Fortsetzung

Sollte Luther aber schweigen, weil er überall die Verwüstung sich an seine Schritte heften sah? Gewiss — wenn er der Meinung gewesen wäre, dass das Bestehende, weil es nun einmal dasteht, zu erhalten und nicht vielmehr auf den Gottesgedanken in ihm zu gründen sei; wenn er den Duldungsbegriff gehabt hätte, der Janssen den Wunsch nach gemeinsamer Pflege „dessen, was bei den einzelnen Parteien vom Christentum noch auf lebendiger Wurzel grünt“, eingibt: eine Freundschaft, die letzteren freilich nicht an dem Versuch hindert, auf den Mann, mit dem die Berechtigung der „Kirchenspaltung“ des 16. Jahrhunderts steht und fällt, allen nur denkbaren Schmutz zu werfen, den Ast, auf dem seine protestantischen Freunde sitzen und unter dem Sankt Peters Netze ausgespannt sind, durchzusägen.

So führt uns also auch hier der Streit mit dem ultramontanen Historiker zuletzt auf eine Frage der Interpretation, auf eine ethische Grenzberichtigung zurück. Wenn konservativ sein mit stabil sein identisch ist, so hat jener gewonnen Spiel. Dann war Luther der größte Revolutionär aller Zeiten. Sind es aber die „dauernden Gedanken“, welche die Welt befestigen, so ist vor allem andern darüber zu streiten, ob die Gedanken Luthers beständige oder zerstörende waren, ob sie innerlich verwandt waren mit denen, von welchen die Revolutionäre und Anarchisten und alle falschen Freunde sich leiten ließen oder nicht. Das ist die Aufgabe des Biographen Luthers. *)


*) „War hingegen jene Frage (,was sollen wir tun, dass wir selig werden ?') in einen ursprünglich-lebendigen Boden gefallen, so dass im Ernst geglaubt wurde, es gebe eine Seligkeit, und der feste Wille war da, selig zu werden, und die von der bisherigen Religion angegebenen Mittel zur Seligkeit mit innigem Glauben und redlichem Ernste in dieser Absicht gebraucht worden waren, so musste, wenn in diesen Boden, der gerade durch sein Ernstnehmen dem Lichte über die Beschaffenheit dieser Mittel sich länger verschloss, dieses Licht zuletzt dennoch fiel, ein grässliches Entsetzen sich erzeugen vor dem Betrüge um das Heil der Seele und die treibende Unruhe, dieses Heil auf andere Weise zu retten, und was als in ewiges Verderben stürzend erschien, konnte nicht scherzhaft genommen werden. Ferner konnte der einzelne, den zuerst diese Ansicht ergriffen, keineswegs zufrieden sein, etwa nur seine eigene Seele zu retten, gleichgültig über das Wohl aller übrigen unsterblichen Seelen, indem er, seiner tieferen Religion zufolge, dadurch auch nicht einmal die eigene Seele gerettet hätte: sondern mit der gleichen Angst, die er um diese fühlte, musste er ringen, schlechthin allen Menschen in der Welt das Auge zu öffnen über die verdammliche Täuschung. Auf diese Weise nun fiel die Einsicht, die lange vor ihm sehr viele Ausländer wohl in größerer Verstandesklarheit gehabt hatten, in das Gemüt des deutschen Mannes, Luther. An altertümlicher und feiner Bildung, an Gelehrsamkeit, an anderen Vorzügen übertrafen ihn nicht nur Ausländer, sondern sogar viele in seiner Nation. Aber ihn ergriff ein allmächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil, und dieser ward das Leben in seinem Leben und setzte immerfort das letzte in die Wage und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert. Mögen andere bei der Reformation irdische Zwecke gehabt haben, sie hätten nie gesiegt, hätte nicht an ihrer Spitze ein Anführer gestanden, der durch das Ewige begeistert wurde; dass dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos entgegenging, ist natürlich und durchaus kein Wunder. Dies nun ist ein Beleg von deutschem Ernst und Gemüt.“ (Fichte in der sechsten seiner Reden an die deutsche Nation.)

Bevor hierüber die Entscheidung feststeht, können alle Ruinen, die sich rings um Luther unter dem Anhauch seines Geistes auftaten, nichts beweisen — ganz davon abgesehen, dass uns überhaupt noch jede moral-statistische Grundlage zur Vergleichung der Zeit vor und nach seinem Auftreten fehlt. Denn nicht um das, was in Folge, sondern was als Folge seiner Lehre geschah, darf es sich hier handeln. Vielmehr, wird nachgewiesen, dass diese Gedanken in einem innerlichen Gegensatz zu den radikalen Abweichungen und häufig zu den Interessen, denen sie dienstbar wurden, selbst standen, so kann die Persönlichkeit des Reformators nur um so höher wachsen, je unerschütterlicher er inmitten der Zerstörung und der Angriffe von rechts und links auf seinem Grunde geblieben ist. Alles, was er über die fundamentale Feindschaft seines Evangelium zu dem römischen Kirchenbegriff als dem Antichristentum sagt, kann dann nur für die Konsequenz seines Systems zeugen; der Zorn, mit dem er gegen Priestertum und Gottesdienst, Gelübde und Sakramente, Bildungsformen und Bildungsstätten des römischen Geistes auftritt, nur für die Kraft seiner Überzeugung; die Intoleranz, mit der er seine Lehre allein als die Christi bezeichnet — für Janssen der Gipfel seines blasphemischen Hochmuts — nur für die Felsenstärke seines Glaubens; die Festigkeit, mit der das alte Kirchentum wurzelte, der Widerstand, den er fand, die Zersplitterung, die Entfesselung der Leidenschaften, die Zerrüttung selbst nur für die großartige Selbständigkeit und Strenge seines Pflichtgebotes. Und nichts kann dann die erhaltende Kraft seiner Gedanken mehr beweisen als das zerstörende Walten derjenigen, welche sich mit Unrecht die Vollender seines Werkes nannten.

So wenig nun jemals eine Wahlverwandtschaft Luthers mit Münzer nachgewiesen werden wird, ebenso gewiss und allbekannt ist, dass das Wort Gottes fast nirgends so in der Welt gewirkt hat, wie es seine Predigt verlangte: dass die kirchliche Umwandlung überall von revolutionären Zuckungen und rohen Gewalttaten begleitet wurde; dass nicht bloß die Anarchisten, welche den Reformator gleich Janssen als Vater Leisetritt und Fürstendiener anschwärzten, sondern auch diejenigen, welche mit ihm oder ihm folgend die alten Ordnungen evangelisch umgestalteten, wohl ausnahmslos durch politische Interessen und persönliche Leidenschaften beeinflusst worden sind; dass ihm selbst auch wohl in der Hitze des Kampfes der klare Blick getrübt worden ist. Diese Wirkungsformen der lutherischen Idee nachzuweisen, ihr Eintreten in die wildbewegte Welt, deren Gegensätze und Konstellationen nun auch für sie maßgebend wurden, ihre Verwandlung in politische Kraft, indem sie einen Teil ihrer Freiheit verloren, zahllose Brechungen des einen Lichtes — darin fasst sich die Summe der allgemeinen Reformationsgeschichte zusammen, in deren Anfängen wir heute noch stehen.

Die besondere Schwierigkeit der Aufgabe liegt in dem Grundgedanken Luthers selbst.

Alle früheren Reformatoren der Kirche — und die Geschichte der katholischen Kirche ist eine Kette von Reformationen — waren darin übereingekommen, in der Weltflucht das höchste Ziel des religiösen Lebens zu sehen. Das Irdische als Besitz, Genuss, Herrschaft (Eigentum, Ehe, Staat) ist ihnen das Verderbliche. Von dieser Welt der Sünde die Menschheit loszureißen, ist ihr unablässiges, in der Glut der Askese genährtes Streben; gelingt nur bei einem Bruchteil die Fesselung an das Lebensideal selbst, so soll doch alle Welt die Heiligkeit desselben und seiner Diener anerkennen. Luther hingegen stellt den „Christenmenschen“ mitten hinein in die Welt. Anstatt den Staat zu fliehen, sucht er ihn auf. Er will ihn nicht unterdrücken, sondern erhöhen, Er bedarf seiner, denn wie wäre die Freiheit, welche er anstrebt, die christliche Lebensführung möglich, wenn nicht starke Rechtsschranken diesen persönlichen Gottesdienst sicherten! Indem er die Sphäre der Religion abgrenzt, findet er zugleich — und nichts war ihm bewusster, als dass er der Entdecker war — die Gottgewolltheit der weltlichen Existenz in den Formen des Staates, der Gesellschaft, des Einzellebens *).

*) „Daher auch achte ich, wir Deutschen Gott eben mit dem Namen von Alters her nennen (feiner und artiger denn keine andere Sprache) nach dem Wörtlein gut, als der ein ewiger Quellbrunn ist, der sich mit eitel Güte übergeußt und von dem alles, was gut ist und heißet, ausfleußt. Denn ob uns gleich sonst viel Gutes von Menschen widerfähret, so heißet es doch alles von Gott empfangen, was man durch seinen Befehl und Ordnung empfähet. Denn unsere Eltern und alle Obrigkeit, dazu ein jeglicher gegen seinen Nächsten, haben den Befehl, dass sie uns allerlei Gutes tun sollen, also dass wir's nicht von ihnen, sondern durch sie von Gott empfahen. Denn die Creaturen sind nur die Handröhren und Mittel, dadurch Gott alles gibt; wie er der Mutter Brüste und Milch gibt dem Kinde zu reichen, Korn und allerlei Gewächs aus der Erden zur Nahrung; welche Güter keine Creatur keines selbsten machen kann. Derhalben soll sich kein Mensch unterstehen, etwas zu nehmen oder zu geben, es sei denn von Gott befohlen, dass man's erkenne für seine Gaben und ihm darum danke, wie dies Gebot fordert. Darum auch solche Mittel, durch die Creaturen Gutes zu empfahen, nicht auszuschlagen sind noch durch Vermessenheit andere Weise und Wege zu suchen denn Gott befohlen hat. Denn das hieße nicht von Gott empfangen, sondern von ihm selbst gesucht.“ Großer Katechismus, erstes Gebot. — Vgl. A. Ritschi, Prolegomena zu einer Geschichte des Pietismus (in Briegers Zeitschrift für Kirchengeschichte Bd. 2), und mehr noch dessen Geschichte des Pietismus, die Einleitungen.

Das ist die „Einschließung der Religion in Staatsgrenzen“, welche Janssen mit dem unschönen Wort „Cäsaropapismus“ zu brandmarken sucht, indem er als identisch nimmt, was höchstens kongruent genannt werden kann, und dabei doch wieder an einen Begriff der Religionsfreiheit appelliert, der erst auf dem Boden des protestantischen Staates erwachsen konnte *). Eine Verdrehung, die eben deshalb so leicht war, weil ja, wie bemerkt, die lutherischen Gedanken in ihrer politischen Ausprägung nur allzu häufig Trübungen und Fälschungen erlitten haben.

*) Denn Toleranz in unserem Sinne ist Kraftbetätigung. Eine Toleranz, wie sie Theoderich der Große und Georg Podiebrad übten, war Schwäche. Auch die römische Kirche kann, wo sie die Gewalt hat, tolerant sein, wenn sie will. Sie will nur in der Regel nicht, während der Staat immer will — beide, weil sie müssen. Das Merkwürdige aber ist, dass auch die Toleranz des Staates ihr Dasein weniger dem Nachdenken einiger Berufsphilosophen als politischen Zwangsverhältnissen verdankt, mithin aus der Toleranz der Schwäche sich entwickelt hat.

Trotz alledem bleibt es die vornehmste Aufgabe jedes Reformationshistorikers, die Gedankenarbeit der Reformatoren der Papisten und der Revolutionäre gegen einander abzugrenzen; und alle die, welche wie Janssen, sei es aus Gründen der Unwissenheit oder scholastischer Unfreiheit, ohne diese Vorarbeit gemacht zu haben, die Sekundärerscheinungen und Primärkonsequenzen durcheinander wirren, bleiben außerhalb der wissenschaftlichen Diskussion.

Das schließt nicht aus, dass selbst diese Reformationsgeschichte eine nicht unwesentliche Bedeutung behaupten wird. Nur hat sie dieselbe nicht für die Geschichte der Reformation selbst oder gar des Mittelalters, dem Janssen zu huldigen vorgibt, zu dessen Geistesgewaltigen er sich aber verhält wie etwa Canisius zu Albertus Magnus. Die unzweifelhafte Geistesverwandtschaft mit Canisius wird ja auch er nicht ableugnen wollen. Seine und seines Buches eigentümliche Bedeutung liegt vielmehr auf einem ganz andern Felde. Wenige historische Aufgaben haben ein gleich akutes Interesse wie der Nachweis, wodurch sich die geistig so hochbedeutende Romantik in den Ultramontanismus verkehren musste. Und unter diesem Gesichtspunkt wird die „christlich-germanische Weltanschauung“, welche Janssen als die Grundmaterie des Mittelalters betrachtet, wirklich eine bedeutende Stellung in der allgemeinen Entwicklung finden. Ihre Charakterisierung würde zugleich ein gutes Stück deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert sein; und niemand, der sich deren Darstellung widmet, wird daher an dieser „Geschichte des deutschen Volkes“ vorüber gehen können.