Die lateinische Abhandlung: Die Geschichtsschreibung — Relative Notwendigkeit des Lateinischen — Forschungen über das Mittelalter; Blondus — Anfänge der Kritik — Verhältnis zur italienischen Geschichtsschreibung

An die Epistolographie und die Redekunst der Humanisten schließen wir hier noch ihre übrigen Produktionen an, welche zugleich mehr oder weniger Reproduktionen des Altertums sind.

Hierher gehört zunächst die Abhandlung in unmittelbarer oder in dialogischer Form, welch letztere man direkt von Cicero herübernahm. Um dieser Gattung einigermaßen gerecht zu werden, um sie nicht als Quelle der Langeweile von vornherein zu verwerfen, muss man zweierlei erwägen. Das Jahrhundert, welches dem Mittelalter entrann, bedurfte in vielen einzelnen Fragen moralischer und philosophischer Natur einer speziellen Vermittlung zwischen sich und dem Altertum, und diese Stelle nahmen nun die Traktat- und Dialogschreiber ein. Vieles, was uns in ihren Schriften als Gemeinplatz erscheint, war für sie und ihre Zeitgenossen eine mühsam neuerrungene Anschauung von Dingen, über welche man sich seit dem Altertum noch nicht wieder ausgesprochen hatte. Sodann hört sich die Sprache hier besonders gerne selber zu — gleichviel ob die lateinische oder die italienische. Freier und vielseitiger als in der historischen Erzählung oder in der Oration und in den Briefen bildet sie hier ihr Satz werk, und von den italienischen Schriften dieser Art gelten mehrere bis heute als Muster der Prosa. Manche von diesen Arbeiten wurden schon genannt oder werden noch angeführt werden ihres Sachverhaltes wegen; hier musste von ihnen als Gesamtgattung die Rede sein. Von Petrarcas Briefen und Traktaten an bis gegen Ende des XV. Jahrhunderts wiegt bei den meisten auch hier das Aufspeichern antiken Stoffes vor, wie bei den Rednern; dann klärt sich die Gattung ab, zumal im Italienischen, und erreicht, mit den Asolani des Bembo, mit der Vita Sobria des Luigi Cornaro die volle Klassizität. Auch hier war es entscheidend, dass jener antike Stoff inzwischen sich in besonderen großen Sammelwerken, jetzt sogar gedruckt, abzulagern begonnen hatte und dem Traktatschreiber nicht mehr im Wege war.


Ganz unvermeidlich bemächtigte sich der Humanismus auch der Geschichtsschreibung. Bei flüchtiger Vergleichung dieser Historien mit den früheren Chroniken, namentlich mit so herrlichen, farbenreichen, lebensvollen Werken wie die der Villani, wird man dies laut beklagen. Wie abgeblasst und konventionell zierlich erscheint neben diesen alles, was die Humanisten schreiben, und zwar z. B. gerade ihre nächsten und berühmtesten Nachfolger in der Historiographie von Florenz, Lionardo Aretino und Poggio. Wie unablässig plagt den Leser die Ahnung, dass zwischen den livianischen und den cäsarischen Phrasen eines Facius, Sabellicus, Folieta, Senarega, Piatina (in der mantuanischen Geschichte), Bembo (in den Annalen von Venedig) und selbst eines Giovio (in den Historien) die beste individuelle und lokale Farbe, das Interesse am vollen wirklichen Hergang Not gelitten habe. Das Misstrauen wächst, wenn man innewird, dass der Wert des Vorbildes Livius selbst am unrechten Orte gesucht wurde, nämlich darin, dass er „eine trockene und blutlose Tradition in Anmut und Fülle verwandelt“ habe; ja man findet (ebenda) das bedenkliche Geständnis, die Geschichtsschreibung müsse durch Stilmittel den Leser aufregen, reizen, erschüttern, — gerade als ob sie die Stelle der Poesie vertreten könnte. Man fragt sich endlich, ob nicht die Verachtung der modernen Dinge, zu welcher diese nämlichen Humanisten sich bisweilen offen bekennen, auf ihre Behandlung derselben einen ungünstigen Einfluss haben musste? Unwillkürlich wendet der Leser den anspruchslosen lateinischen und italienischen Annalisten, die der alten Art treu geblieben, z. B. denjenigen von Bologna und Ferrara, mehr Teilnahme und Vertrauen zu, und noch viel dankbarer fühlt man sich den besseren unter den italienisch schreibenden eigentlichen Chronisten verpflichtet, einem Marin Sanudo, einem Corio, einem Infessura, bis dann mit dem Anfang des XVI. Jahrhunderts die neue glanzvolle Reihe der großen italienischen Geschichtsschreiber in der Muttersprache beginnt.

In der Tat war die Zeitgeschichte unwidersprechlich besser daran, wenn sie sieh in der Landessprache erging, als wenn sie sich latinisieren musste. Ob auch für die Erzählung des längst Vergangenen, für die geschichtliche Forschung das Italienische geeigneter gewesen wäre, ist eine Frage, welche für jene Zeit verschiedene Antworten zulässt. Das Lateinische war damals die Lingua franca der Gelehrten lange nicht bloß im internationalen Sinn, z. B. zwischen Engländern, Franzosen und Italienern, sondern auch im interprovinzialen Sinne, d. h. der Lombarde, der Venezianer, der Neapolitaner wurden mit ihrer italienischen Schreibart — auch wenn sie längst toskanisiert war und nur noch schwache Spuren des Dialektes an sich trug — von dem Florentiner nicht anerkannt. Dies wäre zu verschmerzen gewesen bei örtlicher Zeitgeschichte, die ihrer Leser an Ort und Stelle sicher war, aber nicht so leicht bei der Geschichte der Vergangenheit, für welche ein weiterer Leserkreis gesucht werden musste. Hier durfte die lokale Teilnahme des Volkes der allgemeinen der Gelehrten aufgeopfert werden. Wie weit wäre z. B. Blondus von Forli gelangt, wenn er seine großen gelehrten Werke in einem halbromagnolischen Italienisch verfasst hätte? Dieselben wären einer sicheren Obskurität verfallen schon um der Florentiner willen, während sie lateinisch die allergrößte Wirkung auf die Gelehrsamkeit des ganzen Abendlandes ausübten. Und auch die Florentiner selbst schrieben ja im XV. Jahrhundert lateinisch, nicht bloß weil sie humanistisch dachten, sondern zugleich um der leichteren Verbreitung willen.

Endlich gibt es auch lateinische Darstellungen aus der Zeitgeschichte, welche den vollen Wert der trefflichsten italienischen haben. Sobald die nach Livius gebildete fortlaufende Erzählung, das Procrustesbett so mancher Autoren, aufhört, erscheinen dieselben wie umgewandelt. Jener nämliche Piatina, jener Giovio, die man in ihren großen Geschichtswerken nur verfolgt, so weit man muss, zeigen sich auf einmal als ausgezeichnete biographische Schilderer. Von Tristan Caracciolo, von dem biographischen Werke des Facius, von der venezianischen Topographie des Sabellico usw. ist schon beiläufig die Rede gewesen und auf andere werden wir noch kommen.

Die lateinischen Darstellungen aus der Vergangenheit betrafen natürlich vor allem das klassische Altertum. Was man aber bei diesen Humanisten weniger suchen würde, sind einzelne bedeutende Arbeiten über die allgemeine Geschichte des Mittelalters. Das erste bedeutende Werk dieser Art war die Chronik des Matteo Palmieri, beginnend, wo Prosper Aquitanus aufhört. Wer dann zufällig die Dekaden des Blondus von Forli öffnet, wird einigermaßen erstaunen, wenn er hier die Weltgeschichte „ab inclinatione Romanorum imperii“ wie bei Gibbon findet, voll von Quellenstudien der Autoren jenes Jahrhunderts, wovon die ersten 300 Folioseiten dem früheren Mittelalter bis zum Tode Friedrichs II. angehören. Und dies während man sich im Norden noch auf dem Standpunkte der bekannten Papst- und Kaiserchroniken und des Fasciculus temporum befand. Es ist hier nicht unsere Sache, kritisch nachzuweisen, welche Schriften Blondus im einzelnen benützt hat und wo er sie beisammen gefunden; in der Geschichte der neueren Historiographie aber wird man ihm diese Ehre wohl einmal erweisen müssen. Schon um dieses einen Buches willen wäre man berechtigt zu sagen: das Studium des Altertums allein hat das des Mittelalters möglich gemacht; jenes hat den Geist zuerst an objektives geschichtliches Interesse gewöhnt. Allerdings kam hinzu, dass das Mittelalter für das damalige Italien ohnehin vorüber war und dass der Geist es erkennen konnte, weil es nun außer ihm lag. Man kann nicht sagen, dass er es sogleich mit Gerechtigkeit oder gar mit Pietät beurteilt habe; in den Künsten setzt sich ein starkes Vorurteil gegen seine Hervorbringungen fest, und die Humanisten datieren von ihrem eigenen Aufkommen an eine neue Zeit: „Ich fange an“, sagt Boccaccio, „zu hoffen und zu glauben, Gott habe sich des italienischen Namens erbarmt, seit ich sehe, dass seine reiche Güte in die Brust der Italiener wieder Seelen senkt, die denen der Alten gleichen, insofern sie den Ruhm auf anderen Wegen suchen als durch Raub und Gewalt, nämlich auf dem Pfade der unvergänglich machenden Poesie.“ Aber diese einseitige und unbillige Gesinnung schloss doch die Forschung bei den Höherbegabten nicht aus, zu einer Zeit da im übrigen Europa noch nicht davon die Rede war; es bildete sich für das Mittelalter eine geschichtliche Kritik schon weil die rationelle Behandlung aller Stoffe bei den Humanisten auch diesem historischen Stoffe zugute kommen musste. Im XV. Jahrhundert durchdringt dieselbe bereits die einzelnen Städtegeschichten insoweit, dass das späte wüste Fabelwerk aus der Urgeschichte von Florenz, Venedig, Mailand usw. verschwindet, während die Chroniken des Nordens sich noch lange mit jenen poetisch meist wertlosen, seit dem XIII. Jahrhundert ersonnenen Phantasiegespinsten schleppen müssen.

Den engen Zusammenhang der örtlichen Geschichte mit dem Ruhm haben wir schon oben bei Anlass von Florenz berührt. Venedig durfte nicht zurückbleiben; so wie etwa eine venezianische Gesandtschaft nach einem großen florentinischen Rednertriumph eilends nach Hause schreibt, man möchte ebenfalls einen Redner schicken, so bedürfen die Venezianer auch einer Geschichte, welche mit den Werken des Lionardo Aretino und Poggio die Vergleichung aushalten soll. Unter solchen Voraussetzungen entstanden im XV. Jahrhundert die Dekaden des Sabellico, im XVI. die Historia rerum venetarum des Pietro Bembo, beide Arbeiten in ausdrücklichem Auftrag der Republik, letztere als Fortsetzung der ersteren.

Die großen florentinischen Geschichtsschreiber zu Anfang des XVI. Jahrhunderts sind dann von Haus aus ganz andere Menschen als die Lateiner Giovio und Bembo. Sie schreiben italienisch, nicht bloß weil sie mit der raffinierten Eleganz der damaligen Ciceronianer nicht mehr wetteifern können, sondern weil sie, wie Maochiavelli, ihren Stoff als einen durch lebendige Anschauung gewonnenen auch nur in unmittelbarer Lebensform wiedergeben mögen und weil ihnen, wie Guicciardini, Varchi und den meisten übrigen, die möglichst weite und tiefe Wirkung ihrer Ansicht vom Hergang der Dinge am Herzen liegt. Selbst wenn sie nur für wenige Freunde schreiben, wie Francesco Vettori, so müssen sie doch aus innerem Drange Zeugnis geben für Menschen und Ereignisse und sich erklären und rechtfertigen über ihre Teilnahme an den letzteren.

Und dabei erscheinen sie, bei aller Eigentümlichkeit ihres Stiles und ihrer Sprache, doch auf das stärkste vom Altertum berührt und ohne dessen Einwirkung gar nicht denkbar. Sie sind keine Humanisten mehr, allein sie sind durch den Humanismus hindurchgegangen und haben vom Geist der antiken Geschichtsschreibung mehr an sich als die meisten jener livianischen Latinismen: es sind Bürger, die für Bürger schreiben, wie die Alten taten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 3. Buch