Wassily-Kirche

Tags darauf ging es an ein charakteristisches Stück Asiatentum: zu der dem Kreml gegenüber gelegenen Zwiebelkirche Wassily Blashennoi, die den Hintergrund des großen zum Kreml führenden Roten Platzes ausmacht. Sie ist in tatarischem Geschmack gebaut und besteht innen aus neun, durch niedrige verschnörkelte Gänge verbundenen Kapellen. Diese Kirche ist wohl das wunderlichste Bauwerk der Welt, zum Andenken an die Eroberung von Kasan vom schrecklichen Zaren Iwan IV. Wassiljewitsch 1554 erbaut. Das Ganze erscheint in allen möglichen Farben lasierter Fliesen so seltsam durcheinander gewürfelt, dass alle einzelnen Teile die schroffsten Gegensätze untereinander bilden. Der untere Kirchenraum aus einer Kapelle mit dem Sarg des seligen Basilius bestehend, ist halb in die Erde gedrückt und über ihm bauen sich als obere Kirche die vorhin erwähnten neun Kapellen auf, deren jede ein enges, hohes, abgesondertes Turminnere bildet. Jede Kapelle ist in verschiedenen Stilarten errichtet und der die Kapelle bildende, bald spitze bald kuppelgekrönte, Turm ist in eben soviel verschiedenen Stilarten aufgerichtet, während dazwischen wieder kleine pyramidale Türmchen an jedem einzelnen Portal der neun Kapellen angebracht sind. Freitreppen, offene Galerien und zeltartige Dächer lagern sich im Umkreise um die Kapellen und ganz ungehörig springt von Nordost ein niederer Turm mit Stachelknopf in die Augen; der dicke Mittelturm aber scheint in seinen phantastischen Verzierungen China, Byzanz, Altitalien und die Gotik zu verkörpern. Trotz alledem bleibt die Wirkung des wunderlichen Bauungeheuers mit seiner bunten Lasur, mit seinen Kuppeln, Kreuzen, Ketten und Halbmonden auf den sechszehn Türmen eine überaus malerische, und Moskau wäre nicht Moskau ohne seine Wassily-Kirche.

Das größte Gegenstück nun zu diesem phantastischen Bau vergangener Jahrhunderte bildet der diesem Jahrhundert angehörende Neubau der fünfkuppligen Erlöserkirche, Chram Spassitelja im Bjälüj Gorod, der schönsten und großartigsten Kirche ganz Russlands, vornehmlich was die wahrhafte Harmonie ihrer inneren Ausstattung betrifft. Sie ist der gerechte Stolz aller Russen, weil nur aus russischem Material in weißem Marmor erbaut und von russischen Künstlerhänden ausgeschmückt; Wereschtschagin und Semiradzki haben in den schönen Fresken der inneren Kirchenwände ihre besten Leistungen niedergelegt. Innen und außen reizt uns Moskau nach allen Richtungen zur Betrachtung. Unsere Stimmung aber wird eine gehobene, wenn wir uns der moskowitischen Akropolis nahen, dem heiligen Kreml, und der Sonnenuntergang von der Höhe der Kreml-Feste wird mir ein unvergesslicher bleiben. Der „weißsteinige“ wird das Schloss von dem Volk genannt, seiner Mauer wegen und den „goldköpfigen“ nennt ihn das Volk seiner Kuppeln wegen, vor allem aber den „heiligen“ Kreml. Und mit seiner rötlich-weißen, ein unregelmäßiges Vieleck bildenden Riesenmauer mit Zinnen und Schießscharten und den stattlichen an jeder Ecke auslaufenden, Spitztürmen, die je nach den Hebungen und Senkungen des Bodens höher oder tiefer stehen, umschließt er den volkstümlichsten Fleck Erde des weiten Zarenreiches. Auf breitem Hügelrücken gelagert, zu Füßen den Moskwastrom mit seinen Gartenanlagen, ragt er aus dem nach allen Seiten unübersehbaren Häusermeer auf, wie eine allgewaltige, unbezwingliche Burgfeste, wie ein schon von fernher sichtbares unantastbares Heiligtum.
Auf dem großen Platz vor dem Kreml, der Rote Platz genannt; Krassnaja Ploschtschad, thronen die Kolossal-Statuen des Volkmannes Minin und des Patrioten Fürst Posharski. Minin weißt mit ausgestreckter Rechten auf dieses Volksheiligtum Russlands, zu dessen Befreiung er den Fürsten Posharski in Nischny-Nowgorod aufforderte.
Dieser Platz ist es, welcher den Kreml vom Gostinnoij Dwor, dem Bazar, trennt; dem Herzen Moskaus, wie Moskau das Herz Russlands."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Krim- und Kaukasus-Fahrt - Bilder aus Russland