Metz in Kriegszeiten.

Aus einem Brief des Feldrabbiners Dr. Baerwald

München.


Das hätte ich nicht gedacht, daß meine erste Tätigkeit in diesem Feldzug mit der eines Detektivs viel mehr Ähnlichkeit haben würde als mit der eines Feldgeistlichen. Mit welchen Schwierigkeiten es verknüpft ist, den Truppenteil zu finden, den man erreichen soll, das erinnert an die Arbeit eines Sisyphus: denn wenn man nach endlosen Fragereien den gesuchten Ort endlich festgestellt hat, dann ist, wenn man hinkommt, das Nest ausgeflogen; bei dem Schleier des Geheimnisses, in das die Truppenbewegungen gehüllt werden, fängt die Arbeit von neuem an, und bei dem Scheckentempo, in welchem die Lokal- und besonders die Militärzüge fahren, ist der Zeitverlust ein recht beträchtlicher.

So kam es, daß ich am Vorabend des Rauschhaschonohfestes, statt bei unseren braven bayrischen Truppen das Rauschhaschonohfest zu begehen, erst in Metz angelangt war. Es war interessant genug, diese Stadt gerade in Kriegszeiten kennen zu lernen; ihr Charakter als Festung und die Nähe der Grenze brachten doch den Krieg um vieles deutlicher zum Bewusstfein, als wir es im übrigen Reich gewohnt sind. Die Einwohner müssen viele Beschränkungen, z. B. im Telephon- und Reiseverkehr, in Kauf nehmen. Darum aber ist es besonders erfreulich zu sehen, wie die Bewohner dieser Stadt, in der die meisten Bekanntmachungen deutsch und französisch erscheinen, nicht nur diese Beschränkungen und die Unbequemlichkeiten zahlreicher Einquartierung gern auf sich nehmen und darüber hinaus den durchziehenden Soldaten mit offenen Händen Liebesgaben spenden. So sollen besonders unsere bayrischen Truppen beim Durchzug mit Eßwaren, Tabak und Wäsche geradezu überschüttet worden sein. So hat Metz, trotzdem man auf der Straße manches französische Wort hört und viele französische Firmenschilder liest, sich doch als gute deutsche Stadt bewährt. Daß ich auch in den Gemeinden viele ähnliche Beweise des Patriotismus und der Fürsorge für unsere Soldaten sehen konnte, hätte mich doch nicht ganz damit aussöhnen können, daß ich selbst am Fest untätig bleiben mußte; allein auch hierfür wurde mir ein kleiner Ersatz gewährt, ebenso dem Kollegen Chone, Konstanz, den ein ähnliches Mißgeschick wie mich auf der Suche nach seinem badischen Armeekorps in Metz festgehalten hatte.

Ein ungewohntes Bild bot der Festgottesdienst. Wenn jemand über dem Ernst des Festes den Ernst der Zeit hätte vergessen können — die große Zahl der Soldaten hätte ihn an das blutige Ringen draußen erinnert. Mindestens 200 Soldaten aller Waffengattungen waren hier zum Gebet versammelt. Vom jüngsten Rekruten bis zum bärtigen Landwehrmann, teils Neueingekleidete, teils Verwundete, teils solche, denen man die Strapazen langer Märsche und der Schützengräben ansah. Wahrhaft herzerfreuend und erhebend aber war es, wie am Schluß des Gottesdienstes jeder, aber auch jeder Soldat eine Einladung zum Essen erhielt. Einzelne Gemeindemitglieder hatten es sich nicht nehmen lassen, eine größere Anzahl von Soldaten einzuladen, so daß kein Soldat wegging, dem nicht Gelegenheit geboten war, den Festabend in einem Haus zu verbringen.

Dieser schöne Beweis von Gastfreundschaft wiederholte sich mit gleich herzlicher Selbstverständlichkeit am ersten wie am zweiten Tag; ich hörte es von mehreren Soldaten, wie dankbar sie anerkannten, daß ihnen in dieser schweren Zeit ein Ersatz für das Familienhaus geboten wurde. Die Metzer Gemeinde hat sich hierdurch ein Recht auf die Dankbarkeit auch der Angehörigen ihrer Gäste erworben, denn sie können das Bewußtsein haben, daß ihre Lieben zwar fern der Heimat, doch auch von Fürsorge und Festtagsstimmung umgeben waren.

Einen anderen Beweis der Fürsorge, den die Metzer U. O. B. B.-Loge (Lothringer Loge) auch im Frieden den Soldaten ihrer Garnison angedeihen läßt, konnten wir am zweiten Festtag beobachten. Am Vormittag hatte Kollege Chone auf Einladung des Herrn Oberrabbiners Dr. Netter, unter Zustimmung der Gemeindevertretung, die Kanzel bestiegen und als Feldrabbiner insbesondere an die wieder zahlreich versammelten Kameraden zündende Worte gerichtet. Am Nachmittag führte eine Einladung der Lothringer Loge die Kameraden noch einmal bei Kaffee und Kuchen im Soldatenheim zusammen. Dieses Soldatenheim, vor etwa drei Jahren von der Loge gegründet, bietet jedem Soldaten allsonntäglich einen angenehmen Aufenthalt. Neben dem schönen Logensaal gelegen, direkt von der Straße aus zugänglich, enthält es zwei größere Räume, in denen die Soldaten lesen und spielen können, und wo ihnen Erfrischungen gereicht werden. Außerdem steht ihnen ein Schreibzimmer und ein Billard zur Verfügung. Hierhin hatte die Loge die Soldaten am Nachmittag eingeladen, und mehr als 200 konnten hier von ihren Strapazen ausruhen. Da auch ein großer Teil der liebenswürdigen Gastgeber mit ihren Damen erschienen war, entwickelte sich bald eine gemütliche Plauderstunde, in der so mancher junge und ältere Kamerad von den Erlebnissen der letzten Wochen erzählen konnte. Vor dem Auseinandergehen aber vereinte uns noch einmal eine Feier im Logentempel, in der die Herren Vorsitzenden der Loge und des Soldatenheims die Soldaten begrüßten. Ich hatte die Einladung erhalten, bei dieser Gelegenheit eine Ansprache an die Kameraden zu richten, und wenn diese etwas ernster ausfiel, als die Gemütlichkeit der Stunde es erforderte, so lag es daran, daß wir jetzt keinen Gedanken denken oder aussprechen können, der nicht an das Große rührt, dessen Zeugen wir sind.

Am nächsten Morgen ging es weiter, den Truppen nach, nun im Wagen mit den Pferden, die mir die bayrische Heeresverwaltung zur Verfugung gestellt hatte; jeder Winkel des Wagens angefüllt mit Wäsche, die mir von den freundlichen Metzern für unsere braven Jungens draußen mitgegeben worden war. Dann ging's in Feindesland hinein. An endlosen Munitions- und Furagekolonnen und an manchem Automobil mit Verwundeten vorbei, durch Dörfer, die mit Soldaten gefüllt sind. In der Ferne rollt Kanonendonner, und am Abend fahre ich über die Grenze, wo der französische Grenzpfahl im Graben liegt; dann das erste Nachtquartier in einem französischen Dörfchen, bei freundlichen Leuten.

Wo werde ich am Jaum Kippur sein? Vor 44 Jahren haben unsere Truppen Jaum Kippur vor Metz gefeiert. Es war auch ein Erfolg ihrer Tapferkeit, daß wir diesmal Rauschhaschonoh in Metz feiern konnten; unsere Dankbarkeit aber gebührt denen, die dies Rauschhaschonoh in Metz uns zu einem Fest gestalteten.