch Alfons den Großen usw. in diese schwierige italienische Versart gössen, um eindringlicher zu wirken, ebensogut mochten viele andere für ihr Publikum des Hexameters bedürfen, um es zu fesseln. Was man in dieser Form vertragen konnte und begehrte, zeigt am besten die didaktische Poesie. Diese nimmt im XVI. Jahrhundert einen ganz erstaunlichen Aufschwung, um das Goldmachen, das Schachspiel, die Seidenzucht, die Astronomie, die venerische Seuche u. dgl. in Hexametern zu besingen, wozu noch mehrere umfassende italienische Dichtungen kommen. Man pflegt dergleichen heutzutage ungelesen zu verdammen, und inwiefern diese Lehrgedichte wirklich lesenswert sind, wüssten auch wir nicht zu sagen. Eins nur ist gewiss, dass Epochen, die der unsrigen an Schönheitssinn unendlich überlegen waren, dass die spätgriechische und die römische Welt und die Renaissance die betreffende Gattung von Poesie nicht entbehren konnten. Man mag dagegen einwenden, dass heute nicht der Mangel an Schönheitssinn, sondern der größere Ernst und die universalistische Behandlung alles Lehrenswerten die poetische Form ausschlossen, was wir auf sich beruhen lassen.

Eines dieser didaktischen Werke wird noch jetzt hie und da wieder aufgelegt: der Zodiakus des Lebens, von Marcellus Palingenius, einem ferraresischen Kryptoprotestanten. An die höchsten Fragen von Gott, Tugend und Unsterblichkeit knüpft der Verfasser die Besprechung vieler Verhältnisse des äußeren Lebens und ist von dieser Seite auch’ eine nicht zu verachtende sittengeschichtliche Autorität. Im wesentlichen jedoch geht sein Gedicht schon aus dem Rahmen der Renaissance heraus, wie denn auch, seinem ernsten Lehrzweck gemäß, bereits die Allegorie der Mythologie den Rang abläuft.

Weit am nächsten kam aber der Poet-Philolog dem Altertum in der Lyrik, und zwar speziell in der Elegie, außerdem noch im Epigramm.

In der leichteren Gattung übte Catull eine wahrhaft faszinierende Wirkung auf die Italiener aus. Manches elegante lateinische Madrigal, manche kleine Invektive, manches boshafte Billett ist reine Umschreibung nach ihm; dann werden verstorbene Hündchen, Papageien beklagt ohne ein Wort aus dem Gedicht von Lesbiens Sperling und doch in völliger Abhängigkeit von dessen Gedankengang. Indes gibt es kleine Gedichte dieser Art, welche auch den Kenner über ihr wahres Alter täuschen können, wenn nicht ein sachlicher Bezug klar auf das XV. oder XVI. Jahrhundert hinweist.

Dagegen möchte von Oden des sapphischen, alcäischen usw. Versmaßes kaum eine zu finden sein, welche nicht irgendwie ihren modernen Ursprung deutlich verriete. Dies geschieht meist durch eine rhetorische Redseligkeit, welche im Altertum erst etwa dem Statius eigen ist, durch einen auffallenden Mangel an lyrischer Konzentration, wie diese Gattung sie durchaus verlangt. Einzelne Partien einer Ode, zwei oder drei Strophen zusammen, sehen wohl etwa wie ein antikes Fragment aus, ein längeres Ganzes hält diese Farbe selten fest. Und wo dies der Fall ist, wie z. B. in der schönen Ode an Venus von Andrea Navagero, da erkennt man leicht eine bloße Umschreibung nach antiken Meisterwerken. Einige Odendichter bemächtigen sich des Heiligenkultus und bilden ihre Invokationen sehr geschmackvoll den horazischen und catullischen Oden analogen Inhaltes nach. So Navagero in der Ode an den Erzengel Gabriel, so besonders Sannazaro, der in der Substituierung einer heidnischen Andacht sehr weit geht. Er feiert vorzüglich seinen Namensheiligen, dessen Kapelle zu seiner herrlich gelegenen kleinen Villa am Gestade des Posilipp gehörte, „dort, wo die Meereswoge den Felsquell wegschlürft und an die Mauer des kleinen Heiligtums anschlägt“. Seine Freude ist das alljährliche St.-Nazarius-Fest, und das Laubwerk und die Girlanden, womit das Kirchlein zumal an diesem Tage geschmückt wird, erscheinen ihm als Opfergaben. Auch fern auf der Flucht, mit dem verjagten Federigo von Aragon, zu St. Nazaire an der Loiremündung, bringt er voll tiefen Herzeleides seinem Heiligen am Namenstage Kränze von Bux und Eichenlaub; er gedenkt früherer Jahre, da die jungen Leute des ganzen Posilipp zu seinem Feste gefahren kamen auf bekränzten Nachen, und fleht um Heimkehr.

Täuschend antik erscheinen vorzüglich eine Anzahl Gedichte in elegischem Versmaß oder auch bloß in Hexametern, deren Inhalt von der eigentlichen Elegie bis zum Epigramm herabreicht. So wie die Humanisten mit dem Text der römischen Elegiker am allerfreiesten umgingen, so fühlten sie sich denselben auch in der Nachbildung am meisten gewachsen. Navageros Elegie an die Nacht ist so wenig frei von Reminiszenzen aus jenen Vorbildern als irgendein Gedicht dieser Art und Zeit, aber dabei vom schönsten antiken Klang. Überhaupt sorgt Navagero immer zuerst für einen echt poetischen Inhalt, den er dann nicht knechtisch, sondern mit meisterhafter Freiheit im Stil der Anthologie, des Ovid, des Catull, auch der virgilischen Eklogen wiedergibt; die Mythologie gebraucht er nur äußerst mäßig, etwa um in einem Gebet an Ceres u.a. ländliche Gottheiten das Bild des einfachsten Daseins zu entwickeln. Einen Gruß an die Heimat bei der Rückkehr von seiner Gesandtschaft in Spanien hat er nur angefangen; es hätte wohl ein Ganzes werden können wie „Bella Italia, amate sponde“ von Vincenzo Monti, wenn der Rest diesem Anfang entsprach:

Salve cura Deûm, mundi felicior ora,
Formosae Veneris dulees salvete recessus;
Ut vos post tantos animi mentisque Labores
Aspicio lustroque libens, ut munere vestro
Sollicitas toto depello e pectore curas!

Die elegische oder hexametrische Form wird ein Gefäß für jeden höheren pathetischen Inhalt, und die edelste patriotische Aufregung (die Elegie an Julius II.) wie die pomphafteste Vergötterung der Herrschenden sucht hier ihren Ausdruck, aber auch die zarteste Melancholie eines Tibull. Mario Molsa, der in seiner Schmeichelei gegen Clemens VII. und die Farnesen mit Statius und Martial wetteifert, hat in einer Elegie „an die Genossen“, vom Krankenlager, so schöne und echt antike, Grabgedanken als irgendeiner der Alten und dies ohne Wesentliches von letzteren zu entlehnen. Am vollständigsten hat übrigens Sannazaro Wesen und Umfang der römischen Elegie erkannt und nachgebildet, und von keinem anderen gibt es wohl eine so große Anzahl guter und verschiedenartiger Gedichte .dieser Form. — Einzelne Elegien werden noch hie und da um ihres Sachinhaltes willen zu erwähnen sein.

Endlich war das lateinische Epigramm in jenen Zeiten eine ernsthafte Angelegenheit, indem ein paar gut gebildete Zeilen, eingemeißelt an einem Denkmal oder von Mund zu Mund mit Gelächter mitgeteilt, den Ruhm eines Gelehrten begründen konnten. Ein Anspruch dieser Art meldet sich schon früh; als es verlautete, Guido della Polenta wolle Dantes Grab mit einem Denkmal schmücken, liefen von allen Enden Grabschriften ein „von solchen, die sich zeigen oder auch den toten Dichter ehren oder die Gunst des Polenta erwerben wollten“. Am Grabmal des Erzbischofs Giovanni Visconti (†1354) im Dom von Mailand liest man unter sechsunddreißig Hexametern: „Herr Gabrius de Zamoreis aus Parma, Doktor der Rechte, hat diese Verse gemacht.“ Allmählich bildete sich, hauptsächlich unter dem Einfluss Martials, auch Catulls, eine ausgedehnte Literatur dieses Zweiges; der höchste Triumph war, wenn ein Epigramm für antik, für abgeschrieben von einem alten Stein galt oder, wenn es so vortrefflich erschien, dass ganz Italien es auswendig wusste wie z. B. einige des Bembo. Wenn der Staat Venedig an Sannazaro für seinen Lobspruch in drei Distichen 600 Dukaten Honorar bezahlte, so war dies nicht etwa eine generöse Verschwendung, sondern man würdigte das Epigramm als das, was es für alle Gebildeten jener Zeit war: als die konzentrierteste Form des Ruhmes. Niemand hinwiederum war damals so mächtig, dass ihm nicht ein witziges Epigramm hätte unangenehm werden können und auch die Großen selber bedurften für jede Inschrift, welche sie setzten, sorgfältigen und gelehrten Beirates, denn lächerliche Epitaphien z. B. liefen Gefahr, in Sammlungen zum Zweck der Erheiterung aufgenommen zu werden. Epigraphik und Epigrammatik reichten einander die Hand; erstere beruhte auf dem emsigsten Studium der antiken Steinschriften.

Die Stadt der Epigramme und der Inskriptionen in vorzugsweisem Sinne war und blieb Rom. In diesem Staate ohne Erblichkeit musste jeder für seine Verewigung selber sorgen; zugleich war das kurze Spottgedicht eine Waffe gegen die Mitemporstrebenden. Schon Pius II. zählt mit Wohlgefallen die Distichen auf, welche sein Hauptdichter Campanus bei jedem irgend geeigneten Momente seiner Regierung ausarbeitete. Unter den folgenden Päpsten blühte dann das satirische Epigramm und erreichte gegenüber von Alexander VI. und den Seinigen die volle Höhe des skandalösen Trotzes. Sannazaro dichtete die seinigen allerdings in einer relativ gesicherten Lage, andere aber wagten in der Nähe des Hofes das Gefährlichste. Auf acht drohende Distichen hin, die man an der Pforte der Bibliothek angeschlagen fand, ließ einst Alexander die Garde um 800 Mann verstärken; man kann sich denken, wie er gegen den Dichter würde verfahren sein, wenn derselbe sich erwischen ließ. — Unter Leo X. waren lateinische Epigramme das tägliche Brot; für die Verherrlichung wie für die Verlästerung des Papstes, für die Züchtigung genannter wie ungenannter Feinde und Schlachtopfer, für wirkliche wie für fingierte Gegenstände des Witzes, der Bosheit, der Trauer, der Kontemplation gab es keine passendere Form. Damals strengten sich für die berühmte Gruppe der Mutter Gottes mit der heiligen Anna und dem Kinde, welche Andrea Sansovino für S. Agostino meißelte, nicht weniger als hundertundzwanzig Personen in lateinischen Versen an freilich nicht so sehr aus Andacht, als dem Besteller des Werkes zuliebe. Dieser, Johann Goritz aus Luxemburg, päpstlicher Supplikenreferendar, ließ nämlich am St.-Annen-Feste nicht bloß etwa Gottesdienst halten, sondern er gab ein großes Literatenbankett in seinen Gärten am Abhang des Kapitals. Damals lohnte es sich auch der Mühe, die ganze Poetenschar, welche an Leos Hofe ihr Glück suchte, in einem eigenen großen Gedicht „de poetis urbanis“ zu mustern, wie Franc. Arsillus tat, ein Mann, der kein päpstliches oder anderes Mäzenat brauchte und sich seine freie Zunge auch gegen die Kollegen vorbehielt. — Über Paul III. herab reicht das Epigramm nur noch in vereinzelten Nachklängen, die Epigraphik dagegen blüht länger und unterliegt erst im XVII. Jahrhundert völlig dem Schwulst.

Auch in Venedig hat sie ihre besondere Geschichte, die wir mit Hilfe von Francesco Sansovinos „Venezia“ verfolgen können. Eine stehende Aufgabe bildeten die Mottos (Brievi) auf den Dogenbildnissen des großen Saales im Dogenpalast, zwei bis vier Hexameter, welche das Wesentliche aus der Amtsführung des betreffenden enthalten. Dann hatten die Dogengräber des XIV. Jahrhunderts lakonische Prosainschriften, welche nur Tatsachen enthalten, und daneben schwülstige Hexameter oder leoninische Verse. Im XV. Jahrhundert steigt die Sorgfalt des Stiles; im XVI. erreicht sie ihre Höhe und bald beginnt die unnütze Antithese, die Prosopopöe, das Pathos, das Prinzipienlob, mit einem Worte der Schwulst. Ziemlich oft wird gestichelt und verdeckter Tadel gegen andere durch direktes Lob des Verstorbenen ausgedrückt. Ganz spät kommen dann wieder ein paar absichtlich einfache Epitaphien.

Architektur und Ornamentik waren auf das Anbringen von Inschriften — oft in vielfacher Wiederholung — vollkommen eingerichtet, während z. B. das Gotische des Nordens nur mit Mühe einen zweckmäßigen Platz für eine Inschrift schafft und sie an Grabmälern z. B. gerne den bedrohtesten Stellen, den Rändern zuweist.

Durch das bisher Gesagte glauben wir nun keineswegs den Leser von dem eigentümlichen Werte dieser lateinischen Poesie der Italiener überzeugt zu haben. Es handelte sich nur darum, die kulturgeschichtliche Stellung und Notwendigkeit derselben anzudeuten. Schon damals entstand übrigens ein Zerrbild davon, die sogenannte macaroneische Poesie, deren Hauptwerk, das Opus macaronicorum, von Merlinus Cocaius (d. h. Teofilo Folengo von Mantua) gedichtet ist. Vom Inhalt wird noch hie und da die Rede sein; was die Form betrifft — Hexameter u. a. Verse gemischt aus lateinischen und italienischen Wörtern mit lateinischen Endungen — so liegt das Komische derselben wesentlich darin, dass sich diese Mischungen wie lauter Lapsus Linguae anhören, wie das Sprudeln eines übereifrigen lateinischen Improvisators. Nachahmungen aus Deutsch und Latein geben hievon keine Ahnung.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 3. Buch