Gerettete Munitionswagen.

Brief des Unteroffziers der Artillerie Leo Leßmann, Hamburg.

16. September 1914.


Meine lieben Alten!

In fliegender Hast und Eile ein paar Zeilen. Seit dem 6. d. M. befinden wir uns in einer mörderischen Schlacht, in der wir uns nunmehr jenseits der Aisne auf einer Höhe verschanzt haben, die wir lebendig unseren Feinden nicht überlassen werden. Erlaßt es mir, Euch von diesem Ringen heute Einzelheiten zu schreiben; es ist zu furchtbar. Meinem Batteriechef, der sich mir gegenüber einmal äußerte, daß er sich wundere, daß ich als Jude ein so guter Soldat wäre, habe ich endlich auch den Beweis persönlichen Mutes geben können. Also hört: Am 8. d. M. mußten wir eine Stellung aufgeben und wegen Pferdemangels unsere sechs Munitionswagen auf dem Kampffeld lassen. Am nächsten Tage wurde die Batterie zusammengerufen, und auf das Kommando „Freiwillige vor“ trat ich sofort als einziger Unteroffizier vor und erbot mich, die sechs Wagen wieder aus dem feindlichen Gelände zu holen. Von den Segenswünschen meiner Batterie begleitet, machte ich mich dann mit zehn erprobten Leuten und zwei Bespannungen bei anbrechender Dämmerung auf den Weg, verständigte mich mit unserem Infanterievorposten und pirschte mich dann an die Wagen zuerst einmal allein, auf dem Bauch kriechend, heran, um mich von ihrer Transportfähigkeit zu überzeugen. Dann holte ich meine Leute mit den Protzen und holte erst einmal vier Wagen, brachte die in Sicherheit und holte alsdann die übrigen zwei, sowie viele lose Munition, Geschützzubehör und unsere Toten.

Zweimal riefen mich feindliche Patrouillen an, drei Schuss wurden auf uns abgegeben. Vor dem äußersten Schützengraben empfing mich unser Regimentskommandeur, gab mir die Hand und sagte: „Das haben Sie sehr brav gemacht, Kamerad, ich danke Ihnen.“ — Na, das Märchen von der „jüdischen Feigheit“ habe ich wenigstens für unser Regiment wohl gründlich zerstört. Und wenn mir kein anderer Lohn wird, so ist mir dies Bewußtsein überreichlich genug.

Schickt mir bitte recht oft kleine Pakete mit Schokolade, sauren Bonbons, Scheibendauerwurst und anderen Nahrungsmitteln. Ihr könnt Euch ja gar nicht vorstellen, wie sehr wir solche Sachen brauchen. Stellt Euch vor: seit zwölf Tagen haben wir trotz der stürmischen, regnerischen Nächte kein Zelt mehr über uns und kein Bund Stroh mehr unter uns gesehen, sondern stets in den Pfützen und Morästen der Stoppelfelder biwakiert. Mir geht's, das könnt Ihr mir glauben, trotz allem und allem noch immer ausgezeidmet! Ich bin guten Mutes und sehe getrost in die Zukunft!

Es küßt Euch

Euer Leo.