Kritik und Persönlichkeit (1919)

Kritik? Sie ist entweder völlig verdammenswert, oder — für mildere Temperamente — notwendiges Übel. Auf jeden Fall ein verächtliches Handwerk, und ein unnützes dazu. Gründe für solche Geringschätzung? Man verweist darauf, dass die Mehrzahl kritischer Stimmen sich fast allen, bedeutsamen Neuerscheinungen gegenüber anfangs meist ablehnend verhalten habe. Oder man holt Besprechungen zweier namhafter Kritiker über das gleiche Werk, den gleichen Künstler, die gleiche Veranstaltung herbei und zeigt triumphierend auf die einander in wichtigsten Punkten widersprechenden Urteile hin. Kann der Unwert jeglicher Kritik überzeugender nachgewiesen werden, zumal wenn dann vielleicht ein dritter Sachverständiger hinzukommt und feststellt, dass beide einander aufhebenden Urteile „falsch“ sind?

Merkwürdig, dass häufig grundgesscheite Menschen in dieser Art argumentieren. Der Gedankengang läuft gewöhnlich so: der Kritiker ist Sachverständiger. Die Kritik ist ein Gutachten. Das Objekt ist gegeben und für alle das Gleiche. Wenn mehrere Sachverständige über das gleiche Objekt ein Gutachten aussprechen, so müssen diese gutachtlichen Aussprüche in allen entscheidenden Punkten übereinstimmen. Wo sie sich nicht völlig decken, liegen Fehlerhaftigkeiten der Beobachtung oder des Rückschlusses vor, die zu verbessern sind. Das ideale Ergebnis wäre absolute Übereinstimmung aller Meinungen. Zeigen sich aber einschneidende Widersprüche, so sind die Gutachter keine Sachverständigen und ihre Aussprüche wertlos.


An dieser Folgerung ist eines richtig: dass der Kritiker nicht Sachverständiger im Sinne des Gerichtschemikers ist, richtiger gesagt: nicht sein soll. Der Sachverständige hat den objektiven Befund festzustellen, sein persönliches Denken und Fühlen scheidet für das Ergebnis selbst aus, ist nur Mittel zum Zweck. Der Kritiker dagegen soll die Wirkung des Objektes auf seine Persönlichkeit feststellen. Für ihn ist seine Sachkenntnis, die den etwaigen Befund ermitteln hilft, nur Mittel, sich selbst und anderen gegenüber diese Wirkung auf die Persönlichkeit zu erklären — soweit sie erklärbar ist. Sein Ausspruch ist daher kein Gutachten. Das Gutachtliche daran hat nur Materialwert, erhält erst durch die persönliche Art der Verwendung praktische Bedeutung und Daseinsberechtigun kann daher keineswegs als wünschenswert gelten, dass die Kritiken übereinstimmen. Solches Ergebnis wäre vielmehr bedauerlich, es würde Sterilität der Denk- und Empfindungsart, Versagen der Leben und Bewegung schaffenden Persönlichkeitswerte in der Kritik bedeuten. Es würde eine Art geistiger Verdauungsstörung, eine schwere Hemmung in der Verarbeitung und Weiterleitung geistiger Werte zur Folge haben. Es würde vor allem die Kritik wirklich zu dem machen, was sie für den denkfaulen Teil des Leserpublikums immer ist: die unantastbare Aussage darüber „wie es war“. In Wahrheit aber stehen über jeder Kritik unsichtbar die Worte „wie ich es sehe“. An der Wiedergabe des Eindrucks, an der Fähigkeit, in anderen ein Bild des inneren Geschehens, des Temperamentserlebnisses zu wecken zeigt sich Darstellungskunst und Phantasiebegabung des Kritikers. An der Art aber, diesen Eindruck überhaupt begrifflich zu fassen, aus einer unwägbaren Gefühlserregung zum bewussten, in Worten und ein darstellbaren Geschehnis zu machen, zeigt sich sein kritisches Talent.

Das eine nämlich ist als Grunderkenntnis festzustellen: Kritik ist keine Sache des Verstandes, des Wissens. Sie ist nicht erlernbar und darum in allem zutiefst Wesenhaften logisch nicht zu greifen. Sie ist ein Geschenk von oben, wie eine schöne Stimme, wie ein besonderes zur Kunst treibendes Fühlen: eine Begabung, die der Mensch entweder hat oder nicht hat — und zwar eine der seltensten. Gewiss ist sie disziplinierbar und es gibt Punkte, über die Meinungsverschiedenheiten nicht zulässig sind. Aber die Grenzen hierfür sind sehr eng gezogen, viel enger als man gemeinhin annimmt. Ob der Geiger einen Ton, eine Passage rein oder unrein gespielt hat, darf nicht zweifelhaft sein. Hier muss die Beobachtung aller gleich lauten, sonst ist der Verdacht berechtigt, dass der kritische Hörer selbst kein Unterscheidungsvermögen für Intonation hat. Aber über diese und ähnliche der gewöhnlichsten empirischen Feststellungen hinaus gibt es keine allgemein verbindlichen „Tatsachen“. Schon in die Beantwortung der Frage etwa, ob eine Melodie stilgerecht vorgetragen, ob ein Charakter richtig erfasst sei, spielen die individuellen Anschauungen und Temperamente der Fragesteller entscheidend hinein. Die Regriffe über das Wesen eines Stiles oder eines Typus sind nie festzulegen, wechseln entsprechend Persönlichkeiten und Zeiten. Ähnlich ist es mit der Stellungnahme zu fast allen Dingen, die Gegenstand der Kritik sind. Hier gibt es keinen objektiven Maßstab, keine Feststellung irgend eines sachlichen Befundes. Ihre eigentliche Wertung hängt durchaus von der Persönlichkeit des Wertenden ab.

Bedeutet dies nicht eine maßlose Überschätzung der Persönlichkeitsgeltung? Ist das Kunstwerk wirklich nur dazu da, um — soweit es kritische Spiegelung erfährt — diesem oder jenem Kritiker als Reibfläche zur Entzündung seines Lichtleins zu dienen? Wäre es nicht besser, solche Naturen suchten, wenn schon Produktionswille in ihnen steckt, diesen auf eine mehr unmittelbare Weise zu betätigen? Ist uns doch das Drama Shakespeares, die Oper Mozarts an sich lieber und wertvoller als der vortrefflichste Darsteller einzelner Rollen und ebenso gilt uns schließlich das Kunstwerk selbst stets mehr als sein kritischer Interpret, sei er noch so geistreich und originell. Wozu also dieser Umstand und diese künstliche Wichtignehmerei der Kritik, die doch nur das Gnadenbrot aus Künstlers Hand isst? Man entziehe es ihr und ihre Produktionskraft erlischt, sie verhungert.

Wirklich?

Fragen wir doch einmal genau: ist nicht Kritik das Lebenselement, von dem alle zehren? Kann man sie überhaupt vernichten? Wirkt sie nicht täglich, stündlich in jeder unserer Äußerungen und Taten, beseelt und treibt sie nicht das öffentliche und das persönliche Leben? Ist etwa nur die Zeitungsrezension über ein Bild oder ein Theaterstück eine Kritik? Ist nicht alles, was wir nur sagen, denken, tun, ist nicht jedes Kunstwerk bis hinauf zum erdenfernsten, stofflich unbeschwertesten Gedicht oder Tonstück Kritik an irgendeiner Escheinung des Daseins, des Gefühls? Gibt es denn überhaupt eine andere Art der Lebensgestaltung, des Bewußtmachens und Vergleichen an uns herantretender Lebenswerte, als eben die Kritik? Sie sollte überflüssig sein oder nur ein notwendiges Übel? O nein, sie ist weit anderes und weit mehr: ist Voraussetzung und einzige Ermöglichung geistigen Lebens überhaupt, ist Bewußtseinserscheinung und als solche Unterscheidungsmerkmal zwischen rein animalischem Genuß und tätig fortwirkendem Entwicklungswillen. Sie mag hier und da entartete Schößlinge treiben — diese bleiben Nebenerscheinungen von lächerlicher Bedeutungslosigkeit gegenüber dem grundlegenden Erkenntnis- und Entwicklungsdrang. Der Rausch des Schöpferischen wäre armseliges, stets unerfülltes Verlangen des Instinktes, wenn nicht Kritik als gestaltende, erkennende, formende Kraft ihn ergänzte, dem Trieb erst das Zielbewusstsein des Willens gäbe.

Schon darum ist die Betonung des Persönlichkeitsmomentes in der Kritik wichtig. Hier klingt kein seufzender Hinweis auf menschliche Unvollkommenheit, der eben ein „reines“ Urteil nicht möglich und die genötigt ist, die Brechung durch die Persönlichkeit als unvermeidlich mit in Kauf zu nehmen. Hier handelt es sich um die Erkenntnis: Weil Kritik künstlerische Gestaltung eines Lebenswertes bedeutet, hat sie überhaupt nur soweit produktiven Wert, als sie Persönlichkeitskundgebung ist. Was jenseits dieses Persönlichen liegt, mag brave Schulmeisterei oder mag Dummheit oder mag zuweilen auch Bösartigkeit sein — auf jeden Fall ist gerade dieses scheinbar Sachliche sachlich belanglos und beachtenswert nur als Materialunterbau für den kritischen Gestaltungsakt.

Aber nicht nur aus der Erkenntnis des künstlerisch schaffenden Wesens der Kritik erklärt sich die Berechtigung ihrer Einschätzung als Persönlichkeitskundgebung. Sie ergibt sich auch aus den objektiven Voraussetzungen der Urteilsbildung, aus dem Vorgang selbst in uns, der unserer Stellungnahme zu irgend einem künstlerischen Eindruck zugrunde liegt.

Es gibt Fälle, in denen ich einen Kunsteindruck mit gleichgültiger Kühle, gelegentlich sogar mit leidenschaftlicher Heftigkeit von mir abstoße. Es gibt andere Fälle, in denen ich ein ursprünglich Abgestoßenes nach langer Zeit zu schätzen beginne, noch andere, in denen ich ein anfangs Geschätztes mehr und mehr zurückweise. Und wie dies dem einzelnen ergeht, so ergeht es Generationen. Was liegt hier vor? Nur Unfähigkeit der Durchdringungsgabe, nur Wandelbarkeit des „Geschmackes“, nur Unzuverlässigkeit oder ungenügende Kenntnis des eignen Wesens und Wollens?

Ich kann nichts erkennen, was nicht, bewußt oder unbewußt, in mir Vorhanden ist. Ob ein Kunstwerk auf mich wirkt oder nicht, hängt ausschließlich davon ab, ob ich es bereits in mir trage. Das scheinbar Neue ist nur plötzliches Bewußtwerden bisher unbewusster Komplexe, nur überraschendes Erhellen seither im Dunkel liegender Innengebiete. Ich fühle, sehe, höre nur, was in mir ist. Das Kunstwerk wird mir nur soweit lebendig, als es ein Teil meiner selbst ist. Es ist ein Wachrufen latenter Gefühlswerte, nicht „Neues“ im absoluten Sinne. Ich kann es in besonderen Fällen ahnend vorempfunden haben, ohne selbst die Kraft zur Formung zu finden. Oder ich kann eipe dunkle Sehnsucht danach in mir getragen haben, ohne mir über Art und Möglichkeit der Erfüllung klar gewesen zu sein. Oder das neue Werk kann mir blitzartig bisher unbekannte Gebiete des eigenen Innern zeigen, Gebiete, von deren Vorhandensein ich selbst bisher nichts wußte. Diese drei Fälle sind denkbar — aber einer von ihnen muss eintreten, die Disposition muss gegeben sein im Empfangenden. Andernfalls erfolgt zunächst Abstoßung eines als fremdartig empfundenen Eindringlings. Eine Änderung tritt ein, wenn im Verlauf der eigenen Weiterentwicklung sich neue seelische Komplexe heranbilden, alte absterben und durch diese Veränderungen andere innere Schichtungen geschaffen werden. Es sind dies Vorgänge rein organisch entwicklungsmäßiger Art, sie haben im Grunde nichts mit Festigung oder Klärung des Urteils und Geschmackes zu tun, auch eigentlich nichts mit zunehmender Reife — sie hängen damit nur insofern indirekt zusammen, als bei den meisten Menschen bis zu einer gewissen mittleren Altersgrenze hin eine Bereicherung der seelischen Empfangsfähigkeit stattfindet. Keineswegs bei allen. Es gibt gerade unter genialen Naturen — man denke an Robert Schumann — solche, die im ersten Ansturm der Jugendkräfte weiterreichendes Fassungsvermögen zeigen als bei zunehmender Reife, bei der sich ihr Kreis verengt.

Aber wäre dies wirklich richtig? Dann müßte Beethovens Werk in mir vorhanden sein, ehe ich es noch kenne, latent zwar, aber doch in allen ungeheuren Spannungen und Ausmaßen schon vorgeahnt! Ist dies nicht eine irrige Überspannung der Bedeutung des rein seelisch gefühlsmäßigen Kunsterfassens, eine Unterschätzung der verstandesmäßigen, wissenschaftlichen und rein fachlichen Voraussetzungen des Verstehens?

Doch was ist dieses „Verstehen“ eigentlich, wie soll ich es näher bezeichnen, wie gelangt man dazu? Die Beobachtung lehrt häufig, dass zwei im ernsthaften Sinne Sachverständige einander schroff widerspechen, und nicht selten zeigt es sich, dass beider Urteile vor der Geschichte keinen Bestand haben. Das Fachwissen also gibt keine Sicherheit. Ich kann Beethovens Neunte harmonisch, thematisch bis auf die letzten Einzelheiten zergliedern und stehe dem Werk innerlich vielleicht ferner als irgendein Hörer, der von Kompositionstechnik nicht das mindeste weiß. Fachwissen allein ist wertlos, weil das Kunstwerk niemals Erzeugnis des Fachwissens ist, sondern umgekehrt dieses erst eine nachträglich gewonnene spekulative Ableitung und Spezialisierung des Kunstschaffens. So ist es auch nicht richtig zu sagen: Kunst kommt vom Können. Umgekehrt ist der Sachverhalt: das Können kommt von der Kunst. Daher ist auch das Können jeder neuen Kunst von dem der alten grundverschieden, es basiert auf neuen Willensgesetzen. Das „Verstehen“ aber, soweit es als Fachwissen aufgefasst wird, bleibt stets an eine bestimmte, in sich begrenzte Stilgesetzlichkeit gebunden und versagt, sobald es vor neue Aufgaben, Kundgebungen neuen Willens gestellt wird. Fachwissen kann bestenfalls nachträgliche Aufklärung über die materiellen Ursachen einer Wirkung geben. Es kann auf die Art zu wertvollen Erkenntnissen führen, aber diese bleiben stets in der Materie haften. Sie entbehren solange wesenhafter Aufschlusskraft, wie sie nicht im Dienste des spontan reagierenden Kunstgefühles stehen. So wäre das Kunstgefühl allein entscheidende Urteilsgrundlage! Wie aber steht es um dieses Kunstgefühl? Lässt es sich irgendwie erkennen, begrifflich nur uns selbst gegenüber — oder sind wir bei entscheidenden Stellungnahmen ganz der subjektiven Willkür, der unkontrollierbaren Triebhaftigkeit eines Instinktes ausgesetzt, von dem wir nicht wissen, ob er auf echtem Gefühl ruht oder uns in die Irre führt?

Nun ja: dieses Risiko müssen wir auf uns nehmen. Es gibt keine absoluten Sicherheiten, und alle letzten Entscheidungen, also auch die des Kunsturteils, fallen gefühlsmäßig. Damit ist nicht gesagt, dass in der Kritik absolute der einzig richtige Zustand sei, jeder Schwätzer sich auf sein Gefühl berufen dürfe und jegliches Wissen, jegliche Kenntnis der Materie überflüssig oder gar vom Übel sei. Selbst das feinste Gefühl wird zur Sicherung und Festigung seiner triebhaften Erkenntnis der nachprüfenden Begründung bedürfen, und diese greift stets in das stofflich Materielle des Kunstwerkes über. Die besondere Kunst der Kritik ist es, gefühlsmäßige Urteilserkenntnis aus der stofflichen Durchdringung der Kunstmaterie begreiflich und glaubhaft zu machen. Solche Kunst der Kritik kann man bis zugewissen Graden disziplinieren, in ihren Voraussetzungen aber ist sie individuell bedingt. Es ist daher falsch, etwa einander widersprechende Urteile zu vergleichen, um daran den Unwert der Kritik darzutun. Was beweisen solche Widersprüche anders, als dass sie von verschiedenen Menschen, aus verschiedenartigen seelischen Bedingtheiten stammen? Soll denn Kritik, kann sie anderes tun, als Anschauungen vermitteln? Freilich, wenn solche Anschauung bewusst unsauber gefärbt ist, oder wenn das Mittel der Kritik nur als Vorwand für außerkritische Zwecke benutzt wird, oder wenn das Verantwortlichkeitsbewußtsein, der Ernst des Willens zur reinen Erkenntnis fehlt, dann fasse man zu. Übelstände finden sich überall, sie sind indessen in der Kritik nicht schlimmer und nicht verbreiteter als anderswo. Im übrigen aber sei man sich bewusst, dass Kritik nicht Sache des Verstandes und Wissens, sondern des Talentes und Temperamentes ist. Sie hemmen oder unterdrücken zu wollen, ist so töricht und so unfruchtbar, wie jeder Kampf gegen geistige Mächte. Es ist bei der Kritik vielleicht am törichtesten und unfruchtbarsten. Bekämpfen an ihr lässt sich das verstandesmäßig Fassbare des Urteils, das für sie selbst nur Einkleidung, nur Symbol ist. Ihre Kraft dagegen und ihre Bedeutung ruht in ihrem gefühlsmäßigen Überzeugungswert, und diesen empfängt sie einzig aus dem Ethos der Persönlichkeit.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kritische Zeitbilder