Kleine Historische Schriften - Band I. - 03 Janssens Geschichte des deutschen Volkes.

Vom Werden der Nationen
Autor: Lenz, Max (*1850 in Greifswald-†1932 in Berlin) Historiker, Professor, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Erscheinungsjahr: 1883
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Geschichte, Macht, Phantasie, Gewalt, Religion, Aberglauben, Mittelalter, Reformation, Reformationszeit, Reformatoren, Luther, Kultur, Politik, Bautätigkeit, Denkmale, Architektur, Glauben, Epochen, Historiker, Christentum, Toleranz, Reformationsgeschichte
Ich vermiss mich nit, uber die hohen tannen zu fliehen;
verzweifel auch nit, ich müg über das dürre gras kriechen.
              Martin Luther 1518.

„Denn es war alles ein einziges Gebilde, aus den Keimen, welche die früheren Jahrhunderte gepflanzt, eigentümlich emporgewachsen, in dem sich geistliche und weltliche Macht, Phantasie und dürre Scholastik, zarte Hingebung und rohe Gewalt, Religion und Aberglaube begegneten, ineinander verschlangen und durch ein geheimes Etwas, das allen gemeinsam war, zusammengehalten wurden, — mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit für alle Geschlechter und Zeiten, für diese und jene Welt, und doch zu dem markiertesten Partikularismus ausgebildet, unter allen den Angriffen, die man erfahren, und Siegen, die man erfochten, unter diesen unaufhörlichen Streitigkeiten, deren Entscheidungen dann immer wieder Gesetze geworden waren“: in diesen Zügen fasst Ranke das Gesamtbild der Weltverfassung welche durch Luthers Reformation zusammenbrach, in dem Augenblick zusammen, wo er sich der Darlegung der Kräfte zuwendet, welche die Zerstörung gebracht haben. Eines der wenigen Worte, die wir bisher von ihm über das Mittelalter besitzen: niemals ist dieses kürzer und erschöpfender charakterisiert worden. Keineswegs aber zieht Ranke sein Urteil von den Jahrhunderten ab, die wir als die Blüteepoche der mittelalterlichen Welt zu bezeichnen pflegen, sondern gerade von den Zuständen und Persönlichkeiten, in deren Mitte Luther aufgewachsen ist, zu denen er in den engsten Beziehungen gestanden, mit denen verbündet oder kämpfend er die neuen Grundlagen des Daseins geschaffen hat. Wenn neuerdings mehrfach und durchaus richtig als Notwendigkeit betont worden ist, die Denk- und Lebensweise der vorreformatorischen Epoche zu ergründen, das bis an Luthers Auftreten unvermittelte Heranreichen des Mittelalters in Kultur und Politik zur Anschauung zu bringen, so wird, wer sich immer diese Aufgabe stellt, auf jene Skizze Rankes über die „religiöse Stellung des Papsttums“ zurückgreifen müssen; er möchte wenige wesentliche Züge seinem Bilde hinzufügen können, welche dort nicht gestreift sind.

Das Buch, welches hier nochmals einer zusammenfassenden Besprechung unterzogen werden soll, gibt selbst dafür in seinem ersten Teil den besten Beweis. Denn wie verschieden auch der Standpunkt Janssens von dem Rankes sein mag — und es gibt keine feindseligeren Gegensätze — , welche Mühe von jenem angewandt sein mag, um die seiner Stellung angemessene Beleuchtung und Gruppierung der Tatsachen zurecht zu bringen, so lesen sich doch ganze Partien bei ihm wie Ausführungen jener Ranke’schen Sätze: das scholastische Treiben z. B. an den Universitäten, die Statistik der Bautätigkeit, der Skulptur und Malerei, soweit sie noch auf dem Grunde mittelalterlicher Kirchlichkeit beruhten, und der Gebetbücher, die Schilderung der Pilger-, Wunder- und Reliquiensucht, von der alle Schichten der Nation beherrscht waren, und so fort.

Indem nun Janssen sich auf jeder Seite zu den Idealen dieser Epoche, wie er sie eben deutet, bekennt, sie als die sittliche und materielle Glanzzeit unseres Volkes bewundert, ihre Vernichtung durch Luther und sein Werk aber als das kläglichste Unheil, das uns jemals widerfahren ist, bejammert, können wir ihm gegenüber unmittelbar mit den Worten fortfahren, welche Ranke an jene Betrachtung vor bald fünfzig Jahren gehängt hat: „Ich weiß nicht, ob ein vernünftiger, durch keine Vorspiegelungen der Phantasie verführter Mann ernsthaft wünschen kann, dass dies Wesen sich so unerschüttert und unverändert in unserem Europa verewigt hätte: ob jemand sich überredet, dass der echte, die volle und unverhüllte Wahrheit ins Auge fassende Geist dabei emporkommen, die männliche, der Gründe ihres Glaubens sich bewusste Religion dabei hätte gedeihen können.“ Das gerade ist der Eindruck, den die Lektüre dieses Buches immer wieder erweckt: der Zweifel, ob der Verfasser an die Ideale, die er in der Vergangenheit findet, wirklich ernsthaft glaubt und seinen Lesern im Ernst den Glauben an seine Beweisführung zumutet; oder ob die Vorspiegelungen der Phantasie ihn so verführt haben, dass er nicht mehr imstande ist, das Wahre von dem Falschen und der Lüge zu unterscheiden und die Dinge zu sehen und zu schildern, wie sie gewesen sind.

Er selbst hat uns freilich laut genug den Ernst seines Glaubens und die Integrität seiner Forschung gepriesen: nur die Darstellung der Tatsachen sei seine Tendenz; gerade darum habe er diese allein sprechen lassen; jedes theologisch-polemische oder politisch-polemische Ziel habe er vollständig ausgeschlossen; jedes subjektive Urteil habe er, der Freund protestantischer Männer, der Eiferer für die gegenseitige Duldung der Konfessionen, der Schüler des protestantischen Historikers Böhmer, vermieden, und mit der ihm eigentümlichen Sanftmut vergelte er den Kritikern, die seine Ehre angegriffen haben, nicht Gleiches mit Gleichem *).

*) An meine Kritiker, erster Brief.

Aber gerade die Art, wie Janssen hier seine Verteidigung führt, verstärkt wieder den Eindruck, dass er es mit seiner Art, Geschichte zu schreiben, nicht ernsthaft meinen kann. Denn wie käme er sonst zu der Naivität, in einer Sammlung von Buchausschnitten aus Quellen und Darstellungen verschiedenster Epochen den „objektiven Tatbestand“ zu erblicken! Als ob der Bericht über die Tatsache diese selbst sei, oder als ob eine Häufung von Einzelheiten auch bei dem besten Willen zur Erkenntnis jemals eine Idee von dem Gesamtbilde geben könne! Hat Janssen auch nur einen Schimmer von dem Ernst historischer Methode, so muss er an jenem Ort unbedingt auf Leser gerechnet haben, welche nicht zu unterscheiden wissen zwischen den kümmerlichen Resten der Überlieferung und dem dahinter ruhenden Grunde der Erscheinungen, welche nicht ahnen, dass die Sammlung jener die allererste Vorarbeit ist, dass die Arbeit beginnt, sobald wir durch ihre wirre und lückenhafte Hülle hindurch den Tatbestand zu entdecken suchen. Glaubt er aber in Wahrheit, dass die Unsumme seiner Anführungen „die reinen, objektiven Fakta“ selbst sind, so stellt er sich damit eben das Zeugnis aus, dass er den Rudimenten der historischen Kritik ahnungslos gegenüber steht.

Übrigens kann niemand richtiger als er selbst seine Arbeitsweise bezeichnen. Was er gibt, ist in der Tat nur eine Auswahl von Daten, Exzerpten und Ausschnitten nach dem von Döllinger früher aufgestelltem Muster, welche ihm geeignet erscheinen, die ihm von seiner Weltauffassung diktierte Geschichtsbetrachtung zu belegen: so dass die Gegner derselben in jeder Weise diskreditiert, die Anhänger in jeder Weise herausgestrichen werden. Es fehlt nicht an eigenen Ausführungen; aber abgesehen davon, dass sich ihr Inhalt auf wenigen Seiten rekapitulieren lässt, werden sie auch äußerlich von dem fremden Material völlig überwuchert. Man wird gering rechnen, wenn man von den fast 1.900 Seiten der drei Bände 14 bis 1.500 auf Kosten der fremden Federn setzt.

Es versteht sich, dass auf ein solches Buch der Satz „in dem Stil der Mensch“ nicht Anwendung finden kann. Denn dazu würde die Stileinheit gehören, während die Eigentümlichkeit dieses Schriftstellers gerade die Stilvielheit ist. Urkunden, Briefe, Zeitungen, Streit- und Lästerschriften, Chroniken des 16. und Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts haben ihm die Seiten füllen müssen. Im Gegensatz zu Döllinger hängt er die Zeugnisse nicht als Belegstellen Vorbemerkungen an, sondern setzt sie mitten in den Fluss der eigenen Erzählung, als Abschnitt, Satz, Satzglied, oft als einzelnes Wort. Meist sind es Zitate aus Schriftstücken der geschilderten Epoche selbst, doch wählt er auch gerne moderne Zeugnisse. Es ist die bunteste Gesellschaft, die zu uns redet, Papisten und Protestanten, Ausländer und Deutsche, Menschen des 16. und 19. Jahrhunderts, Verehrer der päpstlichen Unfehlbarkeit und die nach nichts als Wahrheit suchenden Vertreter der modernen Geschichtsforschung — sie alle müssen herhalten, um die Wunderblüte des römisch-katholischen Deutschlands zu erheben und das Unkraut und Gift des lutherischen Schismas bloßzustellen. Kaum eine Seite wird statt dieses buntscheckigen Farbengewirres nur Janssens Feder zeigen. So sehr hat er sich von dem fremden abhängig gemacht, dass er selbst da, wo er keine Nebenabsichten verfolgt und ohne Mühe aus dem eigenen Sprachschatz ausreichende Wendungen schöpfen konnte, sich mit Gänsefüßchen vorwärts hilft *).

*) Um die Bedeutung der Schlacht von Pavia zu kennzeichnen, schreibt er: „Auch für Deutschland war der Sieg bei Pavia ,ein gar wichtig und erfolgreich Schlachtenglück' . . . Aber Karl war ,von seinem Glücke in keinem Wege betaumelt' . . . Der Kaiser wollte die Gefangenschaft seines langjährigen Gegners nicht ,zu dessen Vernichtung benutzen', sondern denselben nur so schwächen, dass er nicht fürder mehr als ,Störenfried der Christenheit' die allgemeine Ruhe Europas gefährden könne . . . Aber die Furcht, dass Karl auch Mailand mit seinen Reichen vereinigen könne, ,beherrschte die Seele des Papstes'.“ 3. Band, S. 1 — 4.

Niemand wird nun sagen dürfen, dass für eine Epoche so gewaltiger geistiger und politischer Umwälzungen, wie die von Janssen geschilderten hundert Jahre, 1.500 Druckseiten eine große Vorarbeit darstellen, und dass die Literaturverzeichnisse, welche an der Spitze der Bände prunken, einen ungewöhnlichen Aufwand von Gelehrsamkeit bezeichnen. Die Verwertung von archivalischem Material ist für die vorliegenden Bände geradezu dürftig zu nennen; sie beschränkt sich auf wenige Aktenstücke aus den Frankfurter, Luzerner und Trierer Sammlungen. Wenn Janssen für die folgenden drei Bände 300 durchgearbeitete Konvolute zählt, so wird auch das auf Kenner geringen Eindruck machen: 300 Archive mit 30.000 Konvoluten möchten dem Umfange des Forschungsgebietes vielleicht genügen. Selbst wenn uns der ungeheure Stoff in der gedrängtesten Verarbeitung geboten wäre, dürften wir über den Umfang nicht erstaunen und nur in der Neuheit von Tatsachen und Auffassung das eigentümliche Verdienst zu suchen haben. Nimmt doch die Gedankenfülle, welche Ranke allein über die zweite Hälfte des Zeitalters in seiner Deutschen Geschichte ausgebreitet hat, kaum weniger Raum in Anspruch. Da nun aber bloß etwa der vierte Teil des Inhaltes auf Janssens eigene Rechnung kommt, so hat er kaum etwas anderes als einen kurzen Abriss geben können, der äußerlich sogar von der betreffenden Partie in dem großen Weber übertroffen wird *).

*) Ich würde auf diese augenfälligen Mängel des Werkes nicht so ausführlich aufmerksam machen, wenn die Gelehrsamkeit desselben bloß von den namenlosen Skribenten in Tages- und Unterhaltungsblättern betont wäre, von wo sie durch die Reklamen des Verlegers und der Parteipresse nach allen Seiten verbreitet sind und das urteilslose Publikum vielfach kaptiviert haben. Leider aber haben auch wissenschaftliche Zeitschriften und sogar gelehrte Werke diesem Buche die Ehre wissenschaftlicher Behandlungsweise zuteil werden lassen oder gar die Tiefe des Studiums und die Originalität und Kunst seiner Darstellung lobend hervorgehoben. Hier sei nur das Urteil Maurenbrechers in seiner „Geschichte der katholischen Reformation“ 380 Anm. zu S. 62 zitiert: „Das Lob ausgedehnter Belesenheit und sorgfältiger Studien wird man dieser Darstellung nicht bestreiten dürfen, wenn man auch die einseitige Tendenz, der das ganze Unternehmen dient, nicht billigt. Ja, ich halte es geradezu für verdienstlich, dass J. die reformatorischen Bestrebungen vor Luther und die geistigen wie kirchlichen Zustände in Deutschland beim Ausgang des Mittelalters zu schildern versucht in völliger Selbständigkeit von dem Urteil der protestantischen Reformatoren: dass auf diese Weise die Dinge vielfach sich günstiger darstellen als in der bisher üblichen Beleuchtung, stimmt mit den Ergebnissen meiner eigenen Arbeiten überein. Aber J. übertreibt das günstige Bild, indem er alle Schatten unterdrückt oder abschwächt, alles Licht steigert und erhöht.“ Wenn M. weiterhin meiner Anzeige in der H. Z. (37,523) ein „Übermaß der Polemik“ vorwirft, weil ich es getadelt, dass J. nicht von Erasmus, Hütten, den epist. obsc. viror. und ähnlichem geredet habe: „es lag auf der Hand, dass nach J.s Plan alles das Vermisste dem 2. Bande vorbehalten sein musste; und dort hat es seine Stelle gefunden“ — so verkennt er den Sinn des betreffenden Satzes und der Anzeige überhaupt. Dass J. die sog. „jüngere Humanistenschule“ aus seinem Werke heraustun würde, habe ich weder gesagt noch geglaubt, sondern nur ihre Entfernung aus dem Zusammenhang, in den sie gehören, bloßstellen, die Zerreißung der historischen Kontinuität nach willkürlichen Gesichtspunkten, eben den „Plan“ J.'s charakterisieren wollen.

Lenz, Max (1850 in Greifswald-1932) Historiker

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01. Luther in 1526

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Bogislaw X. (1454-1523) Herzog von Pommern

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Bugenhagen, Johannes (1485-1558) Bedeutender Reformator und Weggefährte Martin Luthers

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Georg I. (1493-1531) Herzog von Pommern

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Luther, Anschlag der 95 Thesen

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Luther, Armut

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Luther, Auf dem Sterbebett

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Luther, der Anruf von Gott

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Luther, der Reichstag zu Worms

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Luther, die Bibel

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Luther, Die Hochzeit

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Luther, die Schule

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Luther, Erniedrigung

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Luther, Haus- und Familienleben

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Luther, Lutherzimmer auf der Wartburg

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Luther, Verbrennung der päpstlichen Bulle

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Hutten, Ulrich von (1488-1523)Humanist, erster Reichsritter, Schriftsteller

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Philipp I. (1515-1560) Herzog von Pommern-Wolgast

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Philipp Julius (1584-1625) letzter Herzog von Pommern-Wolgast

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RA 002 Luther

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Reformationszeit, Die Heroen der Naturwissenschaft

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