Fortsetzung

Es war jedoch nicht bloße Tatenscheu und Gewissenlosigkeit, was ihn in den alten Ordnungen festhielt: seine Ideen reichen doch schließlich nirgends über die Schranken des katholischen Empfindens hinaus. Wo die höchsten Wahrheiten der Religion, so bekennt er selbst, wo das ewige Heil in Betracht komme, da sei er weder Ciceronianer noch Platoniker, sondern Christ. Und in der Tat, wenn der Gedanke der Welt flucht das Grundprinzip der mittelalterlichen Weltanschauung ist, so begegnen wir gerade darin der Lieblingsidee Petrarcas. Das Buch über die Verachtung der Welt oder „von den geheimen Kämpfen seiner Seele“ hat er selbst als den Schlüssel und die Krone seiner Werke bezeichnet. Wie er aber diese Kämpfe schildert, als das ewige Schwanken zwischen Weltfreude und Entsagung, zwischen Himmelssehnsucht und Todesängsten, erscheint in ihnen nirgends ein wesentlich neues Moment. Eben das unvermittelte Nebeneinander überschäumender Lebenslust und pessimistischen Verzagens am Dasein ist ja für das Mittelalter charakteristisch. Der Überdruss an dem irdischen Getriebe, das Gefühl von seiner Nichtigkeit und Leere, die Sehnsucht nach dem „Ruhen und Schauen“, das Petrarca in seiner Schrift von der Muße „der Klosterbrüder“ preist, trieb ja die Tausende in die klösterliche Stille oder in völlige Wildnis und Waldeinsamkeit. Auch ist es nicht wahr, dass er als der erste in solcher Seelenmalerei sich versucht und damit etwa den „Bann der Korporation“ durchbrochen und der „modernen Individualität“ die Bahn bereitet habe: des heiligen Bernhard Briefe und Traktate sind voll von verwandten Empfindungen, und man braucht nur die Schriften der deutschen Mystiker vor und nach Petrarca zu lesen, um auch hier eine Sprache voll persönlichster Inbrunst wiederzufinden. Gerade darin, dass er den Besten seiner Zeit genug tat, dass ihm ein Gott zu sagen gab, was er litt, dass er dem allgemeinen Empfinden als ein ganzer Dichter den vollen Ausdruck gab, liegt Petrarcas Größe. Freilich, er tat es „mit etwas anderen Worten“ als es herkömmlich war, wenn er die Anmut und Süßigkeit eines Lebens fern von dem Lärm des Tages im Schöße der Natur schilderte und das Versenken der Seele in ihre Schönheit oder in das Studium der Alten und der christlichen Väter pries. Die Kirche pflegte dieselben Gedanken etwas ernster zu nehmen, und darum konnte sie den Poeten trotz seiner Zornepisteln gegen ihre Entartung vornehm tolerieren. Sie hat ihn niemals für gefährlich gehalten.

So waren auch seine Angriffe gegen die Scholastik ziellos und noch hohler als diejenigen gegen die Kurie von Avignon oder seine dantesken Deklamationen für die Restauration des Kaisertums. Er kannte die Systeme nicht, welche er bekämpfte. Viel tiefer, als er glaubte, reichten die Wurzeln der mittelalterlichen Philosophie, und ihre Spekulationen standen im engsten Zusammenhang mit der Kirche, von der doch auch er umschlossen bleiben wollte. Eine Summe praktischer Erfahrung war auch in den besonderen Disziplinen enthalten. Viel eher doch aus ihnen heraus als aus seinen Diatriben haben sich die modernen Wissenschaften entwickelt, die sehr viel dankbarer auf sie herabsehen als ihr humanistischer Zeitgenosse. Nur den Boden hat Petrarca überall gelockert, aber nirgends die in den Dornen der scholastischen Spekulation verstrickten positiven Gedanken fortgebildet. Mehr ein künstlerisches als ein ethisches Ideal war sein Ziel, der Genuss eines schönen Lebens, die Vollendung der Persönlichkeit; aber er stellte sich damit nicht auf einen neuen Boden, sondern suchte nur immer Anlehnung an die antike Bildung, die doch ein Grundelement auch der hierarchischen war und niemals wieder zu einem selbständigen Leben erwachen konnte. Die klassischen Ideale in Literatur und Leben wollte er der hierarchischen Kultur entgegensetzen, ohne doch etwas Weiteres zu erreichen, als deren Umdeutung nach der Gedankenwelt der Antike.


Daraus erklärt es sich, dass Rom und die Renaissance den innigsten Bund miteinander geschlossen haben, und dass Martin Luther den Weckruf an das Gewissen der Christenheit gegen denselben Papst erheben konnte, der als der Eponymos für die Hochzeit der Renaissance gelten darf. Im Zusammenhang damit ist auch die Gleichförmigkeit zu verstehen, welche die humanistischen Ideale durch beide Jahrhunderte hin behauptet haben: dass Petrarca zwar eine Menge Nachfolger, aber keine rechten Fortsetzer gehabt hat. Die Studien wurden freilich intensiver, die Vorstellungen von der Antike geläuterter, die Gleichsetzung des eigenen Daseins mit dem antiken Ideal trat unverhüllter hervor, die Lust, mit der man sich ihm ergab, ward heißer und nackter, also dass der stoische Tugendmantel Petrarcas ganz fadenscheinig und rissig wurde, die Gleichgültigkeit gegen die Hierarchie nahm zu in demselben Maße, wie sich die Erbitterung verringerte. Wenn wir aber prüfen, worin das Eigentümliche, worin der Fortschritt in dem späteren Humanismus über Petrarca hinaus liegt, so finden wir ungemein wenig; und nichts von den großen Gedanken, welche vom 16. Jahrhundert ab die Welt erschütterten und umgestalteten.

Denn Weltentwicklung heißt immer Umbildung der Nationalitäten, ist Artverwandlung. Dazu aber sind zuguterletzt Ideen nötig, welche jeden einzelnen, alle und jeden, welche die Massen packen: die Gesellschaft muss bis in die Tiefen erregt sein, wenn ihr Bau und Antlitz insgesamt umgeformt werden soll. Mit dem zarten Gespinst humanistischer Bildungs- und Schönheitsideale sind die breiten Massen mit ihrer oft barbarischen Unbildung, ihren niedrigen Trieben und Bedürfnissen, ihrer Arbeit, die nur auf die Stunde berechnet sein kann, nicht zu fangen. Ein enger Horizont umgibt sie. Sie müssen den Hunger vertreiben. Das Elend des Lebens tritt ihnen unmittelbar nahe. Sie haben keine Zeit zu erlauchten Gefühlen, erhabenen Gedanken. Nun aber ist es doch die Aufgabe, eine Idee zu finden, die ihnen das Leben erträglich macht, die ihnen Freude zur Arbeit gibt und ihre Herzen über die Sorgen des Tages und das Erdenleid zu erheben vermag. Dazu gehören stärkere Netze, gleichartig geknüpfte, nach den großen Gleichartigkeiten, die das Leben durchwalten — Tod, Krankheit, unverschuldeter und verschuldeter Jammer, Angst und Liebe gegen sich selbst und gegen Gott. Solche Netze sind diejenigen, welche von Sankt Peter her viele Nationen umhüllten; Jahrhunderte haben daran geknüpft, und Millionen Hände arbeiten unermüdlich daran weiter; gleichartig sind sie und doch vielgestaltet, aus einem Plane heraus und mit einem Ziele, die Menschheit und jeden einzelnen umstrickend; und Masche auf Masche wird an der Peripherie angesetzt, die ins Grenzenlose strebt, bis (so will es der Glaube) das Erdenrund eingesponnen sein wird.

Wie hätten die paar Italiener, die an der Imitation des Altertums ihre Freude hatten, daran denken mögen, diese Weltmacht umzustoßen! Sie waren nur ein kleiner Ausschnitt der Gesellschaft, eine Aristokratie des Geistes, entfremdet ihrer Zeit um so mehr, je wörtlicher sie die Antike ihrer Weltauffassung gleichsetzten; um so mehr sie selbst der Wirklichkeit entrückt, um so phantastischer sie, die Skeptiker und Kritiker der hierarchischen Phantasien.

Von hier aus erkennen wir den Gegensatz Luthers zu der Bildung der Renaissance, wie zu allem, was sich innerhalb der Hierarchie hielt. Gewiss stand auch er unter dem Anhauch des humanistischen Geistes; aber er hat viel tiefer gegraben, um den Quell zu finden, aus dem er die Erneuerung seines Lebens trank. Jene Philosophie, die Petrarca von vornherein negierte, hat er bis in die feinsten Verzweigungen ihrer Spekulation, bis auf die schärfste Schneide ihrer Skepsis verfolgt; die Weltflucht, welche jener so idyllisch gepriesen — zwei Diener jedoch und einen Koch reservierte er sich dabei — hat der deutsche Reformator mit dem unbarmherzigsten Ernste betrieben; die Skrupel der Seele, über die der Humanist so schön zu schreiben wusste, hat er in der Einsamkeit der Klostermauern bis zur Verzweiflung an sich selbst durchgekostet; auch die Gottinnigkeit, in die Petrarca sich so behaglich zu versenken liebte, hat Luther damals wohl geteilt und bis zu ekstatischer Verzückung, ja zu fanatischem Grimm gegen jeden, der anders dachte, gesteigert. Das ganze System in Theorie und Praxis bis zur Selbstaufhebung seiner selbst hat er durchgedacht und durchlebt, immer darauf aus, den Gott zu sehen und an sich zu ziehen, der ihm in den Schriften und Lehren der Kirche, in der Verfassung und im Kultus, mit seinem Leibe und Blute selbst zu greifen und zu schmecken, als das Unwidersprechliche und Absolute gepredigt, dargeboten, aufgedrängt wurde — und alles Martern des Hirnes und des Herzens, alle Selbstentäußerung brachte ihn dem Höchsten auch nicht um eine Linie näher: nirgends der Gott, den er suchte; jenseits alles irdischen Denkens und Vorstellens sein Reich, unnahbar jeder Anstrengung der Vernunft oder des Willens — ein Spott, ein Nichts, ein Griff in die Luft jeder Versuch, ihn intellektuell zu erfassen oder in sittlichem Bemühen ihm genug zu tun.

Und das alles, ohne zu wissen, was er tat — abgeschieden, abgestorben der Welt gleich tausend anderen Klosterbrüdern. Was wusste er, der Bauernsohn aus einer kleinen deutschen Grafschaft, von dem deutschen Staate, was von dem Sündenleben in Rom! Und wenn er es wusste, was kümmerte es ihn! Das war die Welt da draußen, die irdische Sphäre, von der er eben los wollte, hin zu dem einen, dem Ewigen; und alle Verwirrung und Sünde der Welt war nur ein Beweis mehr für die Kluft zwischen der unnahbaren Majestät Gottes und der Welt des Staubes. Luther dachte nur an sich — nur an den Frieden, den die Welt nicht gibt.

Ich brauche nun nicht mehr zu schildern, denn wir wissen es alle, wie er ihn gefunden hat, wie sich allmählich die dunkeln Schatten um ihn legten, wie vor der Sonne, da sie sich durch Nacht und Nebel hindurchrang, die Spukgestalten der mittelalterlichen Nacht hinweggescheucht sind, wie er die feste Burg, das „steinern Ufer“ gefunden hat, an dem alles Wüten der Feinde, alle Wogen der Welt Verwirrung zerschellten.

Nicht an das Ideal schöner Menschlichkeit, an die Vollendung der Persönlichkeit im Sinne Petrarcas dachte dieser Mönch, sondern nur daran, seinem Selbst den Boden zu bereiten, auf dem es sicher ruhen konnte gegenüber dem in Zeit und Ewigkeit Allmächtigen.

Diesen Kampf ihm nachzukämpfen ist evangelisches Leben. In ihm gilt kein Unterschied von Rang und Person. Das allererste ist es für einen jeden, und das Bedingende in seinem Verhältnis zu allem, was irdisch ist, in Staat und Kirche, in Gegenwart und Geschichte, in Gesellschaft und Familie, in Recht und Sitte. In diesem Sinne hat Luther, und kein anderer, den Grund gelegt für die moderne Individualität, und damit (denn aus Individuen bestehen diese) für Staat und Gesellschaft. Nur in diesem Rahmen, der diamanten ist, kann Arbeit und Besitz, Liebe zu Frau und Kind, der Stolz auf das Vaterland, die Freude am Dasein für uns sittlich genannt werden. Und daher die Todfeindschaft der reformatorischen Idee zu derjenigen der römischen Kirche, die eben darum ihre Wurzeln in alle Fundamente der Gesellschaft, in Staat und Recht, Wissenschaft und alle Bildung hineingetrieben hat, weil sie jeden einzelnen von der Wiege bis zur Bahre in allen Lebensregungen sakramentlich siebenfach an sich gefesselt, unentrinnbar mit ihrem Sein und Wollen verstrickt hält.

Gewiss, die Welt ist anders geworden: andere Aufgaben sind uns gestellt in Staat und Gesellschaft als im i6. Jahrhundert, andere Formen und Ziele unseres Erkennens und Lebens sind in Geltung; unermesslich ist der historische Horizont wie der der Natur, der Begriff des Menschengeschlechtes selbst erweitert. In der Enge des damaligen Weltbegriffes mussten die Ideen Luthers enge Formen annehmen, sich staatlich und kirchlich, wissenschaftlich und dogmatisch gleichsam verkapseln.

Behalten wir dennoch den Glauben, dass nur die Schalen zerbrochen sind, der leuchtende Kern aber bleiben wird, dass es in allem Anfang für die Individuen und für die Gesellschaft auf jene höchste Fundamentierung der Sittlichkeit ankommt, dass Recht und Wirtschaft, Arbeit und Liebe, Staat und Nationalität, dass auch das Gebiet der Forschung, ja selbst das Reich des Schönen schließlich an jenes Firmament geknüpft ist. Halten wir im Gedächtnis, dass unser Staat auf diesem Boden gebaut, dass die heiligsten Güter unserer Nation ihm entsprungen sind — und lassen Sie uns das bekennen auch vor denen, die aus Gleichgültigkeit oder Furcht oder aus sogenannter Politik davon absehen möchten. Erinnern wir uns daran, dass die Pfadfinder, die Bahnbrecher unserer Kultur im vorigen Jahrhundert über nichts sich klarer waren als über ihre Verbindung mit der Reformation; und beherzigen wir den Spruch, mit dem der freieste dichterische Genius unseres Volkes, mit dem Goethe das dritte Säkularfest der Reformation begrüßte:

      Auch ich soll gottgegebene Kraft
      Nicht ungenutzt verlieren.
      Und will in Kunst und Wissenschaft,
      Wie immer, protestieren !