Kritik der Bildung in unserer Zeit

Autor: Rottels, Johann Theodor Dr. phil. (1799-1882) Professor der Philosophie, pädagogischer Schriftsteller, Politiker, Erscheinungsjahr: 1843
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Bildung, Gesellschaft, Wissen, Wissenschaft, Schulsystem, Bildungssystem, Kultur, Ausbildung, Lehrer, Bildungswesen, Wahrheit, Aufklärung
Dass ich nicht das Verdienst ansprechen kann und will, durch die Schrift, die ich hier einem wissenschaftlichen Publikum vorlege, eine besondere Wissenschaft weiter fortgebildet, oder wie man zu sagen Pflegt, weiter gefördert zu haben, das wird dem Leser bald klar; aber ich habe versucht, dem Denkenden wenigstens, eine nicht oberflächliche Veranlassung und Hinführung zu einem ernsten Bedenken, zu einer höheren Besinnung über das Wissen und die Bildung in unserer so reich bewegten Zeit zu geben. Inwiefern mir dieser Versuch gelungen ist, das überlasse ich dem edlen Leser zu beurteilen. Meine Kritik schmeichelt der Zeit und ihrem Bildungswesen nicht; aber darnach wird auch ein Leser, dem es um Wahrheit und nicht um Schein und einen sinnlosen Bildungs- und Aufklärungsjubel zu tun ist, gar nicht fragen, sondern nur, ob mein Tadel wahr sei. Wahrer Tadel ist in jeder Beziehung eben so vortrefflich und heilsam als wahres Lob. Dessen ungeachtet gestehe ich, wie ich jetzt die Schrift im Ganzen überschaue, dass manche Stellen und Ausdrücke einen ruhigen und ernstbesonnenen Leser etwas unangenehm berühren und ihm dem Gegenstande nicht ganz angemessen scheinen möchten. Es sind das die durchgedrungenen bewegten Töne einer, zwar mit hoher Feinheit, aber nicht mit Gerechtigkeit und Wahrheit, tief gekränkten Seele. Mein ganzes Leben und alle meine Kräfte waren den edelsten und ehrwürdigsten Interessen des Menschen und der menschlichen Gesellschaft stets treu, besonnen und nicht ohne Wirkung an den einflussreichsten Stellen gewidmet; dafür ist mir zum einzigen Lohn Unterdrückung und dann (um sich zu entschuldigen) meiner weichen Seele Beschimpfung geworden. Allein wenn nun diese Schrift auch leider mit einer tief bewegten und gekränkten Seele geschrieben wurde, so wird doch der Leser, zumal der denkende, mehr im Innern einen ruhigen Gehalt finden, der Wohl im Stande sein möchte in manchen Begegnissen der Zeit und des Lebens ihn eben so zu stärken, zu trösten und zu erheben, als er mich stärkte und tröstete, während ich schrieb.

Luzern, den 24. Juli 1843.
Der Verfasser



          Inhaltsangaben

Vorrede
Einleitung
Was ist Bildung
Kritik unserer Bildung

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              Einleitung

Wir haben jetzt zwei Erscheinungen in der europäisch-christlichen Geschichte unserer Zeit, welche unsere Aufmerksamkeit in hohem Grade verdienen. Die erste dieser Erscheinungen ist, dass die einzelnen Subjekte aus den höheren Vermittlungen der Familie, des Standes, des Staates und der Kirche so leicht und gänzlich heraustreten, ein jedes, so wie es eben ist, sich bloß auf sich selbst stellt und Alles um sich in Welt und Geschichte nach seinem Sinn und Begehr zu haben, zu denken und zu gestalten strebt. Die andere Erscheinung ist die, dass jeder, so sehr er nur sich selbst gelten lassen will, doch nicht bei sich sein, nicht mehr bei sich und, um mich so auszudrücken, zu Hause seine Freude und Glück finden kann. Wir sehen dieses besonders daran, dass die kleinen wie die großen Menschen, alle so nach Außen jagen. Die getümmelvollste Beschäftigung, die tausendfachen Mittel der Unterhaltung, die schwindelhaftesten Reisen vermögen den Menschen - jetzt nicht vor der Langenweile und dem Überdruss an sich selbst und an dem Seinigen zu bewahren. Die ganze unendlichfache Welt, den ganzen Wandel der äußeren Interessen und Verhältnisse durchregt er, selbstwandelbar mit jedem Augenblick, in Alles verändernder und verzehrender Unruhe. Diese beiden Erscheinungen werden wohl nicht geleugnet, aber die Urteile über sie sind sehr verschieden. Bald hört man über sie gloriiren und sie Zeichen der Mündigkeit, der Freiheit, der Aufklärung und des Fortschritts nennen; bald sieht man die Welt Furcht und ein gewisses, unheimliches Grauen vor ihnen haben, was denn auch durch die immer häufiger n Ausbrüche innerer Uneinigkeit, Unruhen, Bewegungen und Umwälzungen bei fast allen Völkern unserer kultivierten Welt wohl gerechtfertigt ist. Was mich betrifft, so habe auch ich ein Urteil über diese Erscheinungen und zwar folgendes: mir sind sie die Zeichen der fortschreitenden Auflösung und immer wirreren und wilderen Zerstreuung unserer europäisch-christlichen Geschichte. Ich gestehe es offen, mein Urteil ist mir eine tiefe Klage. Man schelte eine solche Klage nicht, noch finde man sie klein. Ich weiß recht gut, dass vor Gott alle Zeiten gleich gut, dass sie für jeden modernisierten Faseler gleich gut und gleich schlimm sind, je nach dem nur der Tag und der Augenblick sie ihm vor die Nase bringt; auch weiß ich, dass die Geschichten jedes Volkes und jedes Weltalters sich auflösen müssen, um stets dem Höheren Raum zu machen: aber dennoch blicke ich mit Wehmut in die immer herzlosere Zerstreuung der großen Geschichte, die meiner Seele Heimat, Erzeugerin und Erzieherin ist. Die Geschichten aller Völker und Weltalter gleichen dem Gewebe der Penelope: sie weben sich zusammen und lösen sich wieder auf. Die europäisch-christliche Geschichte hat jetzt die Zeit ihrer Auflösung. Die ganze ungeheure Tätigkeit im Wissen, Tun, Machen und Erwerben ist vor dem Tieferblickenden nur eine laut oder leise fortgesetzte Zerstreuung. Es ist keine Ruhe, kein inneres Glück, kein Herz mehr im Wissen, Machen und Besitzen. Da die einzelnen Ich von sich aus, wie sie eben sind, Alles, das Höchste und Beste machen, der ganzen Welt Gesetz und Weise sein wollen, das eine so, das andere anders; und da dabei auch kein Ich bei sich und dem Seinigen noch beruhen kann, sondern nun bald so, und bald anders denkt, schafft und tut: so können wir uns nicht wundern, dass wir unsere gebildete Welt in einer so außerordentlichen Bewegung erblicken. Aber je mehr sie sich bewegt, desto mehr verschwindet aus ihr, was sie im Innern und wahr zusammenhält, verschwindet aus dem öffentlichen wie dem Privatleben innere Ruhe, Zufriedenheit, Treue, Vertrauen, Herz und Wahrheit, und in dem ganzen unendlichen Strom kleinlicher Äußerlichkeiten und Gebilde, die meine Sinne umrauschen, schaue ich mit schüchtern sinnendem Blick schon deutlich die herzlosen Geister des Untergangs, die unsere Geschichte in endlosen Revolutionen zerreißen oder still fortschreitend verzehren.

Ich würde wirklich Unrecht tun, wenn ich sagen wollte, dass viele diese Geister oder diesen Geist des Untergangs und der Auflösung nicht bemerkten: aber lächerlich ist es, wenn sie nun nicht leiden mögen, dass man davon spricht, als könne man ihn, worin wir doch seit dem fortschreitenden Mündiggewordensein aller Subjekte leben, weben und sind, still ignorieren; wenn sie sich so oft verlauten lassen als würde dieser Geist bei der großen, tausendfachen Geschäftigkeit der losgebundenen Subjekte nun bald überwunden sein; und ganz besonders lächerlich, wenn man die Mittel sieht, womit sie diesen Geist zurückzuhalten und zu verscheuchen streben. Man liest von rohen Völkern, die bei einer Mond- oder Sonnenfinsternis den Schatten, den bösen Dämon, der sich vor ihre großen Lichter zog, durch Zauberformeln, durch Geschrei und durch Anschlagen an ihre Schilde, Waffen und Geräte zu verjagen meinten. Man nennt das freilich lächerlich und kleinlich; aber was die so sehr kultivierte Welt jetzt oft tut gegen den großen Schatten und Dämon, der sich immer mehr über all’ ihr Machen und vor ihr Höheres zieht, das ist fast noch lächerlicher. Ja was noch das Sonderbarste ist, ist, dass meist gerade die Mittel, die man gegen diesen Geist anwenden sieht, ihm eben dienen und ihn fort und fort befördern. Ihn, der doch der eigentliche Urheber ist aller bloß äußern Gewalt, will man durch äußere Gewalt bändigen und bessern; ihn den Vater aller Sophistik, List und selbstischer Klugheit und Künste, will man überlisten und mit Künsten bekehren! Wir sehen schon hieraus, wie wenig die kleinen Menschen der Zeit trotz ihrer gepriesenen Kultur und schönen Phrasen diesen Geist, der alle ihre Gebilde laut oder leise auseinander zieht, verstehen und wie wenig es ihnen ein Ernst ist gegen ihn. Wenn ich sie jetzt seit dem sie nicht mehr mitwirken wollen mit größeren und höheren Geistern und Leben, in ihrem selbstischen Erlernen, Erlisten, Bilden und Handeln ansehe, kommen sie mir vor wie das geschäftige Spinnenvölkchen im Herbste, das in unendlicher Tätigkeit Stoppel, Feld und Flur überspinnt. Und so wenig dieses Gespinnst der Spinnen im Stande ist die Felder vor den rohen und finstern Kräften und Stürmen des wüsten, barbarischen Winters, der alles Werk kleiner Insekten durch- und auseinanderjagt, zu bewahren; eben so wenig wird all’ das Gebilde, Gefasel und Gekünstel, womit die kultivierte Welt Natur*) und Leben überspinnt, im Stande sein, dem Geiste der Eitelkeit, Leerheit und Desolation zu wehren, der unsere eitelgewordene Geschichte zerstreuen wird.

*) „Man darf es sich nicht verhehlen, dass man leeren Worten ein Gewicht auf den menschlichen Geist gegeben, das nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Eindrücke der Natur selber verschlingt, sondern sogar die Empfänglichkeit für diese Eindrücke im Menschen selber zerstört."
Pestalozzi (wie Gertrud ihre Kinder lehrt).


Das Hauptmittel, das man von allen Stufen gegen den Geist der Leerheit, der Unruhe und Auflösung anrufen hört, ist die Bildung. Nur Schulen und Unterricht! Sobald irgendwo dieser Geist mal wieder durch die Geschäftigkeit hindurch guckt oder mit wilden Eruptionen droht, da hört man gleich rufen, nur noch mehr Schulen, noch mehr Unterricht! So sehen wir dann in unserer kultivierten Welt immer mehr die Schulen sich mehren, durch alle Länder in Stadt und Dorf eine unendliche Kulturfabrikation! Aber je mehr Schulen, je mehr Unterricht, desto mehr das Gefühl der Leerheit, desto quälender die Bedürfnisse, desto unzufriedener und unruhiger die Welt, desto drohender der Geist der Auflösung. Man schelte mich deswegen nicht, dass ich diese Tatsache mal ausspreche und in den Schwindel des Schul- und Unterrichtswesens nicht sinnlos miteinstimme: es soll diese Tatsache mir Veranlassung werden, mich darüber zu einer ernsten Besinnung zu bringen. Und ist das ernste Bedenken des Unterrichts und der Schulen nicht auch durch die Geschichte aller untergegangenen Völker sehr gerechtfertigt? Als Griechenland noch fast gar keine Schulen hatte, als nur noch Familie und Staatsleben die Schulen waren, da war nicht nur das öffentliche und Privatleben kräftig und gesund, es blühten auch damals Künste, Tugenden und Wissenschaften — in unübertroffener Schönheit und Wahrheit wie von selbst auf. Als aber nach und nach die Schulen und der Unterricht sich häufte, da wurde das schöne Hellas schwach und feige, da verlor es immer mehr die Kraft im Wissen und Tun, verzweifelte es an seinem eigenen Geiste und verlor sich selbst. So auch bei Rom. Als Rom die Welt eroberte und seine große Geschichte aufbaute, hatte es so wenig Schulen (die diesen Namen nach unserer Vorstellung verdienen) dass wir jetzt Mühe haben auch nur geringe Spuren davon zu entdecken: das Leben war noch die Schule *). Die Schulen und vielen Lehrer erscheinen auch hier zu gleicher Zeit mit dem Verderben des Ganzen und der Einzelnen; und je mehr die Schulen und der Unterricht sich mehrte, desto entarteter und schlechter wurde auch Rom und Römer **), bis endlich die rohe Kraft fremder Völker noch weit besser war und die eitle, herz- und wahrheitslose Geschichte zertrümmerte. Man wird nun sagen wollen, diese Völker hätten wohl nicht die rechten Schulen und Lehrer gehabt, sie hätten ihre Schulen immer mehr verbessern müssen. Aber das haben sie auch immer zu tun vorgegeben und gewollt: auch sie sind in immer ungeduldigeres Unterrichten und Machen, in immer hitzigeres Schultreiben hineingeraten. Und obschon sie, je hitziger und eifriger das Schul- und Unterrichtsgetriebe wurde, desto tiefer den Verfall ihrer Geschichte werden sahen, so glaubten und schrien doch auch sie fort und fort, dass nun eben von ihren Schulen aus sich die Welt und Geschichte regenerieren würde; was aber in der Geschichte sich nicht bestätigt hat. Wenn man dieses auch nur oberflächlich ansieht, so kann man daraus doch schon leicht abnehmen, dass wir wohl Ursache haben können, über Schul- und Unterrichtswesen jetzt eine ernste Frage aufkommen zu lassen. Und dieses um so mehr, weil wir jetzt das Schul- und Unterrichtswesen mit jedem Tage immer eiliger und hitziger werden sehen. Noch nie hat man einen Menschen, nie ein Volk oder eine ganze Zeit gesehen, die in einer bestimmten Richtung sich immer rascher, mit immer größerem Geschrei und Drängen fortbewegte, ohne dass die Tätigkeit einer solchen Richtung auch eine immer einseitigere, leerere, schwindelhaftere und falschere wurde. Auf den ersten Blick schon muss freilich das Unterrichten und Bilden an und für sich als etwas Schönes erscheinen; aber kann es sich denn nicht auch übertreiben? Und muss es sich sogar nicht übertreiben, nicht notwendig ein Schwindel werden bei dem immer eiligeren Treiben und Drängen, bei dem unaufhörlichen Geschrei von allen Seiten und den verschiedensten Köpfen? „Erwarte nichts; sagt ein Mann den ich wohl sehr verehre, — erwarte nichts von dem Treiben und den Treibern, und wo Geräusch auf der Gasse ist, da gehe fürbass.“ Wer nur etwas den eitlen Sinn der Menschen kennt, der muss leicht, je reger und zuverlässiger er sie in ihrem Treiben sieht, desto mehr demselben misstrauen.

*) „Sag’ ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.“
Goethe (Epistel 1).

**) Es wurde endlich nichts so verächtlich als der Name eines Römers. Der Geschichtsschreiber Luitprant sagt — unter diesem Namen hätten die Menschen zu seiner Zeit alles Gemeine, Eitle, Lügenhafte, Schlechte zusammengefasst.


Es gibt aber auch noch viele andere und nähere Gründe, die einem denkenden Mann und zwar ganz besonders gegen unser gegenwärtiges Unterrichtswesen ein ernstes Bedenken aufkommen lassen müssen. Ich will hier nur zwei derselben herausheben. Den ersten Grund geben die vielen Lehrer und ihre sogenannte Qualifikation. Um Fähigkeit und Macht zu haben zum Lehren, sei es für die höheren, sei es für die niederen Stufen, wird erstens nur erfordert, dass er eine gehörige Menge sogenannter Kenntnisse habe, Kenntnisse zu dem bestimmten Unterrichtsbehufe entweder durchs Hörensagen oder vom Papier erlernt; und zweitens dass er dann von diesem beliebten Kenntnismaterial auf eine gefällige und gewandte Weise anderen so viel vorzuhalten und ein- und anzuschulen verstehe, als möglich. Wie aber ein solcher selbst, in seinem Innern an Herz und Geist beschaffen, oder ob er auch die innere Natur seines betriebenen Kenntnismaterials und ganz besonders auch, ob er die Seele des Menschen und insbesondere seiner Zöglinge, die er so geläufig mit dem Material erfüllt verstehe, um es jederzeit richtig anzuwenden, das wird nicht gefragt. Solche Lehrer, und wenn sie auch noch so geschickt sind, kommen mir wie Blinde *) vor, wie Quacksalber oder wie Apotheker, die zwar ihre Medikamente wissen, aber ohne Verständnis der Patienten dieselben allenfalls nur nach einem gewissen Gebrauch anwenden. Plato würde sie mit Verkäufern von Vögeln vergleichen, die in die Köpfe ihrer Zöglinge, wie in Vogelbehälter, recht viele allerhand Vögel durch einander hineinbringen. Und wenn Plato denn, wie mir wenigstens scheinen will, Recht haben sollte, können wir uns wundern, wie es komme, dass unsere Kinder, unsere Menschen **) so voll allerhand Flattervögel, so unruhig sind, unsere gebildete Welt so eitel bewegt ist? Das wird sich nun aber wohl von allen Lehrern keiner leicht gesagt wissen wollen, dass er sein erlerntes Kenntnis- oder Vorstellungsmaterial nicht gehörig und fein anzuwenden wisse: jeder wird, auch ohne je daran gedacht zu haben, sich um Selbst- und Menschenkenntnis ernstlich zu bemühen, die gehörige Anwendung der Kenntnisse und Unterrichtsformeln schon von Natur aus zu verstehen vorgeben. Aber da doch ohne Menschen- und Selbsterkenntnis, die wir nicht von Natur haben können, vernünftigerweise eine richtige Anwendung gar nicht möglich gedacht werden kann, von allen Lehrern aber sich so wenige ernstlich darum bemühen, überhaupt so wenig tiefen Ernst um sich und Mitmenschen machen; so muss man wohl annehmen, dass bei weitem die meisten, wenn sie auch noch so viele Methoden und Kunstgriffe erlernt haben, mit ihrem Vorstellungsmaterial doch nur wie Blinde herumfahren und eitel nicht wissen was sie treiben. Und wenn nun diese Blinden, Eitlen in die Unterrichtshitze kommen, was wird dann nicht alles gelehrt und gebildet?

*) Und vom Guten leitet hinweg ein Blinder den Andern.
Reinecke Fuchs.

**) Aristophanes vergleicht die Athenienser, wie sie zu seiner Zeit zu werden begannen, mit Vögeln: wie wäre es, wenn wir auch unsere Gebildeten damit verglichen?


Noch mehr Misstrauen flößt ein anderer Grund gegen den ganzen Zug unseres gegenwärtigen Bildungswesens ein und veranlasst zu einem ernsteren Bedenken; dieses ist die Erscheinung, dass die Produkte desselben und namentlich das Wissen und die sogenannten Kenntnisse mit jedem Tage nicht nur leichtfertiger, sondern auch leerer werden. Aristophanes lässt in seiner Komödie, die überschrieben ist: die Frösche, von einem Gott in der Unterwelt, die Worte und Gedanken eines älteren Dichters gegen die eines neueren abwägen, wo dann oft eine ganze Menge Worte des späteren ein einziges Wort des älteren nicht aufwiegen kann. Wie wäre es, wenn ein Gott auch unter uns mit der Waage mal auftreten würde und die wohlgebildeten Kenntnisse unserer Zeit gegen die wenigeren unserer Vorzeit abwägen wollte: würde sich in dem Falle nicht zeigen, dass wir zwar in äußerer Beziehung und für das Äußere außerordentlich durch die vielen Schulkünste gewonnen, aber dagegen in Beziehung auf das Innere eben so außerordentlich verloren; dass unser Tun und Machen zwar sehr fein, geschickt und gewandt, aber auch in demselben Grade unaufrichtig, unstet, unruhig und kleinlich, unser Wissen zwar klar, bestimmt und reich, aber auch dafür eben so sehr ohne innere, fruchtbare Kraft, Beruhigung und Glück geworden; dass mit einem Wort unsere Fertigkeiten und Kenntnisse eben in dem Maße klein, leer und leicht seien, als sie sich erweitert und gemehrt haben? Man kann das freilich den meisten Menschen, die nur den äußern Schein für das Wesen halten, nicht begreiflich machen, weil sie, selbst veräußerlicht und vereitelt, ein besseres Tun und Wissen nicht mehr leben: aber der Verlauf unserer Geschichte wird nach und nach den Beweis führen, dass wir gerade in demselben Zuge sind wie die späteren Griechen und Römer, die beide endlich bei allem äußern Buch- und Schultreiben so schwach wurden, dass sie auch das Wissen und Denken ihrer größeren Vorahnen nicht einmal mehr verstehen und nachdenken konnten. Man glaube nicht, dass ich das nur so sage: die ganze Zeit, alle Menschen glauben es eigentlich selbst ohne es zu wissen: durch einen sehr zu bemerkenden Instinkt geben sie alle ein unbewusstes Gefühl von der immer zunehmenden Vilität ihrer gebildeten und umgetriebenen Kenntnisse kund. Trotz allem Treiben und Gloriiren über den Reichtum und die Herrlichkeit ihrer Bildung, ihres Wissens werden sie doch mit jedem Tage im Innern darüber immer mutloser und trostloser. Wir sehen dieses erstens daraus, dass sie den denkenden und wissenden Geist aus der Höhe, worin er sich in unserer christlichen Geschichte erhoben, immer tiefer niedersinken lassen in das Gebiet sinnlicher, menschlicher Erfahrung. Es heißt (und das hält man auch für eine Seite einer wichtigen Aufklärung) unser Geist müsse es aufgeben, sich mit den überirdischen Gegenständen denkend zu beschäftigen, über das Höhere und Höchste, über das Bleibende und Ewige, über Seele, Unsterblichkeit und Gott könne er doch nichts wissen. Mit welcher Begeisterung, welch’ innerem Genuss und Freude ihres wissenden Geistes erhoben sich dagegen nicht unsere Vorälteren gerade auf das Höchste hin! *) Aber das ist jetzt nichts mehr: es deucht unsere Gebildeten sogar lächerlich. Der menschliche Geist könne nur die wechselnden Gegenstände der Sinne und menschlicher Erfahrung wissen: was in diesem oder jenem Buche stehe, was der Mensch sehe, und höre und schmecke und betaste und was ihm in seiner Hand zerrinne, das seien seine Gegenstände **). Aber was ist das, wenn man sich näher versteht? Heißt es nicht den denkenden Geist unter die Sinne, welche auch die Tiere haben, hinabsetzen, ihn, den mattgewordenen hinter die Gewissheit und Wahrheit, die die Sinne gewähren sollen flüchten? So wirft man ihn, das Höchste, was wir haben, mutlos geworden durch das unendliche Geplärr der Schulen und die grenzenlose Vagheit und Verwirrung der Lektüre, in den Strom der Vergänglichkeit. Wehe aber der Zeit und dem gebildeten Geschlecht, das an seinem Geiste verzweifelt! Was ist denn an Bildung, Wissen und Geist, wenn er nur die vergänglichen Schatten der Endlichkeit zu erhaschen suchen soll? Wird Geist und Wissen dann nicht eitel mit dem Eitlen? Die Gegenstände des Wissens werden stets sein Gehalt: muss sich also nicht der Gehalt, die Würde und der wahre Wert des Wissens immer tiefer erniedrigen, das Wissen bei aller Genauigkeit und Ausbreitung immer leichter und einfältiger werden, je mehr es die erhabenen, bleibenden Gegenstände verlässt und sich nur auf immer sinnlichere, selbstischere Gegenstände wendet? Und wenn denn unleugbar unser gebildetes Geschlecht mit jedem Tage immer mehr seinen Geist aus der Höhe niedersinken***) und das Wissen irdischer und vergänglicher werden lässt, ist das nicht ein Beweis, dass es an seinem Geiste, an der Kraft, Wert und Würde des Wissens verzweifelt?

*) Um, wie Klopfstock singt „Gedanken der Unsterblichkeit zu denken“; oder „Gedanken, wert der Seele und Ewigkeit.“
Klopstock (an Gott).

**) Man bemerke auch mal etwas aufmerksamer die immer größere Neigung unserer Zeit zu dem Wissen der sichtbaren und tastbaren Natur, zu Botanik, zu einem groß- und vielnamigen Blatt-, Tier- und Steinwissen. Es gibt sogar wenige Staatsmänner, die diese Richtung nicht aus allen Kräften befördern. Einige tun dieses (und das sind nun die aufgeklärtesten), weil sie selbst an die höhere Natur und Richtung des menschlichen Geistes nicht mehr glauben; andere aber, sonst sehr achtungswerte und gerechte Staatsmänner, wie besonders die österreichischen, tun es, um die immer unruhiger und schwindelhafter sich bewegenden Völker an den festen Formen der äußern Natur und Industrie zu beruhigen. Aber die Menschen können nur in der Höhe beruhigt werden.

***) Selbst alle großen und edlen Menschen unter den Heiden waren anderer Ansicht.


Wie sehr diese Verzweiflung und Entmutigung über das Wissen in unserem Geschlecht sich kund gibt, das sehen wir zweitens auch daran, dass wir jetzt immer mehr unser Wissen zu einem bloß dienenden machen. Man sucht jetzt unter uns immer weniger das Wissen seinetwegen, sondern nur dessentwegen, was man dadurch glaubt erlangen zu können. Nicht nur die Einzelnen, sondern selbst Regierungen schätzen, befördern kein anderes Wissen mehr, als das sogenannte praktische d. h. ein Wissen durch welches man dieses oder jenes erwerben könne. Hierzu muss man dann weiter noch bemerken, dass ihnen etwas um so praktischer ist, je handgreiflicher, augenscheinlicher und vergänglicher der Nutzen ist, den man erwirbt, woraus dann folgt, dass das gemeinste Wissen ihnen immer mehr als das beste und wahrste erscheint. Worin besteht solchergestalt denn aber der Unterschied zwischen dem Dienen der Wissenskraft und dem Dienen der Kraft der Ochsen und Maulesel, die uns auch nützlich sind? Und muss man nicht notwendig das Wissen immer mehr verachten, wenn man es immer gemeiner dienen lässt? Ein freies Wissen, das nicht unserer Bequemlichkeit, unseren allerwelts Bedürfnissen dient und womit man auch nicht einmal scheinen und prahlen könnte, sondern das sich selbst Zweck, Glück und Genuss ist, das kennt man nicht, das hält man für Unsinn. Man will also nicht das Wissen, sondern nur die Bequemlichkeit, Befriedigung der irdischen Bedürfnisse und den Schein: ohne diese ist uns das Wissen selbst nichts. Heißt das nicht das Wissen selbst verachten und für leer halten? Und wie unsere gebildete Welt so gegen das Wissen gesinnt ist, eben so ist sie auch, wenn man’s näher ansehen wollte, gegen die ebenfalls hochgepriesene Moralität, überhaupt gegen jede Kultur *) gesinnt. Hält aber unsere gebildete Welt instinktartig ihre Kultur als solche, d. h abgesehen davon, was sie für Vorteile gewährt, für gering und leer, so bin ich doch auch wohl entschuldigt, wenn ich sie mal hier in Frage stelle und sie einer etwas ernsteren Prüfung unterwerfe.

*) In der französischen Revolution, wo die Menschen auch die Herrschaft der öffentlichen Meinung, die sonst doch alles leicht noch bändigt und in einer äußern Ordnung hält, niedergetreten fanden, sahen wir den ausgelassensten Zynismus an den Tag kommen. Mit welchem Jubel traten damals die gebildetsten Stände alle Arten von Bildungsformeln unter die Füße! Wenn man glaubt, dass in unserem jetzigen Volksleben ein solcher Zynismus untergegangen sei, so irret man sehr: unter der gebildeten Oberfläche liegt eine furchtbare und jetzt viel allgemeinere Inklination zu einem solchen Zynismus und solchem Zertreten aller Kultur, als vor jener Revolution.

Pestalozzi, Johann Heinrich (1746-1827) schweizer Pädagoge, Schul- und Sozialreformer, Politiker

Pestalozzi, Johann Heinrich (1746-1827) schweizer Pädagoge, Schul- und Sozialreformer, Politiker