Die Ruinenstadt Rom: Dante, Petrarca, Uberti — Die vorhandenen Ruinen zur Zeit Poggios — Blondus, Nikolaus V., Pius II. — Das Altertum außerhalb Roms — Städte und Familien von Rom hergeleitet — Stimmung und Ansprüche der Römer — Die Leiche der Julia — Ausgrabungen und Aufnahmen — Rom unter Leo X. — Ruinensentimentalität

Vor allem genießt die Ruinenstadt Rom selbst jetzt eine andere Art von Pietät als zu der Zeit, da die Mirabilia Romae und das Sammelwerk des Wilhelm von Malmesbury verfasst wurden. Die Phantasie des frommen Pilgers wie die des Zaubergläubigen und des Schatzgräbers tritt in den Aufzeichnungen zurück neben der des Historikers und Patrioten. In diesem Sinne wollen Dantes Worte verstanden sein: Die Steine der Mauern von Rom verdienten Ehrfurcht, und der Boden, worauf die Stadt gebaut ist, sei würdiger als die Menschen sagen. Die kolossale Frequenz der Jubiläen lässt in der eigentlichen Literatur doch kaum eine andächtige Erinnerung zurück; als besten Gewinn vom Jubiläum des Jahres 1300 bringt Giovanni Villani seinen Entschluss zur Geschichtsschreibung mit nach Hause, welchen der Anblick der Ruinen von Rom in ihm geweckt. Petrarca gibt uns noch Kunde von einer zwischen klassischem und christlichem Altertum geteilten Stimmung; er erzählt, wie er oftmals mit Giovanni Colonna auf die riesigen Gewölbe der Diokletiansthermen hinaufgestiegen; hier, in der reinen Luft, in tiefer Stille, mitten in der weiten Rundsicht redeten sie zusammen,, nicht von Geschäften, Hauswesen und Politik, sondern, mit dem Blick auf die Trümmer ringsum, von der Geschichte, wobei Petrarca mehr das Altertum, Giovanni mehr die christliche Zeit vertrat; dann auch von der Philosophie und von den Erfindern der Künste. Wie oft seitdem bis auf Gibbon und Niebuhr hat diese Ruinenwelt die geschichtliche Kontemplation geweckt.

Dieselbe geteilte Empfindung offenbart auch noch Fazio degli Uberti in seinem um 1360 verfassten Dittamondo, einer fingierten visionären Reisebeschreibung, wobei ihn der alte Geograph Solinus begleitet wie Virgil den Dante. So wie sie Bari zu Ehren des S. Nicolaus, Monte Gargano aus Andacht zum Erzengel Michael besuchen, so wird auch in Rom die Legende von Araceli und die von S. Maria in Trastevere erwähnt, doch hat die profane Herrlichkeit des alten Rom schon merklich das Übergewicht; eine hehre Greisin in zerrissenem Gewand — es ist Roma selber — erzählt ihnen die glorreiche Geschichte und schildert umständlich die alten Triumphe; dann führt sie die Fremdlinge in der Stadt herum und erklärt ihnen die sieben Hügel und eine Menge Ruinen — che comprender potrai, quanto fui bella!


Leider war dieses Rom der avignonesisehen und schismatischen Päpste in bezug auf die Reste des Altertums schon bei weitem nicht mehr, was es einige Menschenalter vorher gewesen war. Eine tödliche Verwüstung, welche den wichtigsten noch vorhandenen Gebäuden ihren Charakter genommen haben muss, war die Schleifung von 140 festen Wohnungen römischer Großen durch den Senator Brancaleone um 1258; der Adel hatte sich ohne Zweifel in den besterhaltenen und höchsten Ruinen eingenistet gehabt. Gleichwohl blieb noch immer unendlich viel mehr übrig, als was gegenwärtig aufrecht steht, und namentlich mögen viele Reste noch ihre Bekleidung und Inkrustation mit Marmor, ihre vorgesetzten Säulen u. a. Schmuck gehabt haben, wo jetzt nur der Kernbau aus Backsteinen übrig ist. An diesen Tatbestand schloss sich nun der Anfang einer ernsthaften Topographie der alten Stadt an. In Poggios Wanderung durch Rom ist zum erstenmal das Studium der Reste selbst mit dem der alten Autoren und mit dem der Inschriften (welchen er durch alles Gestrüpp hindurch nachging) inniger verbunden, die Phantasie zurückgedrängt, der Gedanke an das christliche Rom geflissentlich ausgeschieden. Wäre nur Poggios Arbeit viel ausgedehnter und mit Abbildungen versehen! Er traf noch sehr viel mehr Erhaltenes an als achtzig Jahre später Rafael. Er selber hat noch das Grabmal der Caecilia Metella und die Säulenfronte eines der Tempel am Abhang des Kapitals zuerst vollständig und dann später bereits halbzerstört wiedergesehen, indem der Marmor noch immer den unglückseligen Materialwert hatte, leicht zu Kalk gebrannt werden zu können; auch eine gewaltige Säulenhalle bei der Minerva unterlag stückweise diesem Schicksal. Ein Berichterstatter vom Jahre 1443 meldet die Fortdauer dieses Kalkbrennens, „welches eine Schmach ist; denn die neueren Bauten sind erbärmlich, und das Schöne an Rom sind die Ruinen“. Die damaligen Einwohner in ihren Campagnolenmänteln und Stiefeln kamen den Fremden vor wie lauter Rinderhirten, und in der Tat weidete das Vieh bis zu den Banchi hinein; die einzige gesellige Reunion waren die Kirchgänge zu bestimmten Ablässen; bei dieser Gelegenheit bekam man auch die schönen Weiber zu sehen.

In den letzten Jahren Eugens IV. († 1447) schrieb Blondus von Forli seine Roma instaurata, bereits mit Benützung des Frontinus und der alten Regionenbücher, so wie auch (scheint es) des Anastasius. Sein Zweck ist schon bei weitem nicht bloß die Schilderung des Vorhandenen, sondern mehr die Ausmittelung des Untergegangenen. Im Einklang mit der Widmung an den Papst tröstet er sich für den allgemeinen Ruin mit den herrlichen Reliquien der Heiligen, welche Rom besitze.

Mit Nicolaus V. (1447 — 1455) besteigt derjenige neue monumentale Geist, welcher der Renaissance eigen war, den päpstlichen Stuhl. Durch die neue Geltung und Verschönerung der Stadt Rom als solcher wuchs nun wohl einerseits die Gefahr für die Ruinen, anderseits aber auch die Rücksicht für dieselben als Ruhmestitel der Stadt. Pius II. ist ganz erfüllt von antiquarischem Interesse, und wenn er von den Altertümern Roms wenig redet, so hat er dafür denjenigen des ganzen übrigen Italiens seine Aufmerksamkeit gewidmet und diejenigen der Umgebung der Stadt in weitem Umfange zuerst genau gekannt und beschrieben. Allerdings interessieren ihn als Geistlichen und Kosmographen antike und christliche Denkmäler und Naturwunder gleichmäßig, oder hat er sich Zwang antun müssen, als er z. B. niederschrieb: Nola habe größere Ehre durch das Andenken des St. Paulinus als durch die römischen Erinnerungen und durch den Heldenkampf des Marcellus? Nicht dass etwa an seinem Reliquienglauben zu zweifeln wäre, allein sein Geist ist schon offenbar mehr der Forscherteilnahme an Natur und Altertum, der Sorge für das Monumentale, der geistvollen Beobachtung des Lebens zugeneigt. Noch in seinen letzten Jahren als Papst, podagrisch und doch in der heitersten Stimmung, lässt er sich auf dem Tragsessel über Berg und Tal nach Tusculum, Alba, Tibur, Ostia, Falerii, Otriculum bringen und verzeichnet alles, was er gesehen; er verfolgt die alten Römerstraßen und Wasserleitungen und sucht die Grenzen der antiken Völkerschaften um Rom zu bestimmen. Bei einem Ausflug nach Tibur mit dem großen Federigo von Urbino vergeht die Zeit beiden auf das angenehmste mit Gesprächen über das Altertum und dessen Kriegswesen, besonders über den trojanischen Krieg; selbst auf seiner Reise zum Kongress von Mantua (1459) sucht er, wiewohl vergebens, das von Plinius erwähnte Labyrinth von Clusium und besieht am Mincio die sogenannte Villa Virgils. Dass derselbe Papst auch von den Abbreviaturen ein klassisches Latein verlangte, versteht sich beinahe von selbst; hat er doch einst im neapolitanischen Krieg die Arpinaten amnestiert als Landsleute des M. T. Cicero, so wie des C. Marius, nach welchen noch viele Leute dort getauft waren. Ihm allein als Kenner und Beschützer konnte und mochte Blondus seine Roma triumphans zueignen, den ersten großen Versuch einer Gesamtdarstellung des römischen Altertums.

In dieser Zeit war natürlich auch im übrigen Italien der Eifer für die römischen Altertümer erwacht. Schon Boccaccio nennt die Ruinenwelt von Bajae „altes Gemäuer, und doch neu für moderne Gemüter“; seitdem galten sie als größte Sehenswürdigkeit der Umgegend Neapels. Schon entstanden auch Sammlungen von Altertümern jeder Gattung. Ciriaco von Ancona durchstreifte nicht bloß Italien, sondern auch andere Länder des alten Orbis terrarum und brachte Inschriften und Zeichnungen in Menge mit; auf die Frage, warum er sich so bemühe, antwortete er: um die Toten zu erwecken. Die Historien der einzelnen Städte hatten von jeher auf einen wahren oder fingierten Zusammenhang mit Rom, auf direkte Gründung oder Kolonisation von dort aus hingewiesen; längst scheinen gefällige Genealogen auch einzelne Familien von berühmten römischen Geschlechtern deriviert zu haben. Dies lautete so angenehm, dass man auch im Lichte der beginnenden Kritik des XV. Jahrhunderts daran festhielt. Ganz unbefangen redet Pius II. in Viterbo zu den römischen Oratoren, die ihn um schleunige Rückkehr bitten: „Rom ist ja meine Heimat so gut wie Siena, denn mein Haus, die Piccolomini, ist vor Alters von Rom nach Siena gewandert, wie der häufige Gebrauch der Namen Aeneas und Sylvius in unserer Familie beweist.“ Vermutlich hätte er nicht übel Lust gehabt, ein Julier zu sein. Auch für Paul II. — Barbo von Venedig — wurde gesorgt, indem man sein Haus, trotz einer entgegenstehenden Abstammung aus Deutschland, von den römischen Ahenobarbus ableitete, die mit einer Kolonie nach Parma geraten und deren Nachkommen wegen Parteiung nach Venedig ausgewandert seien. Dass die Massimi von Q. Fabius Maximus, die Cornaro von den Corneliern abstammen wollten, kann nicht befremden. Dagegen ist es für das folgende XVI. Jahrhundert eine recht auffallende Ausnahme, dass der Novellist Bandello sein Geschlecht von vornehmen Ostgoten (1. Nov. 23.) abzuleiten sucht. Kehren wir nach Rom zurück. Die Einwohner, „die sich damals Römer nannten“, gingen begierig auf das Hochgefühl ein, welches ihnen das übrige Italien entgegenbrachte. Wir werden unter Paul II., Sixtus IV. und Alexander VI. prächtige Karnevalsaufzüge stattfinden sehen, welche das beliebteste Phantasiebild jener Zeit, den Triumph altrömischer Imperatoren, darstellten. Wo irgend Pathos zum Vorschein kam, musste es in jener Form geschehen. Bei dieser Stimmung der Gemüter geschah es am 18. April 1485, dass sich das Gerücht verbreitete, man habe die wunderbar schöne, wohlerhaltene Leiche einer jungen Römerin aus dem Altertum gefunden. Lombardische Maurer, welche auf einem Grundstück des Klosters S. Maria nuova, an der Via Appia, außerhalb der Caecilia Metella, ein antikes Grabmal aufgruben, fanden einen marmornen Sarkophag angeblich mit der Aufschrift: Julia, Tochter des Claudius. Das weitere gehört der Phantasie an; die Lombarden seien sofort verschwunden samt den Schätzen und Edelsteinen, welche im Sarkophag zum Schmuck und Geleit der Leiche dienten; letztere sei mit einer sichernden Essenz überzogen und so frisch, ja so beweglich gewesen wie die eines eben gestorbenen Mädchens von fünfzehn Jahren; dann hieß es sogar, sie habe noch ganz die Farbe des Lebens, Augen und Mund halb offen. Man brachte sie nach dem Konservatorenpalast auf dem Kapitol, und dahin, um sie zu sehen, begann nun eine wahre Wallfahrt; viele kamen auch, um sie abzumalen; „denn sie war schön, wie man es nicht sagen noch schreiben kann, und wenn man es sagte oder schriebe, so würden es, die sie nicht sahen, doch nicht glauben“. Aber auf Befehl Innocenz’ VIII. musste sie eines Nachts vor Porta Pinciana an einem geheimen Ort verscharrt werden; in der Hofhalle der Konservatoren blieb nur der leere Sarkophag. Wahrscheinlich war über den Kopf der Leiche eine farbige Maske des idealen Stiles aus Wachs oder etwas Ähnlichem modelliert, wozu die vergoldeten Haare, von welchen die Rede ist, ganz wohl passen würden. Das Rührende an der Sache ist nicht der Tatbestand, sondern das feste Vorurteil, dass der antike Leib, den man endlich hier in Wirklichkeit vor sich zu sehen glaubte, notwendig herrlicher sein müsse als alles, was jetzt lebe.

Inzwischen wuchs die sachliche Kenntnis des alten Rom durch Ausgrabungen; schon unter Alexander VI. lernte man die sogenannten Grotesken, d.h. die Wand- und Gewölbedekoration der Alten kennen, und fand in Porto d’Anzo den Apoll vom Belvedere; unter Julius II. folgten die glorreichen Auffindungen des Laokoon, der vatikanischen Venus, des Torso, der Kleopatra u. a. m. ; auch die Paläste der Großen und Kardinäle begannen sich mit antiken Statuen und Fragmenten zu füllen. Für Leo X. unternahm Rafael jene ideale Restauration der ganzen alten Stadt, von welcher sein (oder Castigliones) berühmter Brief spricht. Nach der bitteren Klage über die noch immer dauernden Zerstörungen, namentlich noch unter Julius II., ruft er den Papst um Schutz an für die wenigen übriggebliebenen Zeugnisse der Größe und Kraft jener göttlichen Seelen des Altertums, an deren Andenken sich noch jetzt diejenigen entzünden, die des Höheren fähig seien. Mit merkwürdig durchdringendem Urteil legt er dann den Grund zu einer vergleichenden Kunstgeschichte überhaupt und stellt am Ende denjenigen Begriff von „Aufnahme“ fest, welcher seitdem gegolten hat: er verlangt für jeden Überrest Plan, Aufriss und Durchschnitt gesondert. Wie seit dieser Zeit die Archäologie, in speziellem Anschluss an die geheiligte Weltstadt und deren Topographie, zur besonderen Wissenschaft heranwuchs, wie die vitruvianische Akademie wenigstens ein kolossales Programm aufstellte, kann nicht weiter ausgeführt werden. Hier dürfen wir bei Leo X. stehen bleiben, unter welchem der Genuss des Altertums sich mit allen anderen Genüssen zu jenem wundersamen Eindruck verflocht, welcher dem Leben in Rom seine Weihe gab. Der Vatikan tönte von Gesang und Saitenspiel; wie ein Gebot zur Lebensfreude gingen diese Klänge über Rom hin, wenn auch Leo damit für sich kaum eben erreichte, dass sich Sorgen und Schmerzen verscheuchen ließen, und wenn auch seine bewusste Rechnung, durch Heiterkeit das Dasein zu verlängern, mit seinem frühen Tode fehlschlug. Dem glänzenden Bilde des leonischen Rom, wie es Paolo Giovio entwirft, wird man sich nie entziehen können, so gut bezeugt auch die Schattenseiten sind: die Knechtschaft der Emporstrebenden und das heimliche Elend der Prälaten, welche trotz ihrer Schulden standesgemäß leben müssen, das Lotteriemäßige und Zufällige von Leos literarischem Mäzenat, endlich seine völlig verderbliche Geldwirtschaft. Derselbe Ariost, der diese Dinge so gut kannte und verspottete, gibt doch wieder in der sechsten Satire ein ganz sehnsüchtiges Bild von dem Umgang mit den hochgebildeten Poeten, welche ihn durch die Ruinenstadt begleiten würden, von dem gelehrten Beirat, den er für seine eigene Dichtung dort vorfände, endlich von den Schätzen der vatikanischen Bibliothek. Dies, und nicht die längst aufgegebene Hoffnung auf medicieische Protektion, meint er, wären die wahren Lockspeisen für ihn, wenn man ihn wieder bewegen wollte, als ferraresischer Gesandter nach Rom zu gehen.

Außer dem archäologischen Eifer und der feierlich patriotischen Stimmung weckten die Ruinen als solche, in und außer Rom, auch schon eine elegisch-sentimentale. Bereits bei Petrarca und Boccaccio finden sich Anklänge dieser Art; Poggio besucht oft den Tempel der Venus und Roma in der Meinung, es sei der des Castor und Pollux, wo einst so oft Senat gehalten worden, und vertieft sich hier in die Erinnerung an die großen Redner Crassus, Hortensius, Cicero. Vollkommen sentimental äußert sich dann Pius II. zumal bei der Beschreibung von Tibur, und bald darauf entsteht die erste ideale Ruinenansicht nebst Schilderung bei Polifilo: Trümmer mächtiger Gewölbe und Kolonnaden, durchwachsen von alten Platanen, Lorbeeren und Zypressen nebst wildem Buschwerk. In der heiligen Geschichte wird es, man kann kaum sagen wie, gebräuchlich, die Darstellung der Geburt Christi in die möglichst prachtvollen Ruinen eines Palastes zu verlegen. Dass dann endlich die künstliche Ruine zum Requisit prächtiger Gartenanlagen wurde, ist nur die praktische Äußerung desselben Gefühls.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 3. Buch