Fortsetzung

Hier aber ist der Punkt, wo er sich mit Luther treffen musste. Auch dieser hatte die scholastische Barbarei bekämpft, und viel radikaler noch als jemals Melanchthon und alle Poeten: er hatte ein Prinzip aufgestellt, das, wenn es durchgeführt ward, die in der herrschenden Theologie dicht verwebten Elemente antiker Bildung und christlicher Spekulation voneinander lösen musste und wenigstens die Möglichkeit für eine freie und eigenartige Entwicklung in beiden Sphären, der Forschung und der Religion, schuf: über die Jahrhunderte hinweg war er bis zu den Quellen der Offenbarung, die ihm in den heiligen Schriften bloßgelegt lagen, vorgedrungen. Und so musste er, der die Religion zu ihrem Ursprung zurückführte, in jenen auf die echten Quellen der Theologie gerichteten Studien einen Strom lebendigen Wassers erblicken, der auf die neuentdeckten Fruchtgefilde des evangelischen Glaubens geleitet werden konnte. Man weiß, wie instinktiv Luther jeden ihm feindlichen Geist gewittert und wie unbarmherzig er ihn dann bekämpft hat. Aber keinen Augenblick zögerte er, dem jungen Gelehrten das Gastrecht an seiner Universität zu gewähren. Nicht das Neue und Originale, sondern gerade die Klarheit, die Hingebung und der Nachdruck, mit der jener sein Programm in der Antrittsrede entwickelte, war es, was ihn entzückte und ganz Wittenberg zur Bewunderung hinriss. Ein Arsenal von Waffen brachte ihnen der Sohn des Waffenschmiedes von Heidelberg herbei.

*) So unter vielen andern Stellen in einem Briefe an Spalatin, 22. Juli 1520 (Corpus Reformatorum I, 207): „Nam ego aliud nihil sequor, quam quod ex re literarum esse judico, quas nisi fideUter prudenterque tuebimur, rursus barbaries irruet.“ Und weiterhin: „Non ignoras tu, quae rerum omnium bonarum vastitas literarum ruinam sequatur. Religionem, mores, humana divinaque omnia labefactat literarum inscitia. Propterea. si quid potes, te adhortor in hanc incumbas curam deüberesque, qua possit ratione rectissime consuli rebus. Meum Studium nulla in re vobis defuturum est. Et ut quisque optimus est, ita vehementissime cupit salvas esse literas, quod videt nullam esse inscitia capitaliorem pestem.“


Melanchthon selbst aber ward überwältigt von der Tiefe und Fülle der Religion, die ihm in Luthers Lehre entgegentrat. Eben jetzt, wo Luther stürmischer als je vordrang und Stück auf Stück der Hierarchie unter seinen Schlägen zusammenbrach, schloss sich Melanchthon enger an ihn an als jemals später. Er wolle lieber sterben, schreibt er, als je von Luther weichen, und alles für ihn ertragen. Er nennt ihn seinen Elias, seinen besten Freund, seinen Lehrer und Meister; er vergleicht ihr Verhältnis mit dem des Alcibiades zu Sokrates; jugendlich schwärmend bekennt er, dass ihm Martinus lieber sei als sein Leben, dass ihn nichts Traurigeres treffen könne, als ihn zu missen; er möchte ihn höher stellen als die Kirchenväter aller Jahrhunderte. Er fürchtet nicht die Drohungen der Romanisten und den Bann des Papstes. Wenn Gott für uns ist, ruft er aus, wer kann wider uns sein! Vergebens suchen wir in dieser Zeit nach einem Lehrunterschiede zwischen ihm und seinem großen Freunde. Auch in den Loci communes hat er doch
nur Luthers Gedanken mit der ihm eigenen klassischen Knappheit und Klarheit zusammengefasst. Mag es denn sein, dass er in späteren Jahren von der Starrheit Lutherscher Lehrsätze in mehr als einem Punkte abgewichen ist oder, besser gesagt, gewünscht hätte, sie mildern zu können, und zwar nicht bloß aus Schwäche, sondern auch von dem Gefühl getragen, welches die klassischen Studien in ihm nähren mussten, dass die theologischen Formeln doch nicht allen Problemen und der Fülle des sittlichen und geistigen, ja des religiösen Lebens ganz gerecht würden: so ist er sich doch eines tieferen Unterschiedes in der Lehre auch dann noch nicht bewusst gewesen; an den Kerngedanken Luthers hat er Zeit seines Lebens festgehalten, auch in den bitteren Stunden, die ihm die Reizbarkeit des alternden Reformators und die Streitsucht seiner orthodoxen Nachfolger bereitet haben. Er blieb bis ans Ende sein treuer Schüler, und ganz vom Herzen kam ihm das Wort, das er ihm ins Grab nachrief: er habe, wie alle Freunde und Schüler des Entschlafenen, in ihm den Vater verloren.

Jedoch auch seinen geliebten Alten ist Melanchthon in jedem Moment seines Lebens treu geblieben. Nur Aristoteles, dessen Ausgabe er früher als sein Lebenswerk betrachtet hatte, setzte er anfangs, auch darin dem Einfluss Luthers weichend, beiseite; die Dichter hingegen vergaß er niemals, und bald genug ist er auch zu dem Stagiriten zurückgekehrt. Das Ziel aller seiner Bemühungen war stets, die humanistischen Studien und die evangelische Theologie gemeinsam zur Herrschaft zu bringen. Hierin hatte er in Luther und Spalatin nie fehlende Bundesgenossen. Noch hatten die Humanisten nirgends wirklich gesiegt, wie hitzig sie auch überall vorgehen mochten. Vielmehr ist gerade Wittenberg die erste Universität gewesen, wo die Scholastik gründlich ausgefegt wurde. Durch die Konflikte mit Rom und dem Kaiser ließen sich die drei Baumeister nicht aufhalten, nur um so rascher gingen sie vorwärts; alle Disziplinen, auch die medizinischen und juristischen Lehrstühle wurden mit Anhängern der neuen Richtungen besetzt. So ward hier die festeste Burg für den protestantischen Humanismus errichtet, ein Vorbild, nach dem alle evangelischen Schulen und Universitäten des neuen Glaubens sich fortan entwickelt haben. Zwei Jahrhunderte protestantischer Gelehrsamkeit ruhen auf diesen Fundamenten. Und unermüdlich arbeitete Melanchthon weiter, um sein System in den verschiedenen Stufen, von der Volksschule bis zur Universität, auszubauen; immer war es dieselbe Verbindung zwischen humanistischer Bildung und evangelischer Religiosität. Großartig ist die Tätigkeit und das organisatorische Geschick, das er dabei entfaltet hat. Nach seinen Plänen wurden die Universitäten gegründet oder reformiert, Marburg, Königsberg, Rostock, Leipzig usf., auch Tübingen und Heidelberg und selbst noch Jena, das dann die Hochburg seiner flacianischen Gegner werden sollte. Seine Lehrpläne und Lehrbücher lagen den Vorlesungen überall zugrunde, auch für medizinische und juristische, mathematisch-astronomische und historische Professuren; und er entschied über die Berufungen weit über die deutschen Grenzen hinaus. Mit demselben Eifer umfasste er den Unterricht auf allen Stufen und in allen Fächern. Sein Weltruhm als Gelehrter hat zu keiner Zeit geschwankt. Darin wenigstens wurde er niemals enttäuscht; und auch in den Jahren, da er sich vor der Rabies Theologorum und aus den Wirren der Politik nach der Ruhe des Grabes sehnte, fand er in den geliebten Alten immer wieder den Nektar, der seine Seele erquickte. Er war ein Professor ohnegleichen. Tausende von Schülern hat er nach Wittenberg gezogen: und gerade in den späteren Jahren, zumal vor dem Schmalkaldischen Kriege, sah er wieder die Auditorien dichter gefüllt als je; er hat immer größeren Zulauf gehabt als Luther selbst. Aus der ganzen Christenheit kamen die Hörer herbei, oft ältere und hochgelehrte Männer, denen es eine unvergleichliche Freude gewährte, an dem bescheidenen Tisch des bewunderten Meisters als Gäste weilen zu dürfen. Er hatte jetzt eine Stellung gewonnen wie weiland Erasmus; so fest gegründet, dass er sogar aus dem katholischen Lager, wie vom Kardinal Sadoletus, preisende Briefe erhielt. Seine Korrespondenz war ganz so ausgebreitet wie die des alten Humanistenkönigs; mit seinen Gutachten umschließt das, was von ihr gedruckt wurde, schon weit über zehn Quartbände, und an 2.000 Briefe harren noch der Veröffentlichung. Kein größeres Vergnügen aber kannte er, als auf dem Katheder zu sitzen und vor seinen Studenten den Römerbrief zu interpretieren oder aus dem Pindar zu übersetzen oder mit ihnen Prosodie und Grammatik zu treiben.

Hat er es doch sogar fast als Zeitverschwendung betrachtet, dass er heiraten musste. Beim frühesten Morgengrauen war er des anderen Tages schon wieder am Schreibtisch, um, wie er Spalatin scherzend schreibt, die Ansicht der Freunde zu widerlegen, dass es mit seinen Studien nun aus sein werde. ,,Eher will ich Leib und Leben verlassen", ruft er aus, ,,als die echten Wissenschaften." Eben die Freunde aber waren es gewesen, die ihn, wie er von sich bekennt, fast wider Willen verheiratet hatten, zumal Luther, der seinem zarten Körper die häusliche Pflege verschaffen und ihn auch wohl damit — denn er verschmähte solche Diplomatie nicht — an die neue Heimat fesseln wollte. Es war Katharina, die Tochter des Bürgermeisters von Wittenberg, die sie ihm ausgesucht hatten. „Niemals ist mir kühler ums Herz gewesen als eben jetzt", gesteht der junge Ehemann wiederholt. Aber er ergab sich in sein Schicksal und hat danach Jahrzehnte in glücklichster Ehe gelebt.

Es ging ihm wie Luther, der am liebsten auch sein lebenlang im Winkel geblieben wäre, des Dienstes an seiner Gemeinde gewartet hätte. So ward Melanchthon am wohlsten bei seinen Büchern und Studenten; außerhalb der Universität schien ihm das Leben wertlos zu sein. Aber öfter noch als jener musste er hinaus, um seine Kirche zu vertreten. Nur bei den Visitationsreisen im sächsischen Lande, bei den Reformationen benachbarter Gebiete oder bei Verhandlungen mit den Glaubensverwandten, wie in Marburg und Schmalkalden, durfte ihn sein Freund begleiten. Vor Kaiser und Reich auf dem Tage in Augsburg oder bei den großen Religionsgesprächen mit der altgläubigen Partei konnte der Geächtete und Gebannte nicht wohl erscheinen, und so musste hier überall Melanchthon für ihn einspringen. Es waren Geschäfte, bei denen die Politik ebenso sehr mitsprach wie religiöse Erwägung, und die dem empfindsamen Gelehrten durchaus unsympathisch waren. Oft hielten sie ihn monatelang von Wittenberg fern. Aber immer war er bereit, wo es der Sache galt, der er sein Leben geweiht hatte. Unentbehrlich und wahrhaft großartig war die Arbeitskraft, die er dann bewährte, und die Hingabe, womit der kränkliche Mann allen Unbilden der Reise und den Feindschaften zahlloser Gegner trotzte. Gewiss, er ist manchmal kleinmütiger gewesen als nötig war und wohl auch ungerecht gegen den Fürsten, der ihn erhielt und das eigene Schicksal mit den hohen Gedanken verknüpft hatte, die in Wittenberg ans Licht getreten waren. Aber an sich hat er dabei zuallerletzt gedacht. Nur die Furcht für seine Schöpfung, die Angst, dass seine junge Pflanzung vernichtet werden und die Barbarei wiederkehren könnte, hat ihn dann und wann zur Nachgiebigkeit oder Ungerechtigkeit verleitet. Man muss diese brennende Liebe zu seinem Beruf im Auge behalten, wenn man über solche Schwächen leichthin den Stab brechen will. Wo es galt, für die Studien und die Universität einzustehen, da war Melanchthon tapfer und entschlossen wie kein anderer. Als einmal nicht lange vor seinem Tode unter seinem Rektorat Studentenunruhen ausbrachen, da ist das kleine graue Männlein mit seinem Degen allein den Tumultuanten entgegengegangen. Auch dürfen wir nicht vergessen, wie engherzig und borniert die regierende Gesellschaft war, auf deren Einfluss und Unterstützung die Gelehrten damals angewiesen waren. Wie oft bricht Melanchthon über die Zentauren und Zyklopen an den Höfen in bittere Klagen aus! ,,Wir Professoren", schreibt er einmal, ,,werden auf das hochmütigste verachtet, und nicht allein von den Ignoranten, den Pfeffersäcken und den Krautjunkern, sondern auch von jenen Halbgöttern, welche in den Regierungen sitzen. Ja man verachtet uns nicht bloß, man hasst uns geradezu."

In ihm selbst war nichts als Hingabe an die Aufgabe, der er sein Leben geweiht hatte. Darum hielt er in dem Lande, wo er nie recht heimisch werden konnte, bis ans Ende aus und lehnte jeden Ruf, so noch den letzten an seine Jugenduniversität, ab. Auch mit solchen Anschauungen aber stand er nicht allein. Uns wird es heute, wo die banausischen Interessen von allen Seiten auf uns einstürmen, schwer, die Heldenkraft einer Gesinnung zu begreifen, welche sich nicht scheut, nur um der Idee willen, an die sie sich gebunden hält, das System eines Jahrtausends zu zertrümmern und nach den Gedanken, an die sie glaubt, die Welt neu zu gestalten. Aber die Reformation wäre nie möglich geworden, wäre nicht die weltverachtende Sicherheit dieses Glaubens in ihren Bahnbrechern mächtig gewesen. Zu diesen Helden des Gedankens aber rechnet auch Philipp Melanchthon, und darum vor allem wollen wir seine ehrwürdige Gestalt in treuem Gedächtnis bewahren.