Fortsetzung

Wenden wir von Hutten einmal den Blick hinweg nach dem Mönch, der in demselben Erfurt, wo auch jener eine Zeit lang weilte, aus der gleichen studentischen Ungebundenheit heraus sich in den engen Klostermauern barg. Der ganze Gegensatz beider Naturen tritt, wie man bemerkt hat, hier zutage: Hutten flieht aus dem Kloster in die Welt, Luther flüchtet sich aus der Welt in das Kloster. Wohl ist gesagt worden, dass der Humanismus auch für Luther bestimmend gewesen sei, wie denn erst der Bund der beiden die Reformation oder die Revolution erzeugt habe. Doch wird damit nur ein Teil für das Ganze erklärt. Nur eine unter vielen Anregungen verdankt Luther dem Humanismus: tiefverborgene Quellen lebten in ihm; nach schwerstem Ringen, wie aus granitenem Gestein, mit Urgewalt brachen sie ans Licht. Wollen wir begreifen, was Luther sein Evangelium nannte, so müssen wir zurückblicken bis in sein Kloster, ja noch in die Zeit vorher: in das Dämmerlicht seiner Jugendjahre, seine Studien und Zweifel, die Ängste, die den Jüngling vor dem Gericht, dem Zorn Gottes durchschauerten und ins Kloster trieben; in die Mühsal aller Bußübungen und Selbstentäußerung, der Qual mit den guten Werken, der vergeblichen Beichtnot — und wie er mitten in der Pein sich das Bewusstsein erringt, dass der allmächtige, unerforschliche fessellose Gott den Tod des Sünders nicht will, dass unmittelbar aus dem göttlichen Schöße das Erbarmen quelle, dass keine Kreatur ein solle zwischen der Seele und ihrem Schöpfer.

Von solchen Kämpfen gewahren wir in Hutten nichts. Ihm gilt es nur immer die Ehre des Vaterlandes. Als Patriot und im Namen der Aufklärung führt er den Kampf gegen Rom. Deutschland Roms Beute, darum los von Rom — das ist der Refrain aller seiner Epigramme und Dialoge, seiner Satire und seines Zorns. Hutten war eine unkirchliche, ja mehr, eine unreligiöse Natur, wie schlecht stehen ihm die theologischen Zitate und Bibelverse zu Gesicht, die er in der späteren Epoche unter Luthers Einfluss seinen Schriften beimischt! „Man glaubt“, bemerkt sein Biograph D. Fr. Strauß treffend, „stellenweise Hutten in Kutte und Kapuze sich vermummen zu sehen, den doch nur Harnisch und Lorbeer kleideten.“ Auch verkannte er anfangs Luthers Absichten und das Ziel der Bewegung durchaus. Er war am Hofe Kurfürst Albrechts und sonnte sich in seiner Gunst, als dieser Tetzel aussandte. Noch auf dem Reichstage in Augsburg 1518, wenige Wochen bevor Luther dort vor Cajetan trat, hielt er seinen Handel für ein Mönchsgezänk, über das sich jeder Verehrer der neuen Bildung freuen müsse: möchten sie sich doch, schrieb er damals, untereinander zugrunde richten!


Und doch hatte Luther längst mit Rom gebrochen. Und von Anfang an hatten die Gegner erkannt, dass hier der Feind, dass der Mönch ein Ketzer sei, weil er sich gegen Rom auflehne. Wider Willen war Luther dahin gekommen, den Zwiespalt als unversöhnlich zu erkennen. Und so, indem die Nebel sich allmählich um ihn lösten, trat er zurück auf sein Evangelium, wie es seit Erfurt in ihm lebte: kein Priester zwischen ihm und Gott: ganz persönlich sein Glaube: frei er selbst vor der Welt als Gottes Knecht und doch unterworfen den Ordnungen von dieser Welt; denn alles, was da lebt und webt, ist Gottes Kreatur; in ihm allein hat es die Kraft des Bestehens, in ihm aber auch das Recht dazu, den Frieden: jedermann, ob Priester, König, Bürger oder Bauer, ledig oder Ehemann: ein Amtmann an Gottes Statt, am Werk, das seine Schöpfung ist und darum vor ihm, in seinem Namen, auch gut, heilsam, edel, menschlich-würdig. Das in einer Summe die Lehre des Reformators: immer deutlicher ward sie ihm selbst, in immer neuer, strömender Gedankenfülle, unter stets wachsen dem Beifall der Freunde, stets lauterem Toben der Gegner gab er sie hinaus in die Welt.

Gewinnen wir den Eindruck des historischen Momentes, in dem es geschah.

Kaiser Max war ein siecher Mann, und schon begann der Streit um seine Erbschaft. Zwei Erben nur kamen in Frage: sein Enkel Karl von Spanien und Franz I. von Frankreich. Jener, der Herr jenseits der Pyrenäen und der Alpen, in Burgund und den Niederlanden, dieser sein Rival wie an allen Grenzen so nun auch in Deutschland selbst. Dem Kaiser war es letzter Lebenszweck, seinem Enkel und Erben Österreichs die Krone Karls des Großen zu verschaffen; für ihn sprach das Herkommen, das Blut, das in seinen Adern floss, die nationale Erregung gegen Frankreich und das mit ihm verbündete Rom. Die Humanisten, Hütten voran, forderten stürmisch den Habsburger. Das burgundische Geld, große Versprechungen halfen nach: ganz Deutschland geriet in fieberhafte Bewegung. So stand es schon zur Zeit des Augsburger Reichstags. Cajetan war nur deshalb nach Deutschland gekommen, um die deutschen Fürsten für Frankreich zu gewinnen. Da blieb auch Luther von der allgemeinen Stimmung nicht unberührt. „Wagt es“, schreibt er, „jener tölpelhafte Sophist Silvester (sein erster römischer Gegner) mich mit seinem Gewäsch noch einmal zu reizen, so will ich dem Geist und der Feder freie Bahn lassen und ihm beweisen, dass es in Deutschland Leute gibt, welche die römischen Kniffe kennen. Möge es nur bald geschehen. Denn zu lange schon äffen uns die Römer mit schamloser Stirn als ihre Hofnarren und Buffonen durch Schliche und Tücken ohne Maß und Ziel.“

Bald genug traten die Ereignisse ein, welche die mühsam zurückgehaltenen Stürme entfesseln mussten: der Tod Maximilians im Januar 1519 und der Wahlkampf, aus dem im Sommer sein Enkel als Kaiser hervorging.

Darin finden wir sofort auch Luther, und bald schlägt um ihn das ganze Gewoge zusammen. Auf den brausenden Fluten der nationalen Erregung wird er emporgetragen, aller Welt vor Augen, dem einen der fluchwürdigste Ketzer aller Jahrhunderte, dem andern der Prophet der Nation. Für ihn aber blieb es die Aufgabe, in dem Gebrause die Idee, in der er stand, mit aller Stärke festzuhalten, an ihrer Norm nun, wo alles krachte und barst, alle irdischen Aufgaben, die sich an ihn herandrängten, zu messen und sie, sei es zu erhalten, sei es abzustoßen oder umzugestalten. Im Sommer 1520 finden wir ihn auf der Höhe, damals, als er in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ darlegte, wie die deutsche Frage evangelisch zu lösen sei. Eine Kriegserklärung war es, wie Rom sie noch nie gehört hatte. Gegen alles, was seit Jahrhunderten gefestigt und geheiligt schien, erhob der gewaltige Mann seine Stimme: das gesamte geistliche Steuersystem, Ehegesetze und Zölibat, Indulte und Privilegien, Scholastik, geistliches Recht, hoher und niederer Unterricht — alles sollte hinweggeräumt oder von anderem Geiste belebt, auf neuem Boden hergestellt werden.

Dies der Moment, wo Hütten in Luthers Lager überging, wo Humanismus und Reformation sich trafen oder abstießen, wo die große Scheidung der Geister sich vollzog. Die Mehrzahl der Humanisten blieb zurück. Den Italienern war der neue Geist fast unverständlich; in England trat Thomas Morus für die alte Kirche ein; in Deutschland gerade die Aufgeklärten, die Spötter, wie Erasmus, Crotus Rubeanus, selbst Wilibald Pirckheimer. Hutten aber zauderte keinen Augenblick. Der Sturmatem der Zeit zog mehr als je durch seine Schriften. Den Kaiser und seinen Bruder Ferdinand rief er an; er schürte und warb für den Mönch; alles hielt er für gewonnen: die Freiheit sei gefesselt und verbannt gewesen, er führe sie zurück. Dass er so ohne Besinnen sich auf des Reformators Seite stellte, den Erzbischof verließ, mit dem Vater aufs neue brach und Unruhe, Armut und Kampf für sich wählte, das ist das Echte in seiner Natur.

      „Wiewol mein fromme mutter weynt,
      Do ich die sach hett gfangen an:
      Gott wöll’ sye trösten, es müsß gan,
      Und solt es brechen auch vorm end.
      Wils Gott, so mags nit werden gwend,
      Darumb wil brauchen füß und hend.
      Ich hab's gewagt!

Fragen wir aber nach seinem Programm, so gewahren wir überall nur das gestaltlose Sehnen nach Freiheit, die Satire und das revolutionäre Stürmen gegen die Kurtisanen und alle ihre Helfer. Und vergleichen wir damit Luthers Schriften, jenen Appell an den christlichen Adel der Nation, die umstürzenden Gedanken in der „Babylonischen Gefängnuß“ oder die hehren Töne in dem Traktat von der „Freiheit eines Christenmenschen“, so erkennen wir die elementare Gewalt und die positive Kraft der reformatorischen Idee im Gegensatz zu dem Humanismus selbst da, wo dieser sich in den Dienst der Reformation stellt.

Wunderbar ist der Kontrast zwischen der unbeugsam-starren Energie, mit der Luther das Prinzip behauptete, und der Gleichgültigkeit, ja der souveränen Unbekümmertheit, womit er alle Verfassungsformen, die kirchlichen so gut wie die staatlichen, ansah. Das alles war für ihn dem Wandel unterworfen; von Menschenhand für die Menschen und doch wieder Gottes Werk — wie die Erde selbst und alles, was sie trägt, aus seiner Hand hervorging und seinen Namen preisen soll, vor ihm also gut ist: ihm zu Ehren mögen die einen regieren, die anderen gehorchen und keiner den anderen verachten. Aber von Gottes Werk ist Gottes Wort, das wandellose, an Zeit und Stätte nicht gebundene, zu unterscheiden; von seinen Kreaturen der Schöpfer, dem jene nur die „Handröhren und Mittel“ sind, „dadurch er alles gibt; wie er der Mutter Brüste und Milch gibt dem Kinde zu reichen, Korn und allerlei Gewächs aus der Erde zur Nahrung“. Niemals hat Luther eine Theorie über die beste Verfassung von Staat und Kirche aufstellen wollen. Ganz patriarchalisch war noch seine Vorstellung vom römischen Reich; für Kaiser Karl bewahrte er allen Enttäuschungen zum Trotz eine herzliche Verehrung. Er wollte in jener Sturmschrift an den „christlichen Adel“ selbst zugeben, dass auch die kirchliche Verfassung bleiben möge, mit Bischöfen und Kapiteln und dem Papste selbst, als die über die Nation hinwegreichende Weltordnung — wenn nur eben Papst und Bischöfe evangelisch werden wollten.

Wie aber wäre eine so blitzschnelle Wirkung möglich gewesen! Wo waren die Formen in Staat und Kirche, die das Neue aufnehmen, schützen, ausbilden konnten? Der Vertreter spanischer, burgundischer, österreichischer, italienischer Interessen, der war jetzt Deutschlands Herr und Meister. Bald genug, und früher als jeder andere, schon auf der Wartburg, bemerkte Luther, dass der Zusammenbruch unvermeidlich, eine fürchterliche „Tragödie des Satans“ im Anzüge sei, und dass auf ihn dann aller Hass der Machthaber wie der enttäuschten Menge fallen werde. Großartig wie sein Prophetenblick ist seine Haltung dagegen. Seine Waffe nur das Gebet: Gott möge Gnade üben, das Furchtbare nicht zulassen, aber ein Zurückweichen kennt er so wenig wie früher: „Es geschehe“, spricht er, „es geschehe der Wille des Herrn!“

Der Zerfall der deutschen Kirche war das nächste. Es geschah unter lautestem Beifall. Jubelnd begrüßte von Nürnberg her Hans Sachs die „Wittenberger Nachtigall“, die den jungen Tag nach langer Winternacht heraufführe. Albrecht Dürer verkörperte in seinen Aposteln den Tiefsinn, die Treue, die jugendliche Hingebung und die männliche Kraft des neuen Glaubens. Luther selbst mochte einen Moment wähnen, dass die Erschütterung, wenn Gott „das Rädlein treibe“, vorübergehen und sein Glaube friedlich einwurzeln werde.

Aber sein Beten wollte nichts nützen. Dem Sturz der Kirche drohte die Zertrümmerung der Gesellschaft zu folgen. Zuerst die ritterliche Erhebung. Franz von Sickingen, das ist kein Zweifel, bestimmten vor allem Unzufriedenheit, Begehrlichkeit, Rachsucht und Ehrgeiz. So fand die allgemeine Gärung des deutschen Adels in ihm den bereiten Führer; und damit verbanden sich dann übelverstandene evangelische Gedanken und der allgemeine Unwille der unteren Schichten gegen Kirche und Fürsten. Von vornherein war die Bewegung unklar und ziellos. Hutten warf sich mit stürmischer Leidenschaft hinein. Aber bevor noch der Schlag gegen Sickingen gefallen war, musste er aus der Heimat weichen und ging ins Elend und in den Tod.

Dann aber kam erst das Ungewitter der Tiefe, der große Bauernkrieg von 1525, die höchste Gefahr, die Luthers Ideen zu bestehen hatten — sie wären vernichtet worden, hätte er nachgegeben, wäre er in die Bahnen Karlstadts und Münzers geraten.

Die bestehenden Gewalten siegten. Nicht der Kaiser, sondern, wie sonst, die Stände. Seite an Seite kämpften Altgläubige und Evangelische; erst infolge der Revolution traten sie auseinander. Jeder sah oder glaubte sich vor die Existenzfrage gestellt. Die einen konnten sich nur mit, die anderen, wie sie meinten, nur gegen das „Evangelium“ erhalten. Die alte Kirche selbst suchte Schutz vor den feindseligen Strömungen durch Anschluss an die politischen Gewalten, gab einen Teil ihrer Macht auf und rettete den Rest. Seitdem gab es in Deutschland zwei geschlossene konfessionelle Parteien unter den Ständen, in der offiziellen Vertretung des Reichs. Und so blieb es fortan: der religiöse Gegensatz wurde, je weiter er um sich griff, um so mehr territorial: alle religiösen Kämpfe wurden Machtfragen der ständischen Politik. Und da der große Kampf keine Einheit des Reiches durch Unterdrückung der einen Partei brachte, war das Ende der Westfälische Friede, d. h. eben das Eingeständnis, dass eine nationale Lösung unmöglich sei.

Heute stehen wir am Ziel, das freilich im Sinne des sechzehnten Jahrhunderts auch noch keines ist. Weder Luthers noch Huttens Ideale sind erreicht worden. Immerhin aber, der Staat, der auf Luthers Religion und Staatsbegriffen ruht, hat sich entwickelt zum neuen Reich. Er zwingt unter seine Gewalt, wer ihm immer angehört, welches Bekenntnis sonst auch trennen oder hemmen mag. Doch zwingt er nicht bloß zum Gehorsam, zur Hingebung an seine Zwecke, sondern er findet auch in Millionen deutscher Herzen ohne Unterschied die Hingebung, den Glauben an ihn, die Freude an seiner Größe, die Treue bis in den Tod. Der Glaube Huttens an das Vaterland, mit dem er jammervollen Schiffbruch litt, würde heute triumphieren, und so würde auch er gewiss jubeln wie damals, da er den Kaiser Max anrief, da er sein Jahrhundert pries, in dem es eine Lust sei zu leben.