Kleine Historische Schriften - Band I. - 05 Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß zur Zeit der Reformation.

Vom Werden der Nationen
Autor: Lenz, Max (*1850 in Greifswald-†1932 in Berlin) Historiker, Professor, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Erscheinungsjahr: 1895
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Elsaß, Straßburg, Mittelalter, Reformation, Reformationszeit, Heimat, Nationalität, Glauben, Religion, Politik, Kirchen, Emigranten, Prediger, deutsche Geschichte, Humanismus, Humanosten, Klostergeschichten, Hutten, Wimpheling von Schlettstadt, Vaterland, Freigeister, Glaubenssturm, Kirchenhistoriker,
Inhaltsverzeichnis
  1. Fortsetzung
Nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben des Elsaß und seiner hochberühmten Hauptstadt sind die Jahre der Reformation, nur ein enger Kreis aus der Gestaltenfülle, die alle Jahrhunderte ihrer Geschichte beleben, die Männer, welche Straßburg für eine Zeit zum Mittelpunkt des europäischen Protestantismus erhoben haben: in den Mauern dieser Stadt umschweben uns die Schatten Meister Erwins, Johann Gutenbergs und des jungen Goethe; mehr als ein Jahrtausend deutscher Geschichte ist mit ihr und ihrem Lande verwachsen; auch unter der Fremdherrschaft fanden sich im Elsaß immer noch Männer, die eine innige Liebe zur Heimat mit treuer Anhänglichkeit an deutsche Bildung und deutschen Glauben vereinten. Freilich aber hat der Strom deutschen Lebens zwischen Rhein und Vogesen niemals voller geflutet als in den Jahren, da Straßburg für ganz Oberdeutschland das Bollwerk und der Pflanzgarten des Evangeliums war und eine neue „Herberge der Gerechtigkeit“ für die Verbannten aller Nationen, die dem deutschen Glauben, von seiner Kraft getroffen, Vaterland und Familie und alles, was sie an die Heimat band, willig geopfert hatten.

Es war die Zeit, da vor dem als wahr erkannten Glauben alle Unterschiede der Nationalität und Politik zurückwichen und nur nach dem Maße Geltung behielten, als sie dem religiösen Gemeingefühl entsprachen; und nirgends ist die allbesiegende Kraft des Bekenntnisses stärker empfunden und bezeugt worden als in Straßburg; wie von jenen Emigranten, so auch von den einheimischen Predigern und Professoren, die ihren fremden Freunden an den Kirchen und Schulen ihrer Stadt eine neue Heimat und Wirksamkeit bereiteten. Dennoch aber, wer will es leugnen, dass diesen Söhnen des Elsaß ein starkes Empfinden für den Ruhm des großen Vaterlandes wie für die engere Heimat eigen war! Ja mehr als das, auf diesem Grunde waren sie aufgewachsen; es war das lebendigste Element in ihrer Bildung. Sie alle waren Humanisten, Schüler Wimphelings und seiner Freunde, groß geworden in der Bewunderung deutscher Tugenden, genährt an den Idealen einer Vergangenheit, die sie auch dann noch, als alle religiösen Werte umgeschmolzen wurden, hochhielten und verfochten. In dieser Verbindung vaterländischen Hochgefühls und einer Religiosität, welche über alle nationale Beschränktheit hinausreichte, liegt recht eigentlich der Charakter der deutschen Reformation und also die Bedeutung der Männer, die im Elsaß ihre Vorkämpfer waren. Sei es mir darum vergönnt, solche Doppelseitigkeit ihres Wesens an einem Zweige ihres Wirkens, in ihrer Stellung zur Historie, darzulegen.

Ich nannte den frommen und gelehrten Mann, den wir als den Patriarchen des elsässischen Humanismus verehren: Jakob Wimpheling von Schlettstadt, den Stadtgenossen des Beatus Rhenanus und Martin Bucers, den Lehrer und väterlichen Freund Jakob Sturms. Ihm gebührt der Ruhm, als erster eine deutsche Geschichte geschrieben zu haben. Was dies bedeutete, lehrt ein Blick auf die frühere Historie, wie sie im Elsaß und in Straßburg und so überall im Reiche gepflegt worden war: Denkwürdigkeiten einer Stadt oder einer Landschaft, Klostergeschichten oder annalistische Weltchroniken waren genug geschrieben worden; aber noch niemals war der Versuch gemacht, die Geschichte des gesamten Volkes und lediglich unter dem Gesichtspunkt der Nationalität zu schildern. Auch Wimpheling bewahrt ein starkes Gefühl für seine engere Heimat; aber ihren größten Ruhm erblickt er in ihrem deutschen Charakter, in der Zusammengehörigkeit mit dem großen Vaterlande. Auch er ist erfüllt von der universalen Stellung des Kaisertums; aber in erster Linie sieht er in den Kaisern doch immer die deutschen Fürsten, vor allem in Kaiser Max, den er als den Helden Deutschlands und als seinen Rächer gegen die Welschen preist. Er ist nicht der Entdecker dieser Idee gewesen, wie denn überhaupt wenig Besonderes an ihm wahrzunehmen ist; plötzlich und allseitig taucht sie auf. Er ist nur eine Stimme in dem starken Chor gleichgesinnter Genossen, die, aus allen Ständen und Landschaften Deutschlands gemischt, sich auf dem Boden einer neuen Bildung zusammenfanden und in einer glänzend ausgemalten Vergangenheit das politische Ideal zu entdecken glaubten, das in der Zerrissenheit der Gegenwart verloren war.

Auf dieser Stufe der Entwicklung wurde der deutsche Humanismus von dem Stoße der Reformation getroffen, und sah sich ein jeder der Poeten vor die Frage gedrängt, ob er Ernst machen wolle mit der Lobpreisung der Monarchie und den Verdammungsurteilen über Papst und Klerisei. So kam es zu der großen Scheidung der Geister. Erschreckt vor der wachsenden Verwirrung und dem Zusammenbruch der alten Religion, von der er trotz oppositioneller Regungen sich tief durchdrungen fühlte, zog sich der alte Wimpheling in die Einsamkeit zurück und sank gramerfüllt in das Grab. Wie er waren auch Jüngere gesinnt, sein Lieblingsschüler Beatus Rhenanus, sein Neffe Jakob Spiegel, der kaiserliche Sekretär, und andere Freunde; die heimischen Beziehungen zu den habsburgischen Herren haben offenbar auf ihr Verhalten zurückgewirkt, wie sie schon Wimphelings Stellung zu Maximilian beeinflusst hatten. Denn es ist nicht wahr, dass diese Trennung, wie man so oft liest, die der älteren und der jüngeren Generation gewesen sei; gerade unter den Jüngeren finden wir ebenso hitzige Gegner wie Verteidiger der neuen Lehre, und manch älterer Humanist steht an Freiheit, ja Zügellosigkeit der Gesinnung auch dem Jüngsten nicht nach; je nach Charakter, Temperament und lokalen Einflüssen verschob sich ihre Stellung zu den Parteien in Kirche und Staat. Auch kann ich mich nicht entschließen, rückhaltlos in die gewohnten Vorwürfe einzustimmen, dass es mit dem echten Humanismus fortan zu Ende gewesen sei. Von italienischer Freigeisterei und Schönheitsdurst war in den deutschen Humanisten niemals viel zu spüren gewesen. Sie waren von jeher in erster Linie Pädagogen und hatten fast alle etwas Schulmeisterlich-Philiströses an sich. Freilich ist durch den Glaubenssturm manche Blüte geknickt worden, und von dem vagantenhaften Hauch, der uns aus Celtes' und Huttens Dichtungen anweht, war nicht mehr viel die Rede; doch dichtete und trank Eobanus wenigstens auch noch als Professor in Marburg. Jedermann kennt die Klagen, die von den deutschen Reformatoren, Luther und Melanchthon voran, über den Verfall der Schulen und der alten Zucht erhoben worden sind. Aber um hier von anderen Beziehungen zu schweigen und nur von der Historie zu reden, die allein zu meinem Thema gehört, so kann man da gewiss nicht von Stillstand und Verkümmerung reden. Vielmehr treffen wir auf ihrem Felde das reichste Leben, eine durch den Anteil an der Gegenwart nur gesteigerte Auffassung der Vergangenheit. Welch ein Unterschied zwischen Wimphelings gut gemeinten, jedoch recht trockenen Diatriben in der Germania und Aventins stürmischer Beredsamkeit in seiner Schilderung etwa des Kampfes Kaiser Heinrichs IV. mit Gregor VH., welche Klarheit und Kraft der Charakteristik in dessen Darstellung der türkischen Macht, und welch ein Ernst und Eifer in seinen wissenschaftlichen Grundsätzen und allen seinen Arbeiten! Auch vergessen wir nicht, dass die Humanisten, die der Lutherei feind wurden, ein Pirckheimer, Beatus, Cuspinian, nicht nur tätig blieben, sondern erst jetzt mit ihren wertvollsten historischen Arbeiten zutage getreten sind. So Cuspinian mit seiner Kaisergeschichte, die in Straßburg eine deutsche Übersetzung fand; ein Amtsbruder Martin Bucers, der wackere Kaspar Hedio, der selbst als erster protestantischer Kirchenhistoriker bezeichnet werden kann, hat 1541 dies Werk vollendet, zu dem Melanchthon eine Vorrede schrieb. Erst am Ende seines Lebens entschloss sich Pirckheimer zu seiner Germania. Und recht in den Jahren des Kampfes, vielleicht durch den Anblick des Bauernkrieges mit veranlasst, machte sich Beatus Rhenanus daran, mit dem kritischen Sinn, der ihn auszeichnete, die Nachrichten über die Ansiedelung und Wanderungen der germanischen Stämme und ihr Einleben auf dem deutschen Boden in der älteren Kaiserzeit zu sammeln. Sein Vorbild dabei war Aventin, der ihn durch eine Schilderung seiner Arbeitsweise und Grundsätze direkt angetrieben hat, gleich ihm die Bibliotheken und die Topographie des deutschen Landes zu durchforschen. Der Zuspruch der gelehrten Freunde, mit denen Beatus auf dem Reichstage in Augsburg zusammentraf, darunter Peutinger und Bucer, vielleicht auch Aventin selbst, hat ihn veranlasst, das epochemachende Werk rasch zu vollenden; bereits 1531 ist es erschienen.

Mochten nun aber auch diese Gelehrten ihren Unmut über die neuen Pfaffen und den Niedergang der Bildung unter sich äußern, so warf sich doch keiner von ihnen zum Verteidiger des römischen Systems auf, weder Wimpheling noch Rhenanus, weder Pirckheimer noch Peutinger noch Cuspinian. Nur widerwillig, mehr um sich selbst gegen die wachsenden Vorwürfe zu decken, als aus eigener Überzeugung wagte Erasmus einen Waffengang mit dem Reformator; und auf armselige Klopffechter und Streber wie Cochläus und Johann Faber sah sich Rom unter den Humanisten in Deutschland angewiesen. Die Ohnmacht der alten Weltanschauung wird fast am deutlichsten in diesem völligen Versagen ihrer literarischen Waffen. So wie die alte Kirche auch dort, wo niemand ihr zu Leibe ging, wo ihr vielmehr, wie in Bayern und Österreich, die Staatsgewalt mit brutalen Mandaten gegen die Ketzer zu Hilfe kam, vermorscht in sich zusammenbrach, kam es auch zur Massendesertion unter den Gelehrten in Schulen und Klöstern. Ein Zustand, der weit über die Reformation hinaus gedauert hat; erst in der dritten Generation, lange nachdem die protestantische Zucht ein Geschlecht hartköpfiger Pastoren und Schulmeister herangebildet hatte, fanden sich auf der römischen Seite auch unter den Deutschen in größerer Anzahl Talente, welche den italienischen und spanischen Mönchen und Professoren mit Eifer und — wir spüren es noch heute — mit Erfolg zur Seite traten.

Aber auch die Ohnmacht einer Historie, die mit dem Papst in Frieden bleiben wollte, musste sich jetzt herausstellen, und nur immer mehr, je heftiger die Geister in dem religiösen Kampfe aufeinander trafen. Sie musste ja überall da den Blick verschließen, wo Rom einen Nebel um seine Vergangenheit gezogen und ein Interesse daran hatte, ihn nicht zerreißen zu lassen. Denn die Weltanschauung der Hierarchie forderte eine ihr analoge Auffassung der Vergangenheit, durch die ihre Herrschaftsrechte in Gegenwart und Zukunft unterbaut und gerechtfertigt wurden; jeder staatsrechtliche Anspruch, jeder Satz ihrer Dogmen hatte sein Gegenbild in der Vergangenheit, das als Faktum und Fundament des Glaubens und Gehorsams galt und keine Anzweifelung duldete. Wenn also am Altar auf Geheiß des Priesters Brot und Wein vor den Augen der gläubigen Menge sich in den Leib und das Blut des Herrn wandelte, so durfte kein Zweifel obwalten, dass dies in allen Jahrhunderten so gewesen sei. Wenn auf allen Kathedern gelehrt und in tausend Darstellungen der heiligen und profanen Geschichte wiederholt wurde, dass Christus der erste Papst gewesen, dass er Petrus als Nachfolger eingesetzt, dass dieser von Rom her die Kirche regiert habe, dass Konstantin den Päpsten die halbe Welt geschenkt, dass ein Papst die Kaiserkrone von Byzanz auf den fränkischen König übertragen, dass ein anderer das Kollegium der Kurfürsten gestiftet habe, dass das moderne Rom zu seiner geistlichen Macht noch die Vollgewalt über alle Reiche der Welt besitze, so lagen dem allem Nachrichten und Dekrete zugrunde, deren historische Echtheit ebensowenig bezweifelt werden durfte wie ihre dogmatische Gültigkeit. Den universalen Ansprüchen Roms entsprach eine universalhistorische Auffassung; so wie Kirche und Staat, Gott und Welt, Himmel und Erde in diesem System durcheinander verschlungen waren, waren auch die Jahrhunderte, Gegenwart und Vergangenheit ineinander verwirrt.

Man mag fragen, ob es nicht möglich gewesen wäre, auf dem Wege vorurteilsloser Forschung, der geistigen Freiheit, die sich unter dem erschlafften Kirchenregiment der letzten Generationen herausgebildet hatte, allmählich die Scheidung herbeizuführen und eine vernünftige Klarheit an Stelle dieser Phantasien zu setzen. Jedenfalls aber doch nur dann, wenn die Kritiker in diesem Geschäft ungestört geblieben wären. Sobald die Kirche, welche alle Fakultäten gegründet hatte und beherrschte und ebenso den Schlüssel zum Wissen wie zum Glauben beanspruchte, nicht wollte, kam man mit dem bloßen Besserwissen nicht aus. Das hatte bereits Laurentius Valla erfahren, als er mit tadelloser Methode die Fabel der Konstantinischen Schenkung erwiesen und darüber in Konflikt mit der Inquisition zu Neapel geraten war; und er selbst hatte ein Beispiel für die Unkraft der Aufklärung gegeben, als er wider alle bessere Überzeugung, nur um einen persönlichen Vorteil zu erhaschen, sich den Befehlen der Ketzerrichter beugte. In Deutschland war ja der Zwiespalt mit den klerikalen Kreisen von Anfang an sehr viel heftiger, die Ziele der Humanisten viel positiver gewesen als in Italien, wenigstens in dieser Epoche der römischen Renaissance. Aber auch ihre literarischen Fehden (ich erinnere nur an den Zank Wimphelings mit den Augustinern, Reuchlins mit den Dominikanern und Pirckheimers mit Johann Eck) verliefen im Sande; allem Lärm zum Trotz verlegten sich die streitbaren Herren schließlich doch nur auf das Prozessieren und Bitten oder gar, wie der selbstbewusste Ratsherr von Nürnberg sich bequemen musste, aufs Verleugnen und Widerrufen. Denn so lebhaft sie die Schäden in Staat und Gesellschaft zu bekritteln pflegten, richteten sich ihre ernsteren Absichten doch wesentlich auf die Umgestaltung der gelehrten Bildung; die breite Masse der Nation blieb außerhalb ihres Gesichtskreises und diente ihnen nur etwa als Folie für ihre sarkastischen Angriffe auf die beschorenen Gegner. Als Historiker und Publizisten wurden sie gerne von den Regierenden verwandt: als Parteiführer aber in den realen Kämpfen der Gegenwart, wie noch Nikolaus von Cues und Gregor von Heimburg, traten die Poeten vor Luther nicht auf; und ihre politischen Ideen selbst, so geistvoll und feurig sie sie vortrugen, und so anregend sie damit wirken mochten, waren doch nur zu oft ziellos und phantastisch. Niemals griffen sie in ihren Fehden zur deutschen Sprache; erst als Hütten mit Rom gebrochen und sich als Schildträger dem geistlichen Helden von Wittenberg zur Seite gestellt hatte, warf er das gelehrte Gewand ab und sprach Deutsch zu seinen Deutschen. Das nationale Empfinden allein aber, so kraftvoll es in den Humanisten pulsierte, reichte nun, da es Ernst geworden, nicht mehr aus, zumal da ein Hauptelement darin, die Feindseligkeit gegen die italienische Kirche, gar nicht mehr laut werden durfte. Nur wer den „Löwenmut“ hatte, „unerschrocken die Wahrheit wider des Papstes Heuchler zu sagen“, konnte hoffen, den Wust der Überlieferung, mit dem Roms Kirche sich deckte, zu zerstören. So Luther in einem berühmten Satze, worin er seine Stellung zur Geschichtsschreibung charakterisiert hat. Und von neuem zeigt sich uns die zentrale Stellung, welche der Reformator in dem Leben der Nation, ja in der Entwicklung der Welt einnimmt: der Bruch mit Rom war auch für die Fortentwicklung der Historie die Vorbedingung, wie für jeden sittlichen und wissenschaftlichen Fortschritt.

Wer war weiter von solchen Konsequenzen entfernt als, da er begann, der Mönch von Erfurt! Die Ohnmacht der Erkenntnis war gerade der Punkt, von dem er ausging, von wo ihn unnennbare Seelenstürme auf das Meer des Zweifels hinaustrieben. Hier nun, losgelöst von allem, was zeitlich war, weltentrückt, wandte er sein Auge dem Ewigen zu, griff er über die Zeiten hinweg auf die Persönlichkeit Christi zurück und die heilige Urkunde, die das unschuldige Leiden und Sterben des Herrn schilderte und ihm den Einklang, nach dem er rang, offenbarte, zwischen dem Zorn und der Liebe, der Gerechtigkeit und der Gnade Gottes. Auch sein Glaube stützte sich also auf historische Tatsachen und auf die Quellenschrift, die sie enthielt, eine Urkunde freilich älter und heiliger als alle Kanones und Kirchenväter und die tausendfach zitierte Quelle und Rechtfertigung aller Gebote und Überlieferungen der Kirche selbst. Dass er von ihr aus mit allen Mächten in Staat und Kirche ringen, eine ungeheure Weltverwirrung heraufführen, dass er die ganze Vergangenheit Roms als Fälschung der Urgeschichte des Christentums enthüllen würde, ahnte Luther nicht: aber dennoch hatte er bereits den Grund gefunden und den Anker geworfen; was er besaß, war unantastbar, die Grundlage seines Selbst — wehe dem, der daran zu rühren wagte! Es war die Grundwahrheit, vor der alles, was sich als wahr ausgab, hinwegmusste, wenn es nicht seine Vereinbarkeit damit nachwies: mochte es nun religiöse Vorstellung oder politische Forderung oder historische Annahme sein.

Luther wähnte damit anfangs nur die eigentliche Meinung der Kirche selbst auszusprechen: er deckte sich geflissentlich mit der Autorität des Papstes und seiner Dekrete und klammerte sich an sie fast länger, als er selbst daran glauben konnte. Danach als er mit steigendem Entsetzen den unlöslichen Zwiespalt und die ungeheure Fälschung erkannte, also dass er die Züge des Antichrist selbst im Papsttum zu entdecken wähnte, wollte er doch nur eine Verdunkelung der jüngsten Zeiten, der letzten 100, und dann 400 Jahre annehmen; den heiligen Bernhard glaubte er noch für sich beanspruchen zu können, als er Johann Eck in Leipzig gegenüberstand. Aber keinen Augenblick zögerte er, noch weiter zurückzugehen und alle Autoritäten preiszugeben, sobald ihm ihre Unvereinbarkeit mit seiner Auffassung nachgewiesen ward: die Dekretalen, die er läppisches Machwerk, auch die Väter des Konstanzer Konzils, die er Heuchler und Buben Hus gegenüber nannte, und alle die selig und heilig gesprochenen Schriftgelehrten der hierarchischen Jahrhunderte. Eine Erweiterung des historischen Horizontes, vor der alle Errungenschaften der humanistischen Aufklärung verschwinden. Mit der Faust eines Riesen zerriss dieser Mönch die Nebel, welche ein Jahrtausend verhüllten. Aber alle diese Erkenntnisse wurden nicht durch das methodische Vorgehen wissenschaftlicher Forschung gewonnen, sondern stoßweise, unter immer neuen Ängsten des Gewissens, durch ein sittliches, seelisches Ringen: so zerteilte sich dem Reformator das Dunkel der Geschichte, fiel Binde auf Binde von seinen Augen — weil er mit jenen Autoritäten seinen Glauben nicht erhalten konnte.

Hier jedoch ist für Martin Luther die Grenze der historischen Aufklärung. An der Ohnmacht der Vernunft, des „Meisters Klüglin“, von der er ausgegangen war, hielt er fest; er verachtete und verdammte die Neugier einer Forschung, welche unbekümmert um religiöse Empfindungen und Ziele, nur um aufzuklären, Bresche in die hergebrachten Vorstellungen zu legen versuchte. Ein Jahrtausend gab er als die Epoche des römischen Antichrist preis; aber an der evangelischen Reinheit der ersten Jahrhunderte der Kirche hielt er fest. Er wehrte die zudringlichen Versuche einer Mittelpartei, welche auf den Gemeinbesitz dieser Zeiten eine Versöhnung der streitenden Parteien gründen wollte, mit instinktiver Abneigung von sich ab; aber an die Dogmatik des Altertums hat er doch nicht gerührt. Hätte man ihm nachgewiesen, dass die hierarchischen Tendenzen schon damals lebendig gewesen, dass auch sein geliebter Augustinus von ihnen nicht frei zu sprechen und keineswegs seinem Paulus so ähnlich sei, dass in dem Kanon der heiligen Schriften selbst der Einklang, so wie er ihn glaubte, nicht existiere — er würde auch dann nicht gezögert haben, zerstörend fortzuschreiten und seine Glaubensstärke dennoch zu bewahren. Aber von seinem Standpunkt und unter dem allgemeinen wissenschaftlichen Horizonte der Epoche fand er in jener alten Zeit nichts, was den Einklang zwischen Glauben und Schrift, an dem ihm alles hing, störte, und so stellte er sich um so fester, mit beiden Füßen gleichsam, trotzig und kampfgerüstet vor ihren Pforten auf. Er hatte wahrlich genug zu tun, um seine Kirche nun, wo alles ins Schwanken geraten war, unter Dach zu bringen, um die gewaltige Umwälzung, die er nötig gemacht, dogmatisch und historisch zu begründen. Von allen Seiten erwuchsen ihm Gegner, Jahr für Jahr sich mehrend, hier die Radikalen, dort die Verteidiger der alten Lehre. Und alle strebten die historische Begründung ihres Glaubens an, beriefen sich auf historische Tatsachen und Urkunden. So entstand in der Geschichtsauffassung der Zeit ein immer reicheres Leben; überall aber gab die große Frage des Tages Antrieb und Charakter, und nur wer Partei nahm, fand Anerkennung.

Lenz, Max (1850 in Greifswald-1932) Historiker

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Reformationszeit, Die Heroen der Naturwissenschaft

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