Kritische Zeitbilder

Gesammelte Schriften Band 1
Autor: Bekker, Paul (1882-1937) deutsch-amerikanischer Musikschriftsteller, Erscheinungsjahr: 1921
Themenbereiche
Enthaltene Themen: kritische Zeitbilder, Wagner, Frankfurter Zeitung, Daseinszweck, musikalische Impotenz, Aphorismen, Musik-Patrioten, Wertbegriffe, Hassinstinkte, Pfitzner, Überpointierung, Entdeckerfreude, Tageskritiker
Inhaltsverzeichnis
  1. Vorwort als Selbstanzeige
  2. Kritik und Persönlichkeit (1919)
  3. Erscheinungen
    1. Wagner (1913)
      1. Parsifal (1913)
      2. Bayreuth
    2. Liszt
    3. Verdi
    4. Strauß
      1. Ariadne auf Naxos
      2. Josephslegende
      3. Eine Alpensinfonie
      4. Die Frau ohne Schatten
    5. Reger
    6. Debussy
    7. Puccini
    8. Schönberg
  4. Zeitgeschichte
    1. Kunst und Krieg I
    2. Kunst und Krieg II
    3. Künstler als Politiker
    4. Der geistige Arbeiter
    5. Die Kunst geht nach Brot
    6. Gefahren
    7. Theaterkrise
  5. Ästhetik
    1. „Wohin treiben wir?“
    2. Vom musikalischen Drama
    3. Futuristengefahr?
    4. Pfitzners „Palestrina“
    5. Die dramatische Idee in Mozarts Texten
    6. Musikalische Neuzeit
    7. Erfinder und Gestalter
    8. Impotenz oder Potenz?
    9. Die „Rückkehr zur Natur“
Vorwort als Selbstanzeige

Diese Aufsatzsammlung ist eine kleine Auslese dessen, was ich im Laufe von nunmehr zehn Jahren für die „Frank Zeitung“ geschrieben habe. Früheren Aufforderungen zur Herausgabe glaubte ich nicht folgen zu dürfen. Ich meinte, die für die Tageszeitung bestimmten Arbeiten hätten mit der einmaligen Veröffentlichung ihren Daseinszweck erfüllt Indessen hat die Erfahrung gezeigt, dass verschiedene dieser Aufsätze weiter gewirkt haben, als ich vermutete. Das hätte mich freudig berührt, wenn nicht einige unangenehme Begleiterscheinungen zu verzeichnen gewesen wären. Im Laufe letzten Jahre habe ich mehrfach die Beobachtung gemacht, dass einzelne Sätze, zuweilen auch nur halbe Sätze oder gar lediglich Stichworte aus meinen Abhandlungen zitiert, kommentiert und polemisch zurechtgestutzt verwendet wurden. Zuweilen — nicht immer — geschah es in solcher Form, dass ich selbst mich zerknirscht fragte, wie ich eigentlich auf solche Torheiten gekommen sein mochte. Wenn ich dann freilich in den Originalen nachsah, stellte sich mehr als einmal heraus, dass das angebliche Zitat entweder infolge von Herauslösung aus dem Zusammenhang den von mir gemeinten Sinn nur unvollkommen wiedergab, oder dass es unrichtig und missverstanden war, oder dass ich just das Gegenteil von gesagt hatte, was als meine Äußerung angegeben Solche Nachprüfung war jedem Dritten unmöglich, denn die Zeitungsexemplare sind vergriffen oder schwer zugänglich. Ich glaube, um nur ein Beispiel anzuführen, dass von allen, die sich ausführlich über Pfitzners „Neue Ästhetik der musikalischen Impotenz“ vernehmen ließen, kaum einer meinen darin vielfach erwähnten, 1918 erschienenen Aufsatz „Erfinder und Gestalter“ gelesen hat. Damit will ich gegen Pfitzner nicht den Vorwurf sinnwidrigen Zitierens erheben. Es ergibt sich aber ans dem Charakter solcher Abhandlungen, dass jeder, der über sie streiten will, sie zum mindesten erst einmal gelesen haben muss, und zwar ganz, nicht nur wenige, willkürlich herausgerissene Sätze. Andernfalls hätte ich mich selbst mit der Niederschrift einzelner Aphorismen begnügt.

Die jetzige Veröffentlichung erscheint mir also zunächst als durch vielfache Anknüpfungen veranlasste Materialsammlung gerechtfertigt oder doch entschuldbar. Damit will ich nicht etwa der Meinung Ausdruck geben, als erwarte ich von nun an nur wahrheitsgemäße, sinngetreue Bezugnahmen. Das wäre angesichts des gegenwärtigen Niveaus von Auseinandersetzungen über geistige Dinge eine gar zu weltfremde ,,ideale Forderung“. Es gibt heut in Deutschland immer nur eine Wahrheit: die der Partei. Die Partei ist stets zugleich politisch, rassenmäßig und künstlerisch bestimmt, die Feinheit der Polemik beruht darin, diese drei Dinge wirkungsvoll in einander spielen zu lassen. Wo sie nicht zueinander passen, da werden sie passend gemacht. So hat Pfitzner mir neuerdings die Leitung der „international-jüdischen Bewegung in der Kunst“ übertragen. Grundsätze, Träger, Ziele, Gesamtplan wie Einzelheiten dieser Bewegung, überhaupt ihr Dasein ist mir zwar unbekannt. Bekannt ist mir nur, dass ich zu einer Zeit werbend für Pfitzner eingetreten bin, wo viele seiner jetzt lautesten Freunde kaum seinen Namen kannten.*) Bekannt ist mir ebenfalls, dass ich seit meiner Übernahme des Referentenamtes der ,,Frankfurter Zeitung“ bemüht war, mit allen verfügbaren Mitteln Pfitzners Wirken in Straßburg zu stützen. Ich betrachte das keineswegs als Verdienst, lediglich als Erfüllung einer Pflicht, und freue mich um so mehr sie getan zu haben, als die Musik-Patrioten unserer Tage damals noch keine Zeit dafür hatten. Erwähnen muss ich es nur, weil ich vermute, dass Pfitzners Wissen um meine Leitung der international-jüdischen Bewegung wahrscheinlich auf jene Zeit zurückgeht. Andernfalls wäre es nicht zu erklären, wieso Meinungsverschiedenheiten über künstlerische Wertbegriffe Berechtigung zum Aufpeitschen politisch rassenmäßiger Hassinstinkte geben.

*) Mit dieser Feststellung will ich nicht etwa die Verdienste anderer Älterer schmälern, die, wie Paul Marsop oder Rudolf Louis, schon vor mir nachdrücklich auf Pfitzner verwiesen haben. Solche Absicht liegt mir um so ferner, als ich den vorbehaltlosen Enthusiasmus gerade von Louis niemals geteilt habe.

Wie dem auch sei — der Tatbestand steht fest, ich habe die Konsequenzen in Form all-deutscher Pöbeleien zu tragen und bemühe mich, es mit geziemender Fassung zu tun. Diese Fassung gibt mir Vertrauen und Hoffnung, dass in Deutschland noch Menschen vorhanden sind, die den Wunsch hegen nach sachlicher Auseinandersetzung mit allerlei nicht durch Parteijustiz lösbaren Problemen, die sich überhaupt freuen, Probleme zu sehen, und die wissen, dass der Streit um den echten Ring nur auf eine einzige Art entschieden werden kann, nämlich durch das Bemühen, die Tugend des Ringes zu erweisen. An solche Leser wendet sich dieses Buch. Ihnen soll es Gelegenheit geben, selbst zu urteilen. Nicht um Sonne und Regen zu verteilen, Recht und Unrecht abzumessen. Darauf kommt es für mich nicht an, denn die Gegensätze sind im Grunde rein bekenntnismäßiger, nicht wägbarer Art. Es gilt nur, diese Bekenntnisse an sich, ruhig, vorurteilsfrei, in ursprünglicher Gestalt zu sehen und die Wege zu beobachten, auf denen sie gefunden wurden. Das übrige ist in höherem Sinne gleichgültig.

Um solchen Überbück zu ermöglichen, glaubte ich die Auswahl möglichst mannigfaltig, doch unter Wahrung einiger übergeordneter Gesichtspunkte treffen zu sollen. Es sind drei Gruppen aufgestellt. Die erste bringt Charakteristiken von Persönlichkeiten und Werken, die zweite zeitgeschichtliche Betrachtungen, die dritte ästhetische Auseinandersetzungen. Zusammengefasst umschließen sie das gesamte Gebiet, das dem Kritiker der Tageszeitung zur Verfügung steht. Von eigentlichen „Kritiken“ im gangbaren Sinne habe ich nur die vier Strauß-Besprechungen als Wertungen der Persönlichkeit, die „Palestrina“Kritik als notwendiges Glied der dritten Hauptgruppe aufgenommen. In dieser ist der zeitlichen Folge nach alles vereinigt, was zur Ästhetik der „Impotenz“ gehört, sämtliche „Verwesungssymptome“ finden sich hier wohlgeordnet beieinander. Darum durfte auch die Antwort an Pfitzner nicht fehlen, während ich von der Aufnahme anderer Polemiken abgesehen habe. Bei diesen hätte der Leser die Gegenstimme vermisst, bei Pfitzner hat er sie leicht zur Hand, und ich glaube durch die Zusammenfassung aller hierher gehörenden Äußerungen nur die erforderliche Materialergänzung nachzuliefern. Dabei habe ich, abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen rein redaktioneller Art, weder Zusätze gemacht noch Auslassungen vorgenommen, obwohl ich mir der etwas unvorsichtigen Überpointierung einiger Sätze bewusst bin. Aber ich denke, der gutwillig aufmerksame Leser wird eine gelegentlich drastische Ausdruckszuspitzung nicht buchstaben-, sondern sinngemäß auffassen. Dem andern, der nur nach Wendungen sucht, wo er polemisch einhaken kann, will ich die Entdeckerfreude über irgendeine „Ungeheuerlichkeit“ nicht verderben.

Die Aufsätze der ersten und zweiten Gruppe — in diese klingen Krieg und Revolution vernehmlich hinein — sind untereinander nicht so eng verbunden wie die der dritten.

Das Interesse des Tageskritikers wird in stofflicher Beziehung zu einem großen Teil von äußeren Momenten bestimmt. Aufführungen, Gedenkfeiern, Todesfälle, Zeitereignisse verschiedenster Art, literarische Neuerscheinungen zwingen ihn zur Meinungsäußerung und Stellungnahme, verhältnismäßig wenig Bewegungsfreiheit bleibt ihm daneben noch für journalistische Arbeiten aus eigenem Impuls. Daraus ergibt sich unvermeidlich äußere Buntscheckigkeit der Themenstellung, die der systematischen Folge einer von vornherein als Buch gedachten Arbeit entbehrt. Dazu kommen noch Widersprüche im einzelnen, die sich aus Unterschieden der Entstehungszeiten ergeben. Innerhalb des Dezenniums, das ungefähr vom 30. bis zum 40. Jahre führt, wandeln sich manche Ansichten, verschieben sich die Perspektiven.

Man wird also etwa in dem Gedenkaufsatz über Wagner manches finden, was scheinbar zu späteren Äußerungen nicht passt, man wird auch in den langsam, aber stetig nach der negativen Seite creszendierenden Strauß-Kritiken einen auffallenden Gegensatz bemerken zu der Strauß-Charakteristik, wie ich sie in der 1909 erschienenen Schrift „Das Musikdrama der Gegenwart“ (Verlag Strecker und Schröder, Stuttgart) formuliert habe. Für den Leser, der nicht vom Buchstaben, sondern vom Menschen aus liest, sind dies nur Scheinwidersprüche. Sie ergeben sich entweder, wie gegenüber Wagner, aus der Entwicklung des Betrachters, oder, gegenüber Strauß, aus der Wandlung sowohl des Kritikers als des Kritisierten. Wer sich die Mühe macht, genau zuzusehen, wird außerdem finden, dass die entscheidenden Grundlagen der Urteilsbildung auch im materiellen Sinne stets die gleichen sind und nur die kritischen Folgerungen sich späterhin schärfer individualisiert haben. Ich will daher diesen Punkt gar nicht so ausführlich behandeln, es könnte den Anschein erwecken, als wolle ich mich entschuldigen, während ich im Gegenteil darauf hinweisen möchte, dass ich mir dieser Dinge in voller Unbefangenheit bewusst bin, sie für richtig, ja für notwendig halte. Notwendig wenigstens für den Kritiker, der nicht Rezensionsautomat ist, vielmehr innerlich erlebender, von seinen Erlebnissen getriebener, an ihnen wachsender Mensch.

Aber wie schwer ist es, die Voraussetzungen für die natürliche Entgegennahme des Menschlichen zu finden, für den innerlich freien, absichtslosen Gedankenaustausch, für das ruhige Streben nach Erkenntnis. Der Rezensionsunfug, der gegenwärtig den Hauptteil der kritischen Arbeit bildet, hat nicht nur die Kritik auf ein armseliges, unfruchtbares Nebengebiet abgedrängt. Er hat auch Künstler und Leser zu einer grundsätzlich falschen Art der Entgegennahme der Kritik veranlasst. Es wird nicht gefragt, ob eine begeistert zustimmende Besprechung albern, eine ablehnende treffend ist. Die Stimmen werden einfach nach ja und nein gezählt, man könnte meinen, die Künstler seien Großindustrielle und die Kritik bestimme den Kurszettel, nach dessen Angaben dann das Publikum seine Ankäufe vornimmt. Dieser beschämende Tatbestand ist nicht nur Folge der stark geschäftlichen Interessenrichtung oder meisten Künstler, er ergibt sich auch notwendig aus der Gestaltung unseres Zeitungswesens. In widerspruchsloser Anpassung an die Geschäftsideen des Agententums hat es jenen Typ der Musikkritik hervorgebracht, der eigentlich nur als eine auf ästhetische Gebiete übertragene Börsennotiz bezeichnet werden kann. Demnach ist es keineswegs verwunderlich, dass der Künstler im Kritiker nicht mehr den geistigen Mitarbeiter sieht, der, gleichviel ob zustimmend oder ablehnend, gemeinsam mit ihm nach Erkenntnis strebt. Die Kritik ist nur im Kampf um die Macht, die Macht ist Mittel des wirtschaftlichen Erfolges. Der ja-sagende Kritiker ist Freund, der nein-sagende ist Feind. Erkenntnisstreben ist törichte Phantasterei. Sie hat keine moralische Daseinsberechtigung, und wo sie sich Geltung zu schaffen sucht, ist man berechtigt, sie nur als äußerst raffiniertes, daher besonders verwerfliches Verkleidungsmanöver anzusehen. Das alles erscheint durchaus verständig und richtig im Sinne der Logik des Wirtschaftslehens. Schade nur, dass weder Kunst noch Kritik in dieser Sphäre wahrhaftes Heimatrecht haben, dass sie, wenn sie sich trotzdem dauernd in ihr bewegen, beide daran verarmen und verkümmern müssen.

Nun gibt es eine Reihe ehrlich gesinnter Kritiker, die einer solchen Auffassung des Gegenseitigkeitsverhältnisses zwar nicht zustimmen, dagegen meinen, der Kritiker müsse sich als untergeordnete Begabung begnügen, Interpret des Künstlers zu sein. Dieser sei der wahrhaft produktive, hellseherische Gesetzgeber, der Kritiker sei von Beruf aus Gefolgsmann, wo er opponiere, überhebe er sich und bedeute eine schädigende Hemmung. Eine sehr gutgemeinte, aber gefährlich zweischneidige Kritikermoral, erkenne den Führerberuf des schöpferischen Genies, die Offenbarungskraft der produktiven Tat ehrerbietig an — der Aufsatz „Wohin treiben wir?“ gibt darüber deutliche Auskunft. Aber ich verhehle mir nicht, dass eine mechanische Anwendung dieser Auffassung zu höchst bedenklichen Konsequenzen führen würde, nämlich zur vorbehaltlosen Anbetung des Erfolges, zur Versklavung des Geistes. Ich bin gern bereit, die Begrenztheit der Erkenntniskraft, die Unmittelbarkeit des Genies zuzugeben. Welches aber ist das Genie, woran erkenne ich es? Am Erfolg oder am Misserfolg, am lauten Schreien oder am stillen Wirken? Jedes Zeichen kann zutreffen, jedes kann in die Irre führen. Es kann auch sein, dass eine Zeit nur Begabungen ephemerer Art hervorbringt, die sich alle zu Genies erklären und sich dabei gegenseitig in Acht und Bann tun. Wo bleibt da der glaubensbedürftige, interpretationswillige Kritiker? Er wird Parteifex — oder er hängt sich auf.

Es muss doch noch Maßstäbe anderer Art geben, selbsteigene Werte der Kritik, die sie berechtigen, unabhängig von Strömungen und Erscheinungen der Zeit zu urteilen. Wille und Kraft zur Erkenntnis sind geistige Mächte, die sich selbst ihre Wege bahnen. Wenn sie stark und rein sind, können sie auf diesen Wegen zu gleichen, zu ähnlichen, aber auch zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangen wie der Künstler, ohne dass man sie darum schmälen oder der Überheblichkeit beschuldigen darf. Auch in ihnen lebt ein schöpferischer Funke. Er kommt stets vom Geist und ist nicht an die Materie gebunden.

Hofheim i. T., im August 1921.

Paul Bekker.