Wolga

In Warschau trat nun die Krimfrage an mich heran, das heißt der Weg, den ich einschlagen sollte.
Abermals nach Großrussland aufwärts dreißig Bahnstunden nach Moskau bei vielleicht 40° Hitze? Von dort hätte ich nur etwa vier Bahnstunden bis Nischny-Nowgorod, — am Zusammenfluss von Oka und Wolga gelegen, — mit die Wolga beherrschender Zitadelle und etwa fünfzig griechischen Kirchen. Im Juli und August ist hier die größte Messe Russlands, früher ein Völkermarkt, jetzt von jährlich mehr schwindender Bedeutung, wenn auch noch immer von Armeniern, Kirgisen, Tataren, Chinesen und Persern und den Kaufleuten fast aller Länder Europas besucht. Für die Zeit der Messe wird eine ganze Stadt von Verkaufsbuden, Kirchen und Theatern in der weiten Ebene zwischen Oka und Wolga aufgeschlagen.

Dann eine fünf Tage lange Dampferfahrt, freilich auf guten Salondampfern die Wolga hinab nach Astrachan, als einzige interessante Punkte unterwegs das fast ganz von Tataren bewohnte und somit halborientalische Kasan; Samara durch seine Produktion von Kumys bekannt und etwa Sarepta wegen seiner Herrnhuterkolonie. Die Wolga, das heißt „die Große“ ist Europas größter Fluss, ihr Stromgebiet über sechsundzwanzigtausend Quadratmeilen, fast doppelt so viel als das der Donau. Die Tataren nennen sie „die Freigebige“, die Russen „Mutter Wolga“, denn sie gibt ihnen reiche Gaben und ist vielleicht der fischreichste Strom der Welt. Aber bezüglich der Flussfahrten lasse ich nur solche auf Rhein und Nil gelten. Mich reizte die Wolgafahrt nicht mit ihrer endlosen Monotonie, wenn ich auch Astrachan gern gesehen hätte, das, auf einer Insel im Wolga-Delta gelegen, etwa fünfzig Kilometer ehe der Strom sich in über sechzig seichten Mündungen in den Caspi-See ergießt, bei seinem reichen Fischfang und seinem bunten Völkergemisch von 60.000 Bewohnern: Tataren, Baschkiren, Kirgisen, Mongolen und Kalmyken neben dem Kremlin und der Kathedrale Moscheen und Heidentempel aufweist. Jedenfalls ein interessantes Gebiet, ob mir auch die Menschenrasse noch vom Himalaya her allzu unsympathisch ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Krim- und Kaukasus-Fahrt - Bilder aus Russland