Kol Nidre vor Antwerpen.

Den 1. Oktober 1914.

Daß meine Karten gerade zu Rauschhaschonoh in Euren Besitz kamen und Euch dadurch aus Eurer Sorge rissen, hat mich sehr gefreut. Zu Jaum Kippur habe ich Euch nicht geschrieben. Den heiligen Tag habe ich wenig programmmäßig verleben können. Kol Nidre lagen wir im Schützengraben. Es gingen glaubhafte Gerüchte, daß nachts Fort Wavre, das schon den ganzen Tag beschossen war, gestürmt werden sollte. Mein Freund B. war sehr ernst gestimmt, denn er hat eine Braut daheim. Ich dachte viel an Euch, meine Geliebten. Am Jaum Kippur gingen wir morgens weiter vor und begannen wieder zu schanzen. Da bei uns alles ruhig blieb, so fand ich Gelegenheit, mich auf einige Zeit in ein kleines, rückwärts gelegenes, verlassenes, unzerstörtes Gehöft zurückzuziehen. Dort betete ich im Parterre ein Stündchen ganz ungestört, bis sich eine Feldbatterie direkt ca. 200 m hinter dem Haus aufbaute und einen Höllenlärm machte. Aus dem Haus hatten wir für unsere Unterstände längst alle Türen ausgehoben, und so füllte sich bald mein Betlokal mit Gästen: drei Hunden, einem Kalb, zwei Ziegen, etlichem Geflügel und einer Sau mit Ferkeln. Als ich das verängstigte Tierzeug hinauswarf, sahen sie mich alle so flehend an, wie wenn ich ihnen aus dem Hexenkessel helfen könnte. Ich verbarrikadierte die Türöffnung so gut es ging, sie blieben alle hinter der Barrikade stehen, bis ich mein Gebet beendet hatte und wieder zu den Schützengräben ging.