Kretische Kunst

Bibliothek der Kunstgeschichte herausgegeben von Hans Tietze *)
Autor: Praschniker, Camillo (1884-1949) österreichischer Archäologe, Professor und Publizist, Erscheinungsjahr: 1921
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kustgeschichte, Kulturgeschichte, Kretische Kunst, Baukunst, Knosos, Fresken, Stuckreliefs, Ornamente
*) Tietze, Hans Karl (1880-1754) österreichischer Kunsthistoriker

Als am Anfange unseres Jahrhunderts die Märchenwelt der kretischen Kultur aus dem Schatten der Jahrtausende wieder emporstieg, konnten wir zunächst nur staunen und bewundern. Wir sahen auch anderwärts alte Kulturen wiedererstehen, aber nie ist uns eine Entdeckung so nahe gegangen. Wie ein Grenzwall liegt die langgestreckte Felsmauer der Insel zwischen der blauen Ägäis und dem Südmeere, zwei Welten trennend, und solche Grenzgebiete sind sonst kein fruchtbarer Boden für das Erblühen einer aus eigenen Wurzeln sprossenden Kunst. Was hier nun ans Licht kam, passte nicht in die Schemata der Prähistoriker, stand aber auch neben dem gleichzeitigen Kunstschaffen der vorderasiatischen Völker wie die Arbeiten eines genialen Wunderkindes bei denen seiner bloß fleißigen Mitschüler. Eine Welt trennte es von der benachbarten ägyptischen Kunst und zu der späteren griechischen schienen keine Wege zu leiten. Jahr für Jahr wurden wir mit einer immer wachsenden Fülle des Neuen überschüttet. Jetzt erst, da wir diese wundersame Kunst auf der Insel selbst keimen, wachsen, blühen und welken sehen, können wir sie verstehen. Es ist eine Entwicklung, die fast zwei Jahrtausende, das 3. und 2. v. Chr., umfasst. Die Anfänge verraten wenig von der großen Zukunft, steinzeitliche Töpfe, wie sie auch anderswo gefunden sein könnten. Erst mit dem Aufkommen der Bronze tritt die ganz eigene Begabung hervor. Man verfertigt mit unvergleichlicher Meisterschaft Gefäße aus hartem Stein (1), von merkwürdig grotesken Formen, und versteht es, dem Geäder und Geflamme des farbenprächtigen Materials höchsten Reiz abzugewinnen. Ein besonderer Sinn für die Wirkungen der Farbengegensätze bildet sich schon in dieser Frühzeit aus. Im Tongeschirr versucht man ähnliche farbige Wirkungen, in unruhigem Flimmern leuchten buntgescheckte Gefäßwände (2). Angeborene Begabung drängt den geometrischen Dekor zurück. Wie bei der Kanne der lange Ausguss dem Meister den Wasservogelkopf vorgaukelte, so wird oft der Pinsel vom geometrischen Ornament ins Pflanzliche hineingelockt. Wir erwarten nun gleich den Aufstieg zu jenem Naturalismus, der die höchste Blüte der kretischen Kunst kennzeichnet. Aber es kommt erst eine lange Schule der Vorbereitung, in der die Natur in stetem Kampf mit dem Ornament steht. Naturformen geben in der Regel den Ausgang (3 b), aber sie werden verarbeitet, vergessen, untergetaucht in kühnem Liniengeschlinge (4 a), das mit höchster Freiheit in weißer, roter, gelber Farbe über die in tiefstem Schwarz oder dunklem Violettrot erglänzenden Gefäßwände geworfen wird. Erst unter dem dahingleitenden Pinsel ergeben sich dem Maler die Motive, jedes Gefäß ist ein Individuum für sich. Es ist ein Jugendstadium dieser Kunst und zugleich ihr erster Höhepunkt. Die Kühnheit des Entwurfes, die Sicherheit des Pinsels hat sich die kretische Kunst damals erworben.
Inhaltsverzeichnis
Ein paar führende Meister müssen nun — etwa im 17. Jahrh. v. Chr. — die latente Begabung freigemacht und in bestimmte Bahnen geleitet haben. Die Natur hat den Sieg über das Ornament davongetragen. Das bedeutet keinen Bruch mit dem Vorhergehenden, war in ihm schon lange vorbereitet. Aus den Trümmern einer Zerstörung erstehen nun die Paläste der Fürsten in neuem, alles Vorhergehende übertrumpfenden Glänze. Die kretische Baukunst vereinigt merkwürdige Gegensätze, höchsten Luxus mit überraschender Ursprünglichkeit. Man baut ausgedehnte Paläste, bei denen die Größe der Anlage das einzige Monumentale ist. Um weite Binnenhöfe schließen sich Zimmer, Kammern und Gänge wie die Zellen einer Bienenwabe. Doch kein einheitlicher Gedanke liegt zugrunde, das Zweckbedürfnis allein kittet die Räume aneinander. Und dabei im einzelnen glänzende Grundrisslösungen von raffinierter Kompliziertheit (5 a), höchster Luxus in der Ausgestaltung. Neben erdgeschossigen Räumen unmittelbar hochgetürmte Stockwerkbauten, luftig wie Betoneisenbauten, mit kunstvollen Treppenhäusern (7). Die Wagrechte der vielen ungleichhohen Flachdächer unterbrechen die Laternen der Lichtschächte; die Silhouette der Paläste war ein heiteres Aufundab, das den Blick nicht zur Ruhe kommen ließ (5 b und 6). Dabei enttäuscht die Kleinheit der Räume ; die Wohnung der Königin in Knosos ist ein Puppenhaus. Die launenhaften Windungen der engen Gänge führen — ein Hauptreiz dieser Baukunst — zu überraschenden Durchblicken. Die hintereinander auftauchenden Pfeiler- und Säulenreihen der Pfeilerhallen nötigen das Auge zu unaufhörlicher Neueinstellung. Durch die Lichtschächte einfallendes Licht beleuchtet von der unwahrscheinlichsten Seite her, reflektiert und gedämpft die bunten Malereien der Wände. Auch wo diese aus edelstem Quaderwerk aufgeführt sind, legt sich die bemalte Stuckdecke darüber. Die Maler wollen die Enge vergessen machen. Blickte man von der kleinen Pfeilerhalle der Königin in Knosos durch die Pfeiler und Säulen hindurch in den östlichen Lichtschacht, war man durch die Kunst des Malers in die Tiefe des Meeres versetzt (8 *). Eine kleine Wendung: durch hohe breite Fenster drang die Blütenpracht des kretischen Buschwaldes, die der Maler an die nahe Wand des schmalen Lichthofes gezaubert hatte. Die Künstler stellen die Natur dar, wie sie sie sehen, und sie schauen sie mit offenen Augen, die für alles Interesse haben, was lebt. Ihre Pflanzen wachsen wirklich, jede in der ihr eigenen Art (9). Sie wollen das Leben, die Bewegung in jedem kleinen Ding der Schöpfung. Ein Windhauch geht durch das zitternde Riedgras, flüsternd neigen die Papyrospflanzen ihre zarten Blütenköpfchen. Sie lauschen dem Wild die flüchtigste Bewegung ab (11 b). Zwei kleine Fayencereliefs aus Knosos, mit zarten Farben bemalt wie Kopenhagener Porzellan: einmal eine Wildziege mit zwei Zicklein, grazil, nervös, mit der ganzen Ruhelosigkeit dieses Tieres; das anderemal (10) eine Kuh mit ihrem Kälbchen, ganz gelassene Gutmütigkeit und Phlegma. Wo ihnen die Wirklichkeit nicht genügt, lassen sie ihre Phantasie frei schaffen, bilden die tollsten, aber doch von eigenem Leben erfüllten Mischgestalten (12 d). Wie eine Illustration zu einem Schiffermärchen sieht der Kampf eines Seemanns mit einem Seeungeheuer aus (12 e). Die Kreter haben drei Jahrtausende vor der Moderne die Landschaft entdeckt. Die Stimmung des Wintertages, auf dem kleinen Raum eines Siegels (12 a) sparsamst ausgedrückt durch drei entlaubte, vom Wintersturm gebeugte Bäume, ist schon von ihnen empfunden worden. Von Bedeutung ist ihre Art der Raumdarstellung. Bei der Lebhaftigkeit ihrer Anschauung nimmt es nicht wunder, dass Einzelzüge einer richtigen Perspektive aus dem geschauten Bilde herüberwirken, unbewusst unterlaufen. Aber im allgemeinen ist ihrer so raumhaft denkenden Kunst die Perspektive unbekannt geblieben. Sie geben den Bildgrund von oben gesehen und setzen in seine Fläche in reiner Seitenansicht ihre glänzenden Einzeldarstellungen, die weiter entfernten in größerer Höhe. Das Ganze wirkt wie eine Kavalierperspektive, so dass man manchmal über den Mangel einer richtigen hinweggetäuscht wird (11 a). Im Wesen ist es ihnen aber doch nicht gelungen, die Summe der Eindrücke zu einem räumlichen Ganzen zusammenzuschließen. Auch blieb ihnen die Darstellung des Schattens versagt. Sie halfen sich, indem sie ihre Fresken verkörperlichten, sie in flache, bemalte Stuckreliefs verwandelten (13), bei denen sich von selbst die Abtönung der Farbe ergab. Als lebendes Stück Natur interessiert sie auch der Mensch. Sie haben ihn fast immer mitten in die Natur hineingestellt und auch hier reizt sie die Bewegung des Körpers mehr als dieser selbst. Sie stellen den Mann nur deshalb fast nackt dar, weil die kretische Männertracht sehr sparsam ist. Aus demselben Grunde erscheinen die Frauen fast immer in der raffinierten üppigen Kleidung der Zeit (17). Wo sie Ruhe darstellen, ist es keine lässige Muße, sondern ein Anspannen jedes Muskels zu einer unglaublich strammen Körperhaltung, die augenscheinlich Ideal und guter Ton ist (13, 14). Aber mehr lieben sie Bewegung, und zwar höchst momentane Augenblicksstellungen, wie etwa bei den Kämpfern auf dem Steatitgefäß aus H. Triada (15) oder den beiden eilig schreitenden Männern auf dem Siegel (12 c). Die Schnitzarbeit in dem einfarbigen Material zwang zur Loslösung von der Farbe und schuf so einen eigenen Reliefstil. Während man sich einerseits im malerischen Relief an die Komposition der Gemälde anschloss (11), verzichtete man in anderen Fällen auf die Raumandeutung, stellte die Figuren auf eine wagrechte Bodenlinie, vor einen neutralen Bildgrund (14). Eine große Rundplastik haben die Kreter nicht besessen. Nur kleine Figürchen scheinen aus ihren Werkstätten hervorgegangen zu sein (16, 17). Sie wirken durch das Raumempfinden, das hemmungslos zum Ausdruck gebracht wird. Kein Reliefstil, wie in der frühen griechischen Kunst, immer ein absichtliches Betonen der dritten Dimension durch aus der Körperfläche gegen den Beschauer vortretende Teile, die sehr oft die Hauptansicht zerstören. Auch die Keramik hat den jähen Aufschwung mitgemacht. Zuerst wollen es die Töpfer den Meistern der Fresken gleichtun (3 a), aber ihre beschränkte Palette kann nicht mit. Sie bescheiden sich, lernen um und verzichten ganz auf die Farbe, zaubern in schwarzer Holzschnittmanier kleine Wunderwerke des Pinsels (18) auf die nun hell gelassenen Gefäßwände. Auch in der Auswahl beschränken sie sich. Der Mensch fehlt hier ganz. Die Pflanzenwelt und das Tierleben der Tiefsee beschäftigen sie fast ausschließlich. Ihre Schöpfungen gehören zum Besten, das die kretische Kunst hervorgebracht hat. Durch sie dringt ein leuchtender Abglanz der Pracht der Paläste in die Hütte des kleinen Mannes.

*) Bruchstücke der Fresken sind an Ort und Stelle gefunden worden. Die Skizze will nur die Raumwirkung andeuten, ohne in Einzelheiten gesichert zu sein.

Ein neuer Geist spricht aus der Kanne 4 b. Äußerste Eleganz der Formen, die Darstellung — Seetiere zwischen algenbewachsenen Korallenriffen — kein Bild des Lebens, sondern in der reihenweisen Regelmäßigkeit der Anordnung ein prächtiges Ornament. Aus den Motiven der Vorzeit holt man hervor, was sich in diesem Sinne umsetzen lässt und schafft daraus den Rhythmus des Ornaments. Prächtige Leistungen zwar, aber doch der Beginn des Abstieges. Der Palast von Knosos wird noch einmal auf Glanz hergerichtet. Auch in seinen Wandmalereien ein ähnliches Streben. Reihen lebensgroßer Gestalten (19) ziehen an den Wänden; prachtvoll dekorativ gemalt, aber doch arm in der Erfindung, ein oftmaliges Wiederkehren derselben Motive. Man hat eine gute Überlieferung, aber nicht mehr die Kraft zu Neuem. Und dann kommt das Ende, über Nacht. Eine Welle der Vernichtung wälzt sich über die Insel, die Paläste und mit ihnen die Mittelpunkte des Schaffens sind rauchende Trümmerstätten. Was folgt, ist entweder Verwilderung, die das alte Material grausam abbraucht (20 a), oder etwas, was nicht mehr kretisch zu nennen ist (20 b). Von jetzt an ist das griechische Festland der gebende Teil, Kreta hat seine Rolle ausgespielt.

1. Steingefäße aus Mochlos

1. Steingefäße aus Mochlos

10. Fayencerelief aus Knosos

10. Fayencerelief aus Knosos

11 a. Steatitrelief in Oxford

11 a. Steatitrelief in Oxford

12. Kretische Siegelabdrücke

12. Kretische Siegelabdrücke

13. Stuckrelief aus Knosos

13. Stuckrelief aus Knosos

14. Steatitbecher aus H. Triada

14. Steatitbecher aus H. Triada

15. Relief von einem Steatitgefäß aus H. Triada

15. Relief von einem Steatitgefäß aus H. Triada

16. Bronzestatuette in Leyden

16. Bronzestatuette in Leyden

17. Elfenbeinstatuette in Boston

17. Elfenbeinstatuette in Boston

18. Bruchstucke eines bemalten Tongefäßes aus Knosos

18. Bruchstucke eines bemalten Tongefäßes aus Knosos

19. Wandgemälde aus Knosos

19. Wandgemälde aus Knosos

2. Tongefäße aus Gurnia

2. Tongefäße aus Gurnia

20 a. Tongefäß aus Phaestos

20 a. Tongefäß aus Phaestos

20 b. Tongefäß aus Palaikastro

20 b. Tongefäß aus Palaikastro

3 a. Tongefäß aus der Kamaresgrotto

3 a. Tongefäß aus der Kamaresgrotto

3 b. Tongefäß aus Knosos

3 b. Tongefäß aus Knosos

4 a. Tongefäß aus Phaestos

4 a. Tongefäß aus Phaestos

4 b. Tongefäß in Marseille

4 b. Tongefäß in Marseille

5. Grundriss und Schnitt der Königswohnung in Knosos

5. Grundriss und Schnitt der Königswohnung in Knosos

6. Wandgemälde aus Knosos

6. Wandgemälde aus Knosos

7. Treppenhaus und Lichthof in Knosos

7. Treppenhaus und Lichthof in Knosos

8. In der Wohnung der Königin in Knosos

8. In der Wohnung der Königin in Knosos