Die lateinische Rede: Gleichgültigkeit über den Stand des Redners — Feierliche Staatsund Empfangsreden — Leichenreden — Akademische und Soldatenreden — Die lateinische Predigt — Erneuerung der antiken Rhetorik — Form und Inhalt; das Zitieren — Fingierte Reden — Verfall der Eloquenz

Viel glänzender noch als der Briefschreiber tritt der Redner hervor, in einer Zeit und bei einem Volke, wo das Hören als ein Genuss ersten Ranges galt und wo das Phantasiebild des römischen Senates und seiner Redner alle Geister beherrschte. Von der Kirche, bei welcher sie im Mittelalter ihre Zuflucht gehabt, wird die Eloquenz vollkommen emanzipiert; sie bildet ein notwendiges Element und eine Zierde jedes erhöhten Daseins. Sehr viele festliche Augenblicke, die gegenwärtig mit der Musik ausgefüllt werden, gehörten damals der lateinischen oder italienischen Rede, worüber sich jeder unserer Leser seine Gedanken machen möge.

Welchen Standes der Redner war, galt völlig gleich; man bedurfte vor allem des virtuosenhaft ausgebildeten humanistischen Talentes. Am Hofe des Borso von Ferrara hat der Hofarzt Jeronimo da Castello, sowohl Friedrich III. als Pius II. zum Willkomm anreden müssen; verheiratete Laien besteigen in den Kirchen die Kanzeln bei jedem festlichen oder Traueranlass, ja selbst an Heiligenfesten. Es war den außeritalischen Basler Konzilsherren etwas Neues, dass der Erzbischof von Mailand am Ambrosiustage den Aeneas Sylvius auftreten ließ, welcher noch keine Weihe empfangen hatte; trotz dem Murren der Theologen ließen sie sich es gefallen und hörten mit größter Begier zu.


Überblicken wir zunächst die wichtigeren und häufigeren Anlässe des öffentlichen Redens.

Vor allem heißen die Gesandten von Staat an Staat nicht vergebens Oratoren; neben der geheimen Unterhandlung gab es ein unvermeidliches Paradestück, eine öffentliche Rede, vorgetragen unter möglichst pomphaften Umständen. In der Regel führte von dem oft sehr zahlreichen Personal einer zugestandenermaßen das Wort, aber es passierte doch dem Kenner Pius II., vor welchem sich gerne jeder hören lassen wollte, dass er eine ganze Gesandtschaft, einen nach dem anderen, anhören musste. Dann redeten gelehrte Fürsten, die des Wortes mächtig waren, gerne und gut selber, italienisch oder lateinisch. Die Kinder des Hauses Sforza waren darauf eingeschult, der ganz junge Galeazzo Maria sagte schon 1455 im großen Rat zu Venedig ein fließendes Exerzitium her, und seine Schwester Ippolita begrüßte den Papst Pius II. auf dem Kongress zu Mantua 1459 mit einer zierlichen Rede. Pius II. selbst hat offenbar als Redner in allen Zeiten seines Lebens seiner letzten Standeserhöhung mächtig vorgearbeitet; als größter kurialer Diplomat und Gelehrter wäre er vielleicht doch nicht Papst geworden ohne den Ruhm und den Zauber seiner Beredsamkeit. „Denn nichts war erhabener als der Schwung seiner Rede.“ Gewiss galt er für unzählige schon deshalb als der des Papsttums Würdigste, bereits vor der Wahl.

Castagno: Petrarca. Florenz, Sant’ Apollonia

Ercole Roberti: Konzert. London, National Gallery

Sodann wurden die Fürsten bei jedem feierlichen Empfang angeredet und zwar oft in stundenlanger Oration. Natürlich geschah dies nur, wenn der Fürst als Redefreund bekannt war oder dafür gelten wollte und wenn man einen genügenden Redner vorrätig hatte, mochte es ein Hofliterat, Universitätsprofessor, Beamter, Arzt oder Geistlicher sein.

Auch jeder andere politische Anlass wird begierig ergriffen, und je nach dem Ruhm des Redners läuft alles herbei, was die Bildung verehrt. Bei alljährlichen Beamtenerneuerungen, sogar bei Einführung neuernannter Bischöfe muss irgendein Humanist auftreten, der bisweilen in sapphischen Strophen oder Hexametern spricht; auch mancher neu antretende Beamte selbst muss eine unumgängliche Rede halten über sein Fach, z.B. „über die Gerechtigkeit“; wohl ihm, wenn er darauf geschult ist. In Florenz zieht man auch die Kondottieren — sie mögen sein wer und wie sie wollen — in das landesübliche Pathos hinein und lässt sie bei! Überreichung des Feldherrnstabes durch den gelehrtesten Staatssekretär vor allem Volk haranguieren. Es scheint, dass unter oder an der Loggia de’ Lanzi, der feierlichen Halle, wo die Regierung vor dem Volke aufzutreten pflegte, eine eigentliche Rednerbühne (rostra, ringhiera) angebracht war.

Von Anniversarien werden besonders die Todestage der Fürsten durch Gedächtnisreden gefeiert. Auch die eigentliche Leichenrede ist vorherrschend dem Humanisten anheimgefallen, der sie in der Kirche, in weltlichem Gewande rezitiert, und zwar nicht nur am Sarge von Fürsten, sondern auch von Beamten u.a. namhaften Leuten. Ebenso verhält es sich oft mit Verlobungs- und Hochzeitsreden, nur dass diese (wie es scheint) nicht in der Kirche, sondern im Palast, z.B. die des Filelfo bei der Verlobung der Anna Sforza mit Alfonso d’Este im Kastell von Mailand, gehalten wurden. (Es könnte immerhin in der Palastkapelle geschehen sein.) Auch angesehene Privatleute ließen sich wohl einen solchen Hochzeitsredner als vornehmen Luxus gefallen. In Ferrara ersuchte man bei solchen Anlässen einfach den Guarino, er möchte einen seiner Schüler senden. Die Kirche als solche besorgte bei Trauungen und Leichen nur die eigentlichen Zeremonien.

Von den akademischen Reden sind die bei Einführung neuer Professoren und die bei Kurseröffnungen von den Professoren selbst gehaltenen mit dem größten rhetorischen Aufwand behandelt. Der gewöhnliche Kathedervortrag näherte sich ebenfalls oft der eigentlichen Rede.

Bei den Advokaten gab das jeweilige Auditorium den Maßstab für die Behandlung der Rede. Je nach Umständen wurde dieselbe mit dem vollen philologisch-antiquarischen Pomp ausgestattet.

Eine ganz eigene Gattung sind die italienisch gehaltenen Anreden an die Soldaten, teils vor dem Kampf, teils nachher. Federigo von Urbino war hiefür klassisch; einer Schar nach der anderen, wie sie kampfgerüstet dastanden, flößte er Stolz und Begeisterung ein. Manche Rede in den Kriegsschriftstellern des XV. Jahrhunderts, z.B. bei Porcellius, möchte nur teilweise fingiert sein, teilweise aber auf wirklich gesprochenen Worten beruhen. Wieder etwas anderes waren die Anreden an die seit 1506, hauptsächlich auf Macchiavellis Betrieb organisierte florentinische Miliz, bei Anlass der Musterungen und später bei einer besonderen Jahresfeier. Diese sind von allgemein patriotischem Inhalt; es hielt sie in der Kirche jedes Quartiers vor den dort versammelten Milizen ein Bürger im Brustharnisch, mit dem Schwert in der Hand.

Endlich ist im XV. Jahrhundert die eigentliche Predigt bisweilen kaum mehr von der Rede zu scheiden, insofern viele Geistliche in den Bildungskreis des Altertums mit eingetreten waren und etwas darin gelten wollten. Hat doch selbst der schon bei Lebzeiten heilige, vom Volk angebetete Gassenprediger Bernardino da Siena es für seine Pflicht gehalten, den rhetorischen Unterricht des berühmten Guarino nicht zu verschmähen, obwohl er nur italienisch zu predigen hatte. Die Ansprüche, zumal an die Fastenprediger, waren damals ohne Zweifel so groß als je; hie und da gab es auch ein Auditorium, welches sehr viel Philosophie auf der Kanzel vertragen konnte und, scheint es, von Bildung wegen verlangte. Doch wir haben es hier mit den vornehmen lateinischen Kasualpredigern zu tun. Manche Gelegenheit nahmen ihnen, wie gesagt, gelehrte Laien vom Munde weg. Reden an bestimmten Heiligentagen, Leichen- und Hochzeitsreden, Einführungen von Bischöfen usw., ja sogar die Rede bei der ersten Messe eines befreundeten Geistlichen und die Festrede bei einem Ordenskapitel werden wohl Laien überlassen. Doch predigten wenigstens vor dem päpstlichen Hof im XV. Jahrhundert in der Regel Mönche, welches auch der festliche Anlass sein mochte. Unter Sixtus IV. verzeichnet und kritisiert Giacomo da Volterra regelmäßig diese Festprediger nach den Gesetzen der Kunst. Fedra Inghirami, als Festredner berühmt unter Julius II., hatte wenigstens die geistlichen Weihen und war Chorherr am Lateran; auch sonst hatte man unter den Prälaten jetzt elegante Lateiner genug. Überhaupt erscheinen mit dem XVI. Jahrhundert die früher übergroßen Vorrechte der profanen Humanisten in dieser Beziehung gedämpft wie in anderen, wovon unten ein weiteres.

Welcher Art und welchen Inhaltes waren nun diese Reden im großen und ganzen? Die natürliche Wohlredenheit wird den Italienern das Mittelalter hindurch nie gefehlt haben, und eine isogenannte Rhetorik gehörte von jeher zu den sieben freien Künsten; wenn es sich aber um die Auferweckung der antiken Methode handelt, so ist dieses Verdienst nach Aussage des Filippo Villani einem Florentiner Bruno Casini zuzuschreiben, welcher noch in jungen Jahren 1348 an der Pest starb. In ganz praktischen Absichten, um nämlich die Florentiner zum leichten, gewandten Auftreten in Räten u. a. öffentlichen Versammlungen zu befähigen, behandelte er nach Maßgabe der Alten die Erfindung, die Deklamation, Gestus und Haltung im Zusammenhange. Auch sonst hören wir frühe von einer völlig auf die Anwendung berechneten rhetorischen Erziehung; nichts galt höher, als aus dem Stegreif in elegantem Latein das jedesmal Passende vorbringen zu können. Das wachsende Studium von Ciceros Reden und theoretischen Schriften, von Quintilian und den kaiserlichen Panegyrikern, das Entstehen eigener neuer Lehrbücher, die Benützung der Fortschritte der Philologie im allgemeinen und die Masse von antiken Ideen und Sachen* womit man die eigenen Gedanken bereichern durfte und musste, — dies zusammen vollendete den Charakter der neuen Redekunst.

Je nach den Individuen ist derselbe gleichwohl sehr verschieden. Manche Reden atmen eine wahre Beredsamkeit, namentlich diejenigen, welche bei der Sache bleiben; von dieser Art ist durchschnittlich was wir von Pius II. übrig haben. Sodann lassen die Wunderwirkungen, welche Giannozzo Mannetti erreichte, auf einen Redner schließen, wie es in allen Zeiten wenige gegeben hat. Seine großen Audienzen als Gesandter vor Nikolaus V., vor Dogen und Rat von Venedig waren Ereignisse, deren Andenken lange dauerte. Viele Redner dagegen benützten den Anlass, um neben einigen Schmeicheleien für vornehme Zuhörer eine wüste Masse von Worten und Sachen aus dem Altertum vorzubringen. Wie es möglich war, dabei bis zwei, ja drei Stunden auszuhalten, begreift man nur, wenn man das starke damalige Sachinteresse am Altertum und die Mangelhaftigkeit und relative Seltenheit der Bearbeitungen — vor der Zeit des allgemeinen Drückens — in Betracht zieht. Solche Reden hatten noch immer den Wert, welchen wir manchen Briefen Petrarcas vindiziert haben. Einige machten es aber doch zu stark. Filelfos meiste Orationen sind ein abscheuliches Durcheinander von klassischen und biblischen Zitaten, aufgereiht an einer Schnur von Gemeinplätzen; dazwischen werden die Persönlichkeiten der zu rühmenden Großen nach irgendeinem Schema, z. B. der Kardinaltugenden, gepriesen, und nur mit großer Mühe entdeckt man bei ihm und anderen die wenigen zeitgeschichtlichen Elemente von Wert, welche wirklich darin sind. Die Rede eines Professors und Literaten von Piacenza z. B. für den Empfang des Herzogs Galeazzo Maria 1467 beginnt mit C. Julius Caesar, mischt einen Haufen antiker Zitate mit solchen aus einem eigenen allegorischen Werk des Verfassers zusammen und schließt mit sehr indiskreten guten Lehren an den Herrscher. Glücklicherweise war es schon zu spät am Abend und der Redner musste sich damit begnügen, seinen Panegyrieus schriftlich zu überreichen. Auch Filelfo hebt eine Verlobungsrede mit den Worten an: Jener peripatetische Aristoteles usw.; andere rufen gleich zu Anfang: Publius Cornelius Scipio u.dgl., ganz als könnten sie und ihre Zuhörer das Zitieren gar nicht erwarten. Mit dem Ende des XV. Jahrhunderts reinigte sich der Geschmack auf einmal wesentlich durch das Verdienst der Florentiner; im Zitieren wird fortan sehr behutsam Maß gehalten, schon weil inzwischen allerlei Nachschlagewerke häufiger geworden sind, in welchen der erste beste dasjenige vorrätig findet, womit man bis jetzt Fürsten und Volk in Erstaunen gesetzt.

Da die meisten Reden am Studierpult erarbeitet waren, so dienten die Manuskripte unmittelbar zur weiteren Verbreitung und Veröffentlichung. Großen Stegreifrednern dagegen musste nachstenographiert werden. Ferner sind nicht alle Orationen, die wir besitzen, auch nur dazu bestimmt gewesen, wirklich gehalten zu werden; so ist z.B. der Panegyricus des älteren Beroaldus auf Lodovico Moro ein bloß schriftlich eingesandtes Werk. Ja wie man Briefe mit imaginären Adressen nach allen Gegenden der Welt komponierte als Exercitium, als Formulare, auch wohl als Tendenzschriften, so gab es auch Reden auf erdichtete Anlässe, als Formulare zur Begrüßung großer Beamten, Fürsten und Bischöfe u. dgl. m.

Auch für die Redekunst gilt der Tod Leos X. (1521) und die Verwüstung von Rom (1527) als der Termin des Verfalles. Aus dem Jammer der ewigen Stadt kaum geflüchtet, verzeichnet Giovio einseitig und doch wohl mit überwiegender Wahrheit die Gründe dieses Verfalles:

„Die Aufführungen des Plautus und Terenz, einst eine Übungsschule des lateinischen Ausdruckes für die vornehmen Römer, sind durch italienische Komödien verdrängt. Der elegante Redner findet nicht mehr Lohn und Anerkennung wie früher. Deshalb arbeiten z. B. die Konsistorialadvokaten an ihren Vorträgen nur noch die Proömien aus und geben den Rest als trüben Mischmasch nur noch stoßweise von sich. Auch Kasualreden und Predigten sind tief gesunken. Handelt es sich um die Leichenrede für einen Kardinal oder weltlichen Großen, so wenden sich die Testamentsexekutoren nicht an den trefflichsten Redner der Stadt, den sie mit hundert Goldstücken honorieren müssten, sondern sie mieten um ein Geringes einen hergelaufenen kecken Pedanten, der nur in den Mund der Leute kommen will, sei es auch durch den schlimmsten Tadel. Der Tote, denkt man, spüre ja nichts davon, wenn ein Affe in Trauergewand auf der Kanzel steht, mit weinerlichem heiserem Gemurmel beginnt und allmählich in lautes Gebell übergeht. Auch die festlichen Predigten bei den päpstlichen Funktionen werfen keinen rechten Lohn mehr ab; Mönche von allen Orden haben sich wieder derselben bemächtigt und predigen wie für die ungebildetsten Zuhörer. Noch vor wenigen Jahren konnte eine solche Predigt bei der Messe in Gegenwart des Papstes der Weg zu einem Bistum werden.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 3. Buch