Fortsetzung

Wer aber über den Parteien stehen wollte, geriet nach allen Seiten in Konflikte und vereinsamte völlig. Keiner hat das mehr erfahren als Sebastian Franck von Donauwörth. Merkwürdig genug, dass sich doch ein Standpunkt herausbilden konnte in dem Zerfall der alten Ordnungen, in dem Getriebe der um den Preis ringenden Parteien, von wo jemand mit einer gewissen Unparteilichkeit auf die durcheinander wirbelnden Strömungen hinblicken konnte. Nur in der Unruhe Oberdeutschlands, wo die politische und kirchliche Zersplitterung am größten war, wo die Altgläubigen in den Bistümern und österreichischen Vorlanden, die Evangelischen in den vielen Reichsstädten die Vorhand hatten, die Radikalen durch städtische Wirrsale und die blutige Niederlage der Bauern besonderen Zulauf fanden, war es möglich. Zu ihnen allen hatte Franck, halb oder zeitweise ihr Anhänger, Beziehungen, kannte sie alle, studierte sie eifrig, wusste sie unübertrefflich zu schildern: kein Zunftgelehrter, jedoch den gelehrten Kreisen nahe stehend, kein Wiedertäufer, doch nicht ohne Sympathie für sie, kein Katholik mehr, aber auch mit dem evangelischen Magistrat, bei dem er Dienste genommen, zerfallen. So hoffte er, von seiner fränkischen Pfarre vertrieben, als Buchdrucker und freier Literat in Straßburg eine Zuflucht zu finden. Hier kam die ihm eigentümliche Richtung zum Durchbruch, in Berührung mit den täuferischen Kreisen. Hier gewann er die Möglichkeit, die Geschichtsbibel zu drucken, worin er mit theosophischem Tiefsinn die Rätsel der Menschheitsentwicklung zu lösen glaubte. Und hier geriet er in den neuen Kampf mit der offiziellen Kirche, der ihn in die Verbannung und die Einsamkeit hinauswarf.

Führer seiner neuen Widersacher war kein Geringerer als Martin Bucer, der Gründer der evangelischen Kirche in Straßburg selbst. Unduldsam und mit dem vollen Nachdruck der politischen Macht, die ihm Jakob Sturm und seine Freunde zur Verfügung stellten, wandte sich dieser gegen den einflusslosen Fremdling, der nichts verlangte als seine Bücher in Ruhe schreiben zu können. Heute (denn noch leben wir unter dem Zeichen der Toleranz) stehen wir wohl dem geistvollen Schwaben sympathischer gegenüber als der Verfolgungssucht der Prädikanten, die soeben noch im Namen der Gewissensfreiheit gegen die römischen Seelmörder aufgestanden waren; und wir würden es mit Recht borniert finden, wenn unsere Regierungen aus Angst vor dem Umsturz die Kritik an den überlieferten Vorstellungen, auch wo sie zu den Waffen des Zornes und sittlicher Leidenschaft greift, nicht ertragen könnte. Hüten wir uns jedoch, vor allzu großer Objektivität ungerecht zu werden gegen die Männer, denen wir die Einwurzlung der evangelischen Religion in der Nation und dem alten Reiche verdanken. Als Sebastian Franck nach Straßburg kam, hatte man hier erst kürzlich, nicht ohne den Druck der bürgerlich-zünftischen Klassen auf den Magistrat, die Messe abgeschafft und die neue Kirche ins Leben geführt. Noch bebte der Boden. Von allen Seiten zogen gerade nach Straßburg die Täufer hin, um ihre auf den Umsturz oder wenigstens die Verleugnung der politischen Gewalt gerichteten Ideen auszubreiten. Keine Regierung würde heutzutage die staatsfeindlichen Gedanken selbst so gemäßigter Männer wie Johann Denk und Michael Sattler dulden, sobald sie sich in Taten umsetzen wollten; auf die Bildung einer Partei, die Gewinnung der Massen, die Überwältigung der bestehenden Gewalten gingen aber alle diese Hitzköpfe aus, auch wo sie es nicht gestehen wollten. Und keineswegs begnügten sich die Prediger damit, den Arm der Obrigkeit anzurufen: auf der Kanzel und in der Ratsstube, in Briefen und Flugschriften trat Bucer diesen Gegnern geradeso wie den Pfaffen unter die Augen; niemand wusste ihnen im Gespräch besser zu begegnen, tiefer ihre Lehrsätze zu erfassen und ihre Bibelargumente mit gleicher Dialektik aus der Fülle der Schriftkenntnis aufzulösen. Wie häufig ist dem Unermüdlichen der schöne Sieg gelungen, die ungelehrten, jedoch oft so gutherzigen und nur in ihrem Gewissen verwirrten Leute oder gar einen der Führer selbst zu gewinnen und in ehrliche Verteidiger seines Bekenntnisses umzuwandeln! Wer von uns Gebildeten wagt es heute überhaupt, mit dem gleichen Mut und solcher Überzeugungstreue den Radikalen unserer Tage, ich will nicht sagen in der Presse oder der eigenen Partei, aber offen in der Volksversammlung Rede zu stehen! Sind wir es nicht vielmehr, die immer nur auf die Obrigkeit hinsehen und von ihr hoffen, dass sie die Bewegungen der Tiefe in Ruhe erhalten werde ? Während aber im Innern der Straßburger Kommune die neue Kirche kaum unter Dach gebracht war, Prediger und Lehrer fehlten, Bischof und Kapitel in und außer den Mauern mächtig waren, Widerwille oder Gleichgültigkeit Regierende und Volk spalteten, war der Horizont der großen Politik von den schwersten Wolken verdunkelt. Kaiser und Reich hatten sich eben in Augsburg gegen die neue Kirche erklärt; mit knapper Not und nicht ohne diplomatische Schmiegsamkeit war es Bucer gelungen, die Hartnäckigkeit der Wittenberger zu besiegen und sie zur Duldung wenigstens des politischen Bündnisses zu vermögen. Aber erst wenige Fürsten Norddeutschlands und ein paar Städte hatten sich zusammengefunden; in jedem Moment musste man fürchten, von der Übermacht der Katholischen im Reiche unter Führung von Kaiser und Papst überwältigt zu werden.


Dass Bucers Streit mit Franck nicht die Unterdrückung der wissenschaftlichen und insbesondere der historischen Arbeit bedeutete, bewies er noch in demselben Jahr, als er Aventin nach Straßburg einlud, um hier seine deutsche Geschichte zu vollenden. Und es braucht keiner Worte, dass Straßburg damit einen würdigen Ersatz für die Geschichtsbibel Francks gewonnen hätte, dessen rasch zusammengeraffte Berichte und unbekümmertes Aburteilen sich weder der Gründlichkeit noch dem Feuer der Darstellung und kaum dem sittlichen Ernste Aventins vergleichen lassen. Hier fand sich Bucer aufs neue mit dem alten Freunde Beatus Rhenanus zusammen. Sie beide und Jakob Sturm sind es gewesen, welche die Berufung des deutschen Herodot an ihre Schule betrieben haben; als ein vaterländisches Interesse bezeichnet es Bucer in einem Brief an Beatus, dass Aventin das große Werk in Straßburg ausführen könne; und noch heute müssen wir es tief beklagen, dass der Ruf vergeblich gewesen, und dass es Aventin nicht mehr vergönnt gewesen ist, seine evangelische Überzeugung in einem gesinnungsverwandten Kreise frei zu bekennen.

Bucer selbst hat an mehr als einer Stelle seiner Briefe und Schriften einer scharf ausgeprägten Geschichtsauffassung Worte geliehen. Aber auch damit war er, wie in allem seinem Tun, immer auf die Gegenwart gerichtet, auf die evangelische Reform der Reichsverfassung: das Ziel, dem er nachlebte, seitdem Luthers Feuergeist den jungen Dominikaner auf der Disputation zu Heidelberg überwältigt hatte, bis zu der Stunde, wo er, fast am Ende seiner Tage, das Vaterland dahinten ließ, um seinem Gotte treu zu bleiben. Ich kenne keine historisch-politische Deklamation eines Zeitgenossen von größerem Wert als den Brief Bucers an Bullinger aus dem Dezember 1543, von dem er selbst gesagt hat, dass er die Summe seiner politischen Auffassung enthalte*). Auf wenigen Seiten charakterisiert er hier die großen Persönlichkeiten der Zeit, an der Spitze Martin Luther selbst, dann den Kaiser, seine Minister und seinen Bruder, die Kurfürsten und andere Stände, König Franz und die Gesamtheit der europäischen Politik, so gerecht und mit solcher Feinheit der Zeichnung, dass noch heute jedes Wort gelten kann, und zugleich mit einer patriotischen Wärme und einer Kraft und Klarheit der Sprache, dass man an klassische Muster, ich möchte sagen an Tacitus selbst erinnert wird.

*) Gedruckt in seinem Briefwechsel mit Landgraf Philipp dem Großmütigen, II, 225 ff.

Diese Denkschrift des Straßburger Reformators macht uns erst die Gesinnung und den Eifer recht verständlich, mit dem er sich kurz darauf bei seinem fürstlichen Freunde, dem Landgrafen von Hessen, für die Gewinnung Sleidans zum Historiker der Reformation verwandt und damit ein Verdienst erworben hat, das ihm in der Geschichte der deutschen Historiographie für immer die ehrenvollste Stelle sichert.

Auch Sleidan ward zum Geschichtsschreiber ausschließlich im Hinblick auf den Kampf der Gegenwart: er bezeichnet sich selbst einmal als von Gott dazu berufen. Wie wäre das anders möglich gewesen bei einem Manne, der, wie er, seitdem er herangereift war, mit Wort und Feder, daheim und in der Fremde für die Partei des Evangeliums eingetreten war. Auch er stammte aus der deutschen Westmark, fast von der französischen Grenze her; zweisprachig von Jugend auf, in katholischer Umgebung zu Löwen und Köln gebildet, darauf jahrelang zu Paris und Orleans im Dienst der französischen Diplomatie, atmete seine Seele dennoch nichts als protestantischen Eifer und die lebendigste Liebe zur Heimat. Seitdem Hermann Baumgarten, dessen allzu frühen Heimgang unser Verein aufs schmerzlichste beklagt, die Korrespondenz Sleidans, soviel oder sowenig davon übrigblieb, sammelte und herausgab, haben wir erst den rechten Einblick gewonnen in die weitreichenden Verbindungen, die ihn mit allen europäischen Größen der Partei verknüpften, in die Einheit und Festigkeit seiner Überzeugungen und in die Deutschheit seiner Gesinnungen, die sich nirgends schöner hervortut als in dem mannhaften, wohlgebildeten Deutsch seiner Briefe vom Trientiner Konzil.

Als er das Buch begann, konnte man noch hoffen, dass die evangelische Partei, deren Gefährdung freilich niemand klarer sah als er und seine Straßburger Freunde, siegen würde: in zwei bis drei Jahren hoffte Sleidan fertig zu werden, und schon auf dem Reichstage zu Worms 1545 präsentierte er seinen hohen Auftraggebern den Abschnitt über die ersten Jahre Luthers. Die Katastrophe des Bundes unterbrach die Arbeit; und erst nach dem Siege Moritz' und seiner Alliierten nahm er sie, nach der Vollendung begierig, wieder auf. Im Herbst 1554 war das Buch fertig, 1556 ward es ausgegeben. Der Erfolg war unermesslich. In eine Reihe von Sprachen ward es übersetzt, auch sogleich ins Deutsche, zu Sleidans großem Kummer nicht von ihm selbst, sondern von einem literarischen Freibeuter in Basel. Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist es neu aufgelegt und bearbeitet worden. So lange hat es die Literatur beherrscht. Als moderner Klassiker ward der Verfasser gefeiert; man stellte ihn neben die großen Historiker des Altertums. Er wurde nachgeahmt, fortgesetzt, angegriffen, erhielt Gegenschriften und hat alle in den Schatten gestellt; auch gegen die neuesten Angriffe hat er Verteidiger gefunden und sich siegreich behauptet.

Der Grund liegt neben der klaren lateinischen Sprache und der archivalischen Grundlage (dem Straßburger Archiv sind die Akten entnommen, und Jakob Sturm selbst — noch tragen sie seine Signatur — hat sie dem Freunde übergeben) vornehmlich doch in der universal-politischen Auffassung. „Kommentarien über die Lage der Religion und des öffentlichen Wesens unter dem Kaiser Karl V. „ nannte Sleidan sein Buch. Nur von einer Res publica weiß er, der allgemeinen der Christenheit unter der Vorherrschaft des Kaisers. Es ist noch ganz die Vorstellung der hierarchischen Jahrhunderte von den vier Monarchien als den Weltzeitaltern gemäß der Prophezeiung Danielis. Sleidan selbst hatte eine Universalgeschichte unter diesem Titel und Einteilungsmodus geschrieben, die, wie seine Kommentarien, ihre Herrschaft bis ins 18. Jahrhundert behauptet hat und in 70 Auflagen verbreitet gewesen ist; noch Friedrich Wilhelm I. von Preußen hat die Weltgeschichte daraus gelernt. Der evangelische Glaube, der doch im Prinzip die mit der römischen Hierarchie verknüpfte Idee des universalen Kaisertums aufhob und auf die nationale Gestaltung der Monarchie hindrängte, war nicht imstande, jene historisch-politische Phantasie zu zerstören. Über englische, spanische, italienische und französische Verhältnisse werden wir in den Kommentarien gerade so gut unterrichtet wie über deutsche. Wenn diese doch im Vordergrunde des Interesses bleiben, so kommt es daher, weil unsere Nation in der Tat noch im Mittelpunkt der Ereignisse stand und der große Kampf hier sein Hauptschlachtfeld hatte.

Die Forderung der nationalen Monarchie als die Konsequenz des Evangeliums, die mehr oder weniger im Bewusstsein aller Führer der Partei lag, konnte gewiss niemand schärfer formulieren als Martin Bucer, er, der in jenem Brief an Bullinger schreibt: „Imperator posset multum, si vellet Germaniae imperator esse et Christi servus.“ Aber frei von der alten Vorstellung war doch auch er nicht. Nur dass die Idee der respublica christiana bei ihm und seinen Parteigenossen im Sinne ihres Glaubens umgebildet war. Der Kampf, in dem sie lebten, war für sie alle, ganz wie Luther ihn geschaut und in dem großen Schlachtliede des Protestantismus aufgefasst hatte, der an nationale und politische Grenzen nicht gebundene Streit zwischen Christus und dem Antichrist in Rom. Und während die Christenheit durch ihn gespalten war, drohte von Osten her, wie seit Jahrhunderten, die Macht der Ungläubigen, der „Geisel Gottes, des Türken wider das gottlose Wesen in Deutschland, vornehmlich wider die falsche Religion“. So Bucer in einem Brief an den Landgrafen. Von diesem Gesichtspunkt aus beurteilte er (auch darin nur die Allgemeinauffassung wiedergebend) die Kreuzzüge: als ein Verbrechen des römischen Antichrist, der Deutschland und Frankreich dadurch verwüstet, Kaiser und Könige und unzählige Helden zugrunde gerichtet, die Staaten daheim ausgemergelt und damit seine Gewalt erhöht habe; die eroberten Länder aber habe man schließlich doch dem Mahomet mit Spott müssen lassen. „Wer von dem Türken und dem Papst“, schreibt Sleidan seinem Jakob Sturm, „nicht das Schlechteste denkt und erwartet, dem fehlt es an jeder gesunden Auffassung.“

Es war das Gegenbild zu der römischen Anschauung von der Führung der christlichen Welt durch den Nachfolger Christi gegen Ungläubige und Ketzer und also den Weltverhältnissen nur zu sehr entsprechend. Nirgends aber konnte man sich der Internationalität dieses Kampfes klarer bewusst werden als eben in dieser Grenzstadt, wo sich der französische und deutsche Protestantismus die Hände reichten, und wo alle protestantischen Emigranten, von Polen bis Spanien hin, zusammenkamen.

Gewiss liegt in dieser Geschichtsauffassung nicht die volle Wahrheit. Uns ist es gegeben, die Zeiten noch besser zu unterscheiden. Wir würdigen heute die historische Größe auch der katholischen Weltanschauung; wir begreifen die Notwendigkeit des mittelalterlichen Papsttums und preisen die Segensströme, die von der durch Rom erhaltenen christlichen und antiken Kultur zu den nordischen Barbaren hinüberfluteten. Auch erkennen wir die Engigkeit und Unvollkommenheiten der politischen, wissenschaftlichen, ja selbst der sittlichen und religiösen Ideen der ersten protestantischen Zeiten an. Und wir lassen uns nicht hindern, die Schlacken in der Bewegung von dem Golde, das sie mit sich führte, zu sondern, auf die Gefahr hin, dass die ultramontanen Widersacher unsere Ergebnisse zu dem schlechten Geschäft benutzen, das Andenken unserer Helden zu besudeln. Ja wir gönnen es ihnen, wenn sie sich damit vergnügen, die „Virtuosen des Verbrechens“, die damals am Tiber sich als die von Gott eingesetzten Träger seiner sittlichen Weltordnung betrachteten, nach Kräften weiß zu waschen. Denn wir erfahren es in unsern Studien täglich, dass der Kern unseres Glaubens und seiner Reformatoren um so heller blinkt, je gewissenhafter wir ihn von allen Schatten reinigen. Und wir wissen, dass wir damit nur im Sinne dieser Heroen des Geistes handeln, dass ehrliche Forschung eine Forderung der protestantischen Geistesfreiheit und ein rechter Gottesdienst ist. Wir wollen, um mit Sleidan zu sprechen, „ohn Ruhm zu reden, lieber unter dem Grunde liegen, dann wissentlich etwas Unerfindliches reden, viel weniger ausschreiben.“ Denn wir sind des Glaubens, dass nur aus dem Löwenmute der Wahrhaftigkeit die Wahrheit, der wir nachtrachten, geboren wird.