Kleine Historische Schriften - Band I. - 04 Humanismus und Reformation

Vom Werden der Nationen
Autor: Lenz, Max (*1850 in Greifswald-†1932 in Berlin) Historiker, Professor, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Erscheinungsjahr: 1891
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Humanismus, Reformation, Reformationszeit, Reformatoren, Aufklärung, Aberglauben, Fortschritt, Naturwissenschaften, Glauben, Klöster, Mönchtum, Mittelalter
Inhaltsverzeichnis
  1. Fortsetzung
  2. Fortsetzung
Es gab eine Zeit, wo das Interesse an Fragen, wie sie uns hier beschäftigen sollen, fast wie erstorben war. Wohl brachte man der Epoche der Reformation, als des Durchbruchs der modernen Gedanken, vielfache Sympathien entgegen, nicht bloß seitens der Evangelischen, sondern auch der Katholiken, der Gebildeten, Unabhängigen wenigstens unter ihnen; man sprach mit Wohlwollen von der „Glaubensverbesserung“, von der Ablösung der dunkeln Zeiten des Aberglaubens und pfäffischer Tyrannei, dem Aufblitzen der Gedankenfreiheit, der vernünftigen Klarheit, deren Licht nun alles überleuchtete, in deren reinem Glänze man sich behaglich sonnen und sich freuen konnte, dass man es so herrlich weit gebracht — aber, um schärfer hinzusehen oder gar mit persönlichem Eifer sich dem Studium jener Epoche zu widmen, dafür lag sie dem Selbstgefühl dieser Generation zu weit dahinten, galt sie zu sehr als überwunden.

Auf diese Stufe folgte eine andere, in der die Zeiten des Mittelalters wie in der Verklärung erschienen, von einem magischen Glänze Übergossen, der doch nur eine Wiederspiegelung war von der in den Umwälzungen der Gegenwart an jener Vernünftigkeit irre gewordenen, nach neuen Quellen für Gemüt und Phantasie sich sehnenden Zeitstimmung. Nun begann man wohl zu klagen über den Untergang des Mittelalters: als Sphäre der Religion und Poesie, gottinniger Spekulation, reinster, höchster Ideale in allen Lebensformen erschienen die mittleren Jahrhunderte: man sprach von einer Wiedervereinigung der getrennten Kirchen, von einer Versöhnung zwischen Wissen und Glauben. Dass die Kirche, wie sie gewesen, mit allen ihren Ansprüchen auf Staaten- und Geisterzwang je wieder erwachen könnte, dass Rom ein ausschlaggebender Faktor in der europäischen Politik werden würde, ahnte niemand. „Denn was ist es heutzutage noch“, so schrieb selbst Ranke in der Vorrede zu seiner Geschichte der Päpste 1834, „das uns die Geschichte der päpstlichen Gewalt wichtig machen kann? nicht mehr ihr besonderes Verhältnis zu uns, das ja keinen wesentlichen Einfluss weiter ausübt; noch auch Besorgnis irgendeiner Art: die Zeiten, wo wir etwas fürchten konnten, sind vorüber; wir fühlen uns allzu gut gesichert.“

Aus diesen Stimmungen sind wir heute heraus. Heute gibt es kaum eine andere Epoche der europäischen und vor allem unserer eigenen Geschichte von so allgemeinem und so akutem Interesse. Denn nicht bloß die höheren Regionen, theologische oder philosophische Spekulation, die Phantasie des Künstlers, die Anschauung des Historikers sind jener großen Institution zugewandt, sondern ihr Dogma, ihr Kultus, ihre Verfassung und alle ihre Ansprüche sind das Ferment geworden für eine politische Partei. Diese Kirche, die vor 100 Jahren noch in den Händen der Aristokratie oder des Staates war, ist heute unabhängig von der politischen Zentralgewalt und demokratisiert; Bürger- und Bauernsöhne nehmen die Bischofssitze ein, welche einst dem hohen und höchsten Adel vorbehalten waren; nicht bloß die Kanzel und der Beichtstuhl, sondern Presse, Volksversammlung und Vereine sind Mittel geworden, mit denen die Kirche arbeitet; ihre Kapläne, Lehrer, Professoren sind politische Agitatoren; jede Annäherung an die feindlichen Konfessionen, jeder Versuch der Versöhnung wird geflissentlich vermieden; jedes Resultat der Forschung (sei es Philosophie oder Historie oder gar Natur-Wissenschaft) wird nur anerkannt, sobald es den kirchlichen Stempel erhalten hat. Das Ergebnis liegt vor jedermanns Augen. Die katholische Menge ist völlig diszipliniert, eine Herde, welche dem Hirten folgt, ob er sie nun zur Wahlurne oder zur Wallfahrtsstätte geleiten mag. Unsere Wahlen beweisen, was die römische Kirche vermag. Und wie tiefgründig das katholische Wesen in dem Volke Martin Luthers am Ende des 19. Jahrhunderts wieder geworden ist, das hat der schier endlose Pilgerstrom aufs neue gezeigt, der sich im vergangenen Sommer vor dem Hochaltar zu Trier vorüberwälzte. Nichts aber verriet doch die Machtstellung Roms im heutigen Reiche besser als das Schweigen der gegnerischen Presse. Denn das stammte nicht etwa bloß aus Verachtung oder Gleichgültigkeit, sondern mehr noch aus Vorsicht. Konnten wir doch schon froh sein, dass nicht auch protestantische Regierungsbeamte es für ihre Pflicht gehalten haben, vor den „lückenhaften Stoff teilen“ ihre Knie zu beugen! Wo einmal in der Presse eine Stimme für den gesunden Menschenverstand eintrat und etwa von Gimpelfang sprach, hatte sie sich flugs vor dem Richter zu verantworten; der Staat ist alsbald für diese Institution einer von ihm anerkannten Kirche eingetreten. Wahrlich, wenn das Deutsche Reich von heute, wenn der nationale Staat der Hohenzollern zu Martin Luthers Zeiten schon bestanden hätte, er hätte es nicht wagen sollen, gegen den Seelenmord der Ablasskrämer seine Stimme zu erheben.

Auch das Problem, das ich heute der Betrachtung unterbreiten will, ist in den großen Streit des Tages mit hineingezogen worden. Merkwürdig aber, hier vereinigen sich die Gegner von rechts und von links in den Angriffen auf die Reformation. Denn wie auch immer deren Verdienst um den Fortschritt des Menschengeschlechtes formuliert und anerkannt werden möge — den Vorwurf will ihr doch die Aufklärung unserer Tage nicht ersparen, dass sie die freiere Geistesbildung, die soeben auch auf deutschem Boden zur Entfaltung gelangte, in der Blüte geknickt habe: die alte Scholastik habe sie nur zerstört, um alsbald eine neue an ihre Stelle zu setzen, sie selbst sei das Mönchtum nicht völlig los geworden, der Geist sei aufs neue im Dogma eingeengt, der Staat und alle Bildung nur noch enger an klerikale Zwecke geschmiedet worden.

Etwas anders lauten die Anklagen von selten der Ultramontanen. Denn diesen Herren können die weltfrohen Spötter, die Halbheiden vom Schlage eines Celtes oder Crotus Rubeanus doch unmöglich ganz sympathisch sein. Indessen manche von ihnen haben die Zerstörung ja gar nicht mehr erlebt, andere die Zugehörigkeit zur Mutter Kirche immer behauptet und literarisch betätigt, wieder andere, und gerade die größten Weltkinder, haben ihre Sünden, da sie die Folgen sahen, bereut, und verteidigt, was sie einst gelästert hatten. Wer aber verzeiht den Reuigen lieber als die Mutter Kirche! Und so sind sie einer nach dem andern absolviert und zu Gesinnungsgenossen Ecks und Ortuins und aller jener dunklen Männer gestempelt worden, über die sie sich im Leben so weidlich lustig gemacht haben, alle die Lehrer und Freunde der Reformatoren, nicht bloß die Philister unter ihnen, sondern gerade die lockersten Vögel, neben Wimpheling und Reuchlin auch Celtes und Erasmus, Pirckheimer und Rubeanus, so dass es denn selbst den Verehrern des heiligen Rockes möglich geworden ist, über den Geistesfrühling unter der Pflege der Kirche zu frohlocken und über den Frühreif der Ketzerei, der ihn vernichtet habe, zu jammern.

Auch ich hoffe auf Absolution, wenn ich davon absehe, mich mit der Widerlegung solcher Gegner abzugeben. Die Ärmsten dürfen ja gar nicht anders glauben, denken und beweisen. Ein höherer Wille zwingt sie, die Vergangenheit sich so vorzustellen, wie es seinen Zwecken entspricht, heute so, morgen vielleicht ein wenig anders. Sie stehen mit ihrem Urteil und Erkennen nicht unmittelbar vor Gottes Angesicht, sondern dazwischen drängt sich herrisch die Kirche und ihre Tradition. Und also müssen sie übermalen oder hinwegtuschen und ergänzen, wo immer etwas in dem Bilde nicht passen will zu dem hierarchischen Ideal, für dessen Herrschaft in aller Welt sie kämpfen.

Nur mit denjenigen wollen wir diskutieren, welche in wahrhaftiger Überzeugung über die Ertötung oder doch Erstarrung der Humanität und Weltfreudigkeit, der Geistesfreiheit, wie wir sie heute besitzen, durch die Reformation Klage führen.

Nehmen wir einen Moment an, dass diese recht hätten, so stehen wir alsbald vor einem Rätsel. Wie (müssen wir fragen) ist es dann zu erklären, dass unsere heutige Kultur lediglich aus protestantischer Wurzel entsprossen ist? Denn nicht nur unser Rechtsbewusstsein, unser sittliches Empfinden (wenn wir es anders höher schätzen als jene Beklagenswerten, die vor dem Reliquienschrein in Trier Heilung ihrer seelischen oder auch leiblichen Gebrechen suchen), nicht nur unser Staat, sondern auch unsere Dichtung und Philosophie, jegliche Wissenschaft und die Muttersprache selbst, alle die großen Güter, welche den Kern unserer Nationalität ausmachen, wuchsen auf protestantischem Boden. Blicken wir auf das vorige Jahrhundert! Wo war der deutsche Katholizismus, vor dem im Dreißigjährigen Kriege uns nur fremde Hilfe hatte erretten können ? Im Lager Österreichs, das durch das protestantische Preußen dreimal überwältigt wurde, oder in der Verrottung weltlicher und geistlicher Kleinstaaten, völlig abseits von dem reichen geistigen Leben, das überall, wo evangelische Schulen und Kirchen standen, von Riga bis Zürich emporblühte. Selbst die Wiederbelebung der mittelalterlichen Weltauffassung in der Romantik beruhte auf einer Abwandlung dieser protestantischen Kulturbewegung. Den Reigen führten da wiederum Protestanten, und erst nach ihnen traten, nun auch wohl durch Überläufer aus solchen Kreisen verstärkt, aber genährt von protestantischem Geiste, katholische Männer wie Joseph Görres auf, um triumphierend auf die Erhabenheit und Ewigkeit der gesellschafterrettenden Kirche hinzuweisen.

An ein zufälliges Zusammentreffen ist hier nicht zu denken. Wir können gar nicht anders schließen, als dass eine innere Verbindung statthatte, dass die uns teuersten Güter unserer Nation in der Tat auf die Gedankenarbeit der Reformatoren zurückzuführen sind, und können unsern Gegnern von links höchstens den Ausweg lassen, dass der Humanismus jene Ideale, die eine spätere Zeit entwickelte, noch rascher zur Entfaltung gebracht haben würde, dass die Reformation nur einen Teil von ihnen unmittelbar verwirklicht, ihre freieren Formen aber durch ihre dogmatisch-scholastische Verengung in der Entwicklung zurückgedrängt habe.

Erinnern wir uns, bevor wir hierauf die Antwort geben, dass der Humanismus nur eine Teilerscheinung ist der Renaissance, und dass diese nicht dem deutschen Geiste, sondern dem Italiens entsprang, auf dessen Boden sie in der gleichen Epoche wieder abstarb, in der das Papsttum seine neuen Siege errang. Diese Schuld wird man ja doch wohl nicht auch noch der deutschen Reformation aufbürden wollen. Behalten wir auch im Gedächtnis, dass die bildende Kunst der Renaissance in Deutschland erst zu Luthers Zeit heimisch geworden ist, parallel mit ihm sich entwickelt hat, dass der Humanismus, der sie bei uns vorbereitete, in Wissenschaft und Künsten überall auf die alten Anschauungen und Formen stieß, dass sich diese Invasion des italienischen Geistes ferner in zwei kurzen Generationen vollzogen hat, und endlich, dass der Humanismus damals in Italien bereits auf seiner Höhe war, eine Entwickelung von zwei Jahrhunderten durchmessen hatte, — dass mithin die Bedingungen, die ihn erklären, um zwei volle Jahrhunderte vor der Reformation zurückliegen.

Das Italien des 14. Jahrhunderts haben wir uns also vorzustellen, wenn wir den Schöpfer und größten Heros des Humanismus, wenn wir Petrarca begreifen wollen, den ersten „Individualmenschen“, wie man ihn heute hat taufen wollen, „der die Schranken des korporativen Daseins und Empfindens durchbrochen“, der „zuerst sein Ich zum Spiegel der Welt erhoben“, „sein Selbst entdeckt habe“, und so „der Prophet der neuen Zeit, der Ahnherr der modernen Welt“ geworden sei.

In dieser Epoche blieb, äußerlich wenigstens, in Italien wie überall das, was das Mittelalter ausmacht, erhalten, die Kirche, das Imperium, die Mehrzahl der feudalen Ordnungen. Niemals sind die papalen Theorien schroffer betont worden als zur Zeit der Päpste von Avignon. Keins der alten Dogmen ging verloren; vielmehr kam ein neues hinzu, in dem sich die spezifisch mittelalterliche Romantik ausprägte, und das eben darum heute endgültig bestätigt worden ist, das von der unbefleckten Empfängnis der Mutter Gottes. Versuche wurden freilich gemacht, von innen her, durch Umwandlung der religiösen Prinzipien die alte Weltauffassung zu zerstören: Wiclif und Hus traten auf, hier und da ein deutscher Grübler, Sekten aller Art und allerorten. Aber sie alle wurden besiegt, und nicht bloß durch brutale Gewalt, sondern, wie wir zugeben müssen, durch die Reaktion des öffentlichen Willens, des allgemeinen Kulturbewusstseins: man wollte so glauben, wie man musste.

Lenz, Max (1850 in Greifswald-1932) Historiker

Lenz, Max (1850 in Greifswald-1932) Historiker

05. Bronze Statue of Martin Luther in Eisleben

05. Bronze Statue of Martin Luther in Eisleben

RA 012 Waldus Peter

RA 012 Waldus Peter

RA 014 Wiclif John (1320-1384)

RA 014 Wiclif John (1320-1384)

RA 016 Hus Jan

RA 016 Hus Jan

RA 018 Savonarola

RA 018 Savonarola

RA 022 Luther Martin

RA 022 Luther Martin

RA 024 Melanchthon Philipp

RA 024 Melanchthon Philipp

RA 026 Spalatin

RA 026 Spalatin

RA 028 Jonas Justus

RA 028 Jonas Justus

RA 030 Bugenhagen Johannes

RA 030 Bugenhagen Johannes

RA 031 1 Brenz Johannnes

RA 031 1 Brenz Johannnes

RA 033 Myconius Friedrich

RA 033 Myconius Friedrich

RA 035 Cruziger Caspar

RA 035 Cruziger Caspar

RA 037 Mathesius Johann

RA 037 Mathesius Johann

RA 039 Dietrich Veit

RA 039 Dietrich Veit

RA 041 Camerarius Joachim

RA 041 Camerarius Joachim