Von der Kirche zum Schützengraben. – „Hé, Camarade, voilä bum bum.“

W., 1. 10. 14.

Meine Lieben!


. . . Gestern war Jaum Kippur. Um 7 Uhr morgens erfuhr ich, daß in . . ., etwa vier Kilometer von hier, jüdischer Gottesdienst sei. Unser Kompagnieführer gab uns (es sind drei Juden in der Kompagnie) selbstverständlich frei, um dorthin gehen zu können. Leider war die Nachricht, daß Gottesdienst sei, nicht genügend bekannt gegeben, so daß nur ungefähr 60 - 70 Juden erschienen waren. Die hier liegenden zwei Divisionen beherbergen aber eine mindestens drei- bis viermal so starke Anzahl Juden. Der Gottesdienst fand in der katholischen Kirche statt. Welch merkwürdiges Bild! Jüdischer Gottesdienst in einer katholischen Kirche, die zudem zur Aufnahme Verwundeter und auch als Schlafraum für Soldaten dient. Rabbiner Dr. Wilde aus Magdeburg leitete den Gottesdienst. Einer aus unserer Mitte betete vor. Die Gebetbücher wurden vom Rabbiner verteilt, aber er brauchte nicht viel herzugeben, denn unsere Juden hatten fast alle ihre Tefilloh mitgebracht. Der Rabbiner sprach, aber nach wenigen Worten stockte er und kam nicht weiter, er weinte. Jetzt, um dieselbe Stunde war zu Hause, in der ganzen Welt, wo Juden wohnen, die Totenandacht. Wie sieht es bei uns zu Hause in den Synagogen aus? Nein, man darf nicht daran denken, man darf es nicht. Hart muß man bleiben. Kanonendonner dringt zu uns herein und mahnt uns, tapfer und mutig zu sein. Da beißen wir denn die Zähne zusammen, und es scheint fast, als ob ein jeder einzelne lächle. Der Rabbiner spricht weiter. Er flüstert fast. Leise, gedämpft dringt seine Stimme von der Kanzel der katholischen Kirche, unserer Synagoge. „Jeder werfe einen Rückblich auf sein vergangenes Leben und lege sein Leben in Gottes Hand.“ Wer das in sonstigen Jahren nicht mit dem wahren, innigen Bewußtsein getan, jetzt tut er es. Noch nie gab es für uns einen Jaum Kippur wie gestern. So haben wir ihn noch nie miterlebt. Dann sprach der Rabbiner das Schema Jisroel vor, und wir sollten es nachsprechen. Das Schema, das erste Wort dröhnte durch die Kirche, fast wie ein Schrei, dann kam keiner weiter.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Vor der Kirche empfängt uns lachender Sonnenschein. Wir sind wieder Soldaten. Lachen auch wie die Sonne, plaudern und erzählen uns. Vier Juden mit Eisernen Kreuzen sind dabei. Sie erzählen von vielen jüdischen Kameraden, die auch das Eiserne Kreuz haben, aber zum Gottesdienst nicht kommen konnten. Hui, wie die Granaten pfeifen. Wir müssen rauf in die Schützengräben. Die Franzmänner werden übermütig. Heute wollen wir wieder Keile austeilen. Auf Wiedersehen, Kameraden. Sukkaus ist wieder Gottesdienst:. Auf Wiedersehen!

2. 10. 14.

Gestern wurde ich beim Schreiben abgerufen, weil ich einen Transport zum Feldlazarett nach . . .
(ca. 10 km von hier) hatte. Dort sah ich unsern Kaiser, der mit dem Kronprinzen und seinem Stab die Verwundeten besuchte. Die Riesenschlacht dauert immer noch an. Wir liegen schon 17 Tage an ein und derselben Stelle. G. f D. haben wir jetzt mit wenigen Tagen als Ausnahme wenig Verluste. Wenn hier die Entscheidung uns günstig, glaube ich, ist der Krieg mit Frankreich bald beendet. So, nun zu Eurem lieben Brief vom 23. September, für den ich Euch herzlichst danke. Merkwürdigerweise erhalte ich momentan die Berliner Postsachen früher als die Kölner. Macht Euch nur keine Sorge. Es ist in so vielen Fällen schon gut gegangen, es wird auch weiter so gehen. Anfangs, und zumal in Belgien, war es viel schlimmer. Da waren die verdammten Franktireurs, da waren versprengte französische Truppen in unserem Rücken. Aber es ging immer gut, so habe ich denn bis heute noch keinen Schuß aus meiner Pistole abgefeuert. Das Ding ist ja auch nur dann verwendbar, wenn mal ein Verwundeter schießen sollte. Die Fälle sind aber bis jetzt noch wenig vorgekommen. Im Gegenteil, die verwundeten Franzosen sind einem ja so dankbar. Wie viele Hände unserer Feinde habe ich schon gedrückt. Oh, Ihr sollt mal mein Französisch hören. Ich glaube, Ihr würdet Euch mitten im Kugelregen krumm lachen. Ein Beispiel: Wir rückten (1 Leutnant, 4 Wagen und 16 Mann) um 6 Uhr nach H., einem hochgelegenen Dorf im Schlachtfeldgebiet bei S. . Oben liegen Verwundete, Deutsche und Franzosen. Größtenteils in Scheunen. Wie die armen Kerle, teilweise mit überaus schweren Wunden, bis in die Scheunen sich schleppen konnten, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Mit Jubel werden wir empfangen. „Gott fei Dank, Kameraden!“ riefen sie uns entgegen. Die Franzosen rücken uns nur zu und zeigen uns ihre Wunden, die wir dann verbinden. Sie drücken uns die Hand, wie auch die deutschen Verwundeten. Wie ich aber einen französisch anspreche und ihn frage, was ihm fehle, welches Regiment usw., da hättet Ihr etwas hören können. Alle rufen, fragen, winken. Ich verstehe kein Wort, bis ich dann zu einem verwundeten Franzosen komme, der bitterlich weinte. Ich verstand ihn ganz gut, und er muß mich wohl auch verstanden haben. Wir haben die Wagen vollgeladen und wollen nun herunter zum Verbandplatz, um gleich darauf wieder auf die Höhe zu fahren. Da gibt es draußen Radau. Schrapnells schlagen ins Dach ein. Wir denken erst nichts Böses. Aber das Feuer wird stärker und stärker. Da merken wir, daß die französische Artillerie unsere Wagen für Geschütze ansieht. Im Galopp geht es nun hinunter. Ich versuche noch einen leichtverwundeten Franzosen, der mich bat, ihn doch zu seinen Kameraden zu bringen, in eine Scheune zu fuhren. Da schlägt eine Granate gegenüber in die Kirche ein, daß mir die Steinchen um den Kopf herumfliegen. Nun wird's aber Zeit. Alle sind schon weg. Ich allein zwischen Verwundeten. „Hé, camarade, voilà bum bum.“ Ein verständnisvolles Nicken des Franzosen, und fort mach ich, den andern nach. Ich glaube, ich habe einen Weltrekord im Laufen aufgestellt, denn nach ein paar Minuten holte ich unseren Trupp ein. Die Schrapnells folgten uns, da die Franzosen jeden Mann, geschweige die Wagen, von ihrer famosen Stellung aus sehen konnten. Wohlbehalten kamen wir unten an und waren in Deckung. Da heißt es auf einmal, ein Wagen mit Verwundeten, unser letzter Wagen, liegt auf halber Höhe; während des rasenden Fahrens ist ein Rad abgesprungen — sechs Freiwillige vor. Sollen wir die armen Kerls liegen lassen? Zu fünft marschieren wir wieder rauf, bringen mit großer Mühe das Rad wieder an den Wagen und fahren den Wagen bergab. Wir waren noch keine 70 Schritt vorgefahren, da schlagen drei Granaten an die Stelle, wo der Wagen stand. Wir aber kamen glücklich unten an. Unsere Namen werden notiert. Eine Auszeichnung? Nun, bis jetzt noch nicht. Wenn ich nur heil und gesund zu meinem Schatzerl komme, das ist für mich die höchste Auszeichnung.

Nun noch ein Merkwürdiges. Die Franzosen werden in die Flucht geschlagen. Wir rückten wieder in das Dorf. . . und holen die Verwundeten, von denen keiner nachträglich durch das Feuer verletzt wurde. Aber vor der Kirche lagen tote Franzosen. Es war ein französischer Vorposten, der sich vor uns in der Kirche versteckt hatte und nun durch eigenes Feuer fiel. Hätten die Kerle geahnt, daß wir nur mit der Pistole bewaffnet waren, ich glaube, es hätte noch eine Knallerei von Fenster zu Fenster gegeben. Wenn ich aber heute an das „Hé, camarade, voilà bum bum“ denke, dann muß ich herzhaft lachen. — Wolffsohn ist tot. Wieder ist ein Großer von uns gegangen, jetzt, wo wir ihn so nötig haben. Auch für uns Zionisten ist es eine große Zeit.