Fortsetzung

Wer heute über diese Dinge redet, denkt selten an die Zustände zurück, welche Luther vorfand oder die seine Lehre herbeiführte, an die kirchliche und soziale Verwirrung, aus der heraus er seine Kirche zu bauen hatte. Nicht bloß Papst und Kaiser machten ihm zu schaffen, sondern mehr fast der Unverstand und die Rohheit, die Selbstsucht und Gleichgültigkeit im eigenen Lager: ein türkisch, teuflisch und tatarisch Volk hat er seine Deutschen genannt. Wir müssen ein, ja zwei Jahrhunderte weitergehen, um die Früchte seines Tuns zu erblicken und mit denen seiner Gegner zu vergleichen. Nation und Christenheit blieben gespalten, mühselig erhielten sich die souverän gewordenen deutschen Stände zwischen den großen Mächten; aber in ihren Grenzen hatte das Bekenntnis Stadt und Land, Regierende und Regierte in gemeinsamer Gesinnung fest zusammengeschlossen. Ehrenhafte Lebensführung, bürgerliche Tüchtigkeit, ein in bescheidenen Verhältnissen dem Ewigen zugewandter Sinn waren lebendig geworden. Und welche Fülle herzlicher Andacht, wie erhabene Vorstellungen von göttlicher Majestät und Liebe noch im vorigen Jahrhundert in den engen Kreisen deutscher Bürgerschaften heimisch waren, dafür genügt es, auf den einen Namen Johann Sebastian Bach hinzuweisen.

Doch war es nicht mehr möglich, des fremden Glaubens Herr zu werden. Die Konfessionen hatten sich aneinander matt gerungen, und jede war froh, die Stelle, die sie besaß, zu behaupten. So tauchte aus der Not der Zeit ein Gedanke auf, dem Luthers Staatslehre schon Raum gegeben hatte: den feindlichen Glauben, der sich nicht niederzwingen ließ, zu tolerieren. Wir begegnen ihm im ganzen Umkreis der römischen und protestantischen Welt; den verschiedensten Motiven entspringend, führt er doch überall zu ähnlichen Bildungen. Maßgebend waren offenbar die großen Wandlungen in der politischen Konstellation: die Unentschiedenheit des Dreißigjährigen Krieges, der Zusammenbruch der spanischen Macht, die Niederwerfung Ludwigs XIV., das Emporkommen des parlamentarischen Englands und der preußischen Krone. Im Inneren war der Anteil an der Staatsmacht meist noch an die Einheit des Bekenntnisses geknüpft; aber auch da trieb der Zwang der Verhältnisse ab und an zu neuen Ordnungen. Und da der Druck von außen aufhörte, so begannen bald allgemein grundsätzliche Änderungen.


Schon hatte sich die Theorie, den politischen Notwendigkeiten folgend, des Gedankens bemächtigt und ihn systematisch begründet; und so ward er das Ferment einer neuen Bildung, welche mehr und mehr die leitenden Kreise der europäischen Gesellschaft durchdrang. Die Staaten blieben zwar im wesentlichen konfessionell geordnet, die Massen der Bevölkerung lebten weiter in den überlieferten Anschauungen und fanden darin ihr Genüge; aber darüber hin bildete sich in den oberen Schichten eine Gesinnung aus, welche mit um so keckerem Wagemut die Gesellschaft zu reformieren unternahm, je mehr sie von der Echtheit ihrer Erkenntnisse und Absichten überzeugt sein konnte. Die neuen Weltvorstellungen waren in sich wieder sehr verschieden gefärbt, je nachdem sie auf protestantischem oder katholischem Grunde erwuchsen — Abstände, die wir durch die Namen Voltaire und Lessing, Rousseau und Herder, Diderot und Goethe bezeichnen können; aber gemeinsam war dieser Kultur das frohe Bewusstsein der eigenen Kraft, die Zuversicht auf ihre vernünftigen Gedanken und der Trieb, sie über die Welt in friedlichem Wetteifer zu verbreiten. Niemals sind dieser Weltauffassung prangendere Worte gewidmet worden als in den Versen Schillers, da er an der „Neige des Jahrhunderts“ die edle stolze Männlichkeit, die durch Vernunft gesicherte Freiheit, den aufgeschlossenen Sinn und die durch Gesetze verbürgte Stärke seines Zeitalters pries.

Er hatte den Tag vor dem Abend gelobt. Denn in demselben Jahr noch brach die Revolution aus, die über die von ihm verherrlichte Kultur erst wahrhaft das Fin du Siècle brachte.

Heute, am Abschluss des neuen Säkulums, das aus jenen Wirren ans Licht trat, hat sich die Stimmung geändert. Der Schleier, welchen die selbstgefällige Blindheit des achtzehnten Jahrhunderts zwischen sich und der Wirklichkeit gezogen hatte, ist längst von unsern Augen gerissen; schon sinkt auch ringsumher der verklärende Nebel, den die Romantik über der Kluft zwischen den feindlichen Bekenntnissen ausgebreitet hatte, und von einem kalten, scharfen Lichte werden Gegenwart und Vergangenheit beschienen. Die alten, von der Aufklärung verachteten und fast vergessenen Ordnungen haben sich mit neuem Leben erfüllt und sich mit trotziger Kraft mitten in unsern Staat, ja in die Wissenschaft selbst hineingedrängt. Schon aber sind die Massen in neue Erregung geraten und fordern Anteil an dem Wissen der Geistesmächtigen und an den Gütern der Besitzenden. Die Wogen einer neuen und nur vertieften Aufklärung prallen bereits allerorten an sie an, und von rechts und links erheben sich die Unglückspropheten, um uns mit allen Farben des Schreckens die Hölle an die Wand zu malen.

Die Zeiten sind andere geworden — und, wie es im Sprichwort heißt, andere Vögel, andere Lieder.

Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben. Dennoch dürfen wir sagen: Die Melodie, welche Martin Luther angestimmt hat, ist durch die Jahrhunderte her nur immer stärker und harmonienreicher geworden, und ihre gewaltigen Akkorde fluten heute durch das Leben der Nation. Niemals wird es möglich werden, die Entwicklung in die engen Formen zurückzuspannen, welche unter einem völlig andern Welthorizont, in Natur und Geschichte, entstanden sind, und die ihnen schon entweichenden Massen wieder an sie zu fesseln. Dennoch aber sind die Gedanken Luthers unter uns lebendig geblieben, geistige Kräfte, sittliche Energien in unserem Volke. Sie sind nicht erstorben in seiner Kirche und wirken fort in unserem Staate. In ihnen wurzelt das Recht unseres Schwertes, seine Macht und unser Gehorsam. Mit zwingender Gewalt fesseln sie jedermann an den öffentlichen Willen, und in freiem Eifer dienen ihnen, ohne Unterschied des Bekenntnisses, die Millionen. Sie sind verwachsen mit jedem öffentlichen Amt, mit unserer Ehe und Familie, mit Sitte und Recht, mit der Idee unseres Krieges und aller Arbeit des Friedens. Auf ihrem Grunde erwuchs ganz unsere klassische Literatur, und noch immer beherrschen sie weite Gebiete unserer Kunst. Nur von ihnen aus ist die echte Toleranz und die freie Forschung möglich geworden. Und mit einem Worte, sie sind noch immer das Lebensmark in unserem Volke.

Hier ist auch uns der Platz gegeben, um auf das nationale Leben einzuwirken, falls wir nur unserem Berufe treu bleiben und nichts wollen als lehren und forschen, hier die Aufgabe vor allem der historischen Wissenschaften, die an unserer Universität in drei Fakultäten gepflegt werden und wenn irgend etwas ihrer Geschichte wie dem Jahrhundert den Charakter geben. Ihre gottverliehene Kraft ist es, die Wurzeln unserer Weltvorstellung, alle ihre Verzweigungen, in der Vergangenheit zu erforschen, unbekümmert um die Folgen, welche sich für die Anschauungen und Ordnungen von heute daraus ergeben könnten, in der bescheidenen Meinung, dass sie damit nur Menschenwerk üben, und in dem gewissen Glauben, dass es Gottes Rat ist, seine Kreatur, die Vernunft, voll auszunutzen. Der Anstoß, den Luther seiner Zeit gegeben hat, ist wahrlich stärker gewesen als alles, was wir vermögen. Mit bebender Angst sah er die alte Welt unter dem Anhauch seines Geistes zerbersten und in immer neuem Sturz die Trümmer ringsum sich häufen. Wie oft hat er da geseufzt: „Ich hoff, der Jüngste Tag sei vor der Tür. Er will und muss kommen!“ Mit Hoffnung sah er ihm entgegen. Denn nicht die Sündflut, sondern das Reich Gottes war ihm das Ziel der Geschichte.

Dies männliche Vertrauen, diese unbeugsame Siegeszuversicht mitten in der Zerstörung ist doch das Größte in jener heroischen Zeit. In tausend Wendungen klingen uns solche Stimmen aus ihr entgegen. Wenn etwa Ulrich Hütten seinem Sickingen nicht eine fröhliche, sanfte Ruhe wünscht, sondern große, ernstliche, tapfere und arbeitsame Geschäfte, darin er vielen Menschen zugute sein stolzes, heldisch Gemüt brauchen und üben möge; wenn Zwingli seinem fürstlichen Freunde, dem Landgrafen von Hessen, zuruft, mit fester Hand den Pflug vorwärts zu führen: „Halt an, frommer Ackersmann, halt an!“; oder wenn Luther die Deutschordensherren ermahnt, ihre närrischen Gelübde abzutun: „Nur frisch und getrost hinan, Gott für Augen gesetzt im rechten Glauben und der Welt ihrem Rumpeln, Scharren und Poltern den Rücken gekehret, nicht hören noch sehen, wie Sodoma und Gomorrha hinter uns versinken, oder wo sie bleiben.“

Alle diese Männer fürchteten Gott und sonst nichts auf der Welt.

Wohlan, lernen wir von unsern Vätern! Wir wohnen ja in einem festeren Hause als sie. Seine Fundamente sind lange vor der Reformation gelegt worden, und das Wort, wie Luther es lehrte, hat sie bestätigt. In seinen starken Mauern findet jedermann Raum, der „Erdenkinder höchstes Glück“, die Persönlichkeit frei zu entfalten und zu behaupten und um alle Palmen zu ringen der Sittlichkeit und der Schönheit. Seine Bauherren haben, seitdem der Ahnherr den Spaten in dem märkischen Sande einsetzte, sich allzeit betrachtet als Amtmänner an Gottes Statt und als die ersten Diener ihres Staates.

Das ist der Wahlspruch Hohenzollerns. Es ist das eigenste Bekenntnis unseres kaiserlichen Herrn und die beste irdische Gewähr für alle Zukunft. Vereinigen wir uns denn mit einem starken Vertrauen in dem Gedanken, der heute jedes deutsche Herz erfüllt:

                              Gott schütze und segne den Kaiser!