Kleine Historische Schriften - Band I. - 02 Zum Gedächtnistag Johann Gutenbergs.

Vom Werden der Nationen
Autor: Lenz, Max (*1850 in Greifswald-†1932 in Berlin) Historiker, Professor, Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gutenberg, Buchdrucker, Buchdruck, Reformation, Reformationszeit.
In dieser festfrohen Zeit endlich einmal ein Tag, an dem es sich lohnt, vergleichend Rückschau zu halten, und der von uns heischt, dass wir in frohem Selbstbewusstsein des hohen Namens dankbar uns erinnern, dem er gewidmet ist! Es ist der Gedenktag eines deutschen Bürgers, und darum ziemt es sich, dass vor allem die Bürgerschaften in den Zentren deutscher Arbeit das Fest begehen; es ist die Erinnerung an die Siegeszüge des weltverbindenden Gedankens, und darum bedarf es bei dieser Feier nicht so sehr, wie an den Tagen nationaler Siege, der Teilnahme und pomphafter Manifestationen der staatlichen Organe. Und dennoch ist dieser schlichte Mainzer Bürger, dessen Leben in der Enge zweier deutscher Reichsstädte hinging, dessen persönliches Gedächtnis bald so sehr in den Schatten trat, dass erst mühsame Forschung aus dürftigen Urkunden es neu beleben konnte, dessen Züge wir nicht einmal kennen (denn alle Bilder, die wir von ihm haben, sind Phantasiewerk), ein Weltbezwinger gewesen, dessen Siege alle Eroberungen der Weltgewaltigsten hinter sich lassen, und das Blei der Lettern, die er goss, hat nach dem alten Worte wahrlich kräftiger gewirkt, als das der Kartätschen. Mit Recht rühmt sich unser Jahrhundert der Triumphe seiner Technik und lässt sich vor andern gern als das Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen feiern. Sie erst haben es ermöglicht, dass der Erdball den europäischen Nationen und wer ihres Geblütes ist, völlig Untertan wurde. Alles, was an der herrschenden Zivilisation teilhaben, was sein Selbst behaupten will, muss sich ihnen unterwerfen, die Naturvölker kaum erforschter Kontinente ebensowohl wie die Rassen von uralter Kultur; rascher als in irgendeiner früheren Epoche pulsiert unter dem Druck ihrer von außen stoßenden, unwiderstehlichen Kräfte das historische Leben; immer eiliger laufen in dem großen Gewebe die Fäden, immer neue treten hinzu, immer wirrer schießen sie durcheinander, und dennoch tritt uns immer einheitlicher und geschlossener das Ganze vor Augen. Aber was will das alles sagen gegen die Grundbedeutung, die Gutenbergs Erfindung gehabt hat, gegen den Umschwung des allgemeinen Lebens, der von dem Momente ab begann, als er im Sommer 1450, genau vor 450 Jahren, mit seinem Mitbürger, dem kapitalkräftigen Johann Fust, den Vertrag schloss, der es ihm ermöglichte, wie es in einem seiner Drucke heißt, die Bücher „nicht mit Hilfe des Schreibrohrs, des Griffels oder der Feder, sondern durch das wunderbare Übereinstimmen, Verhältnis und Maß der Matrizen und Formen zu drucken und zu vollenden“. Diese Erfindung war es, welche die europäischen Nationen mit dem vornehmsten Werkzeuge, um sich den Erdball zu unterwerfen, ausgerüstet hat, die allem, was sie schufen und vor sich brachten, erst die Möglichkeit, wenn nicht des Werdens, so doch des Wirkens gewährte; sie ist uns, wie jüngst treffend gesagt wurde, das geworden, was die Elemente für die Natur sind, etwas Unentbehrliches, ohne das zu leben wir uns gar nicht denken können*).

  *) Meißner und Luther, Die Erfindung der Buchdruckerkunst, Leipzig 1900. Auch die anderen Zitate in diesem Essay verdanke ich diesem ausgezeichneten Buch.[/i]

Auch der andere Bahnbrecher, der mit Johann von Gutenberg an den Pforten der neuen Zeit steht, der Entdecker der „Neuen Welt“, Christoph Columbus, er, der so viel Züge mit jenem gemein hat — den einsamen, grüblerisch-bohrenden Geist, den Eifer, der nicht ruht noch rastet, durch keine Enttäuschung sich beugen lässt, und so auch das tragische Entdeckerlos, den Undank der Welt und den Raub der Erfolge durch die Neider und Rivalen — , muss dennoch vor dem Pfadweiser in die Welt der Gedanken zurücktreten. Denn von allem andern abgesehen, wie lange doch hat es gewährt, bis die andere Hemisphäre in die allgemeine historische Bewegung hineingerissen wurde, und wie spät hat sie selbst sich rückwirkend zur Geltung gebracht! Die Inseln, die Colon entdeckte, und die Eroberungen der Cortez und der Pizarros haben auf die Politik Karls V. weniger Einfluss gehabt, als unsere Besitzungen in Afrika und der Südsee auf die unserer Regierung. Mochte er sich Herr beider Indien nennen, der Umkreis seiner Interessen beschränkte sich für Kaiser Karl wesentlich auf Europa; nicht einmal das Edelmetall der neuentdeckten Länder, das schon Columbus zu seiner verwegenen Fahrt anreizte, und das nach ihm immer neue Scharen von Konquistadoren über das Meer trieb, war für ihn wie für seinen Nachfolger von großer Bedeutung. Erst mit der Besiedelung des neuen Kontinentes durch die germanisch-protestantische Rasse, mit dem Eintritt Englands in den Kampf gegen Spanien und die ihm folgenden kolonisierenden Nationen beginnt die Rückwirkung; doch auch noch im 17. Jahrhundert wird die europäische Welt wesentlich durch die in ihrem Umkreis wirkenden Elemente bewegt, und neue Generationen mussten vorübergehen, ehe sich die Neue Welt von ihrer geistigen und selbst der wirtschaftlichen Abhängigkeit hat losreißen und originale Kräfte hat entfalten können. Die Erfindung Gutenbergs dagegen wirkte von Anfang an mit überwältigender Kraft. Seitdem die Schüler und Gesellen des alten Meisters, nach der Eroberung von Mainz durch Erzbischof Adolf (1462), in alle Welt zerstreut waren, eroberte die „deutsche Kunst“ wie im Fluge alle Länder abendländischer Kultur; im dritten Jahrzehnt nach der Erfindung saßen schon deutsche Drucker und Buchführer, glücklicher als ihr Lehrherr, in Paris und Rom, in London und Toledo, in den Hauptstädten Italiens, überall im Reich und bis hinauf nach Dänemark und Schweden; auf 25.000 berechnet man heute die Zahl der Bücher, die noch im 15. Jahrhundert gedruckt wurden, auf 12 1/2 Millionen ihre Exemplare. Dann aber, in dem neuen Jahrhundert, das den Sturz der alten Kirche sah, kamen erst die wahrhaft großen Erfolge. Für die Ausbreitung der neuen Ideen wurde die Entdeckung des Mainzer Bürgers der gewaltigste Hebel. Nur die Druckerpresse hat es ermöglicht, dass die 95 Thesen Martin Luthers in 14 Tagen, „als ob Engel die Boten wären“, durch Deutschland getragen wurden; und sie war die Fackel, deren weithin zerstiebende Funken in den 12 Artikeln der rebellischen Bauern den ungeheuren Brand entfachten, der das Leben der Nation einen Moment mit Vernichtung bedrohte: als ob das pessimistische Wort, mit dem Luther sie nannte, wahr werden sollte, dass sie das letzte Auflodern der Welt sei vor ihrem Erlöschen. Aber zu gleicher Zeit öffnete sie tausend Wege, auf denen das Wort, an das der Reformator glaubte, in die Herzen seiner Deutschen einzog, und die Gedanken, die die Welt erneuert haben, Macht und Leben gewannen. So hat sie die Gedankenwelt jener Tage befruchtet und beflügelt, dass sie wie eine Windsbraut über alle Lande dahinfuhr, und ist eine Kraft geworden gleich groß zum Schaffen und zum Zerstören, wie alles, was Menschenwitz erfindet.

Nicht als ob die Reformation ausgeblieben wäre, wenn Gutenberg nicht gelebt hätte. Deren Ursachen liegen tiefer. Alle geistigen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, die unaufhaltsam auf sie hinarbeiteten, waren bereits da, als jener über seine Erfindung sann, und reichen weit über seine Lebenszeit zurück. Er selbst aber blieb von dem neuen Geist, wie gewaltig dieser sich regen mochte, unberührt. Nehmen wir wahr, dass seine Erfindung in die Epoche fällt, da der Humanismus in Italien in seiner Vollkraft stand und nördlich der Alpen seine ersten Blüten trieb! Eben Gutenbergs Generation hat in unserem Vaterlande seine ersten Träger gestellt; und gerade in den Reichsstädten des Westens und Südens finden wir die frühesten Regungen des neuen Geistes auf deutschem Boden. Längst war die Opposition gegen Rom erwacht; ja, sie hatte sich niemals radikaler und in allen Schichten und Provinzen der Kirche allgemeiner gezeigt als in den Jahren seiner Jugend und Mannheit zur Zeit des Konstanzer und des Baseler Konzils; die Städte, in denen er wirkte, waren fast die Zentren dieses Widerstandes gewesen, und zu seinen Landsleuten zählten Männer wie Johann Wessel, die als wahrhafte Vorläufer Martin Luthers bezeichnet werden können. Aber nichts in seiner Arbeit und in dem, was wir von ihm wissen, deutet darauf hin, dass er diesen Neuerern nahe gestanden hätte. Es ist wahr, das erste Buch, das er unter die Presse brachte, war eine lateinische Grammatik; aber es war der Donatus, das unzählige male abgeschriebene Handbuch des Mittelalters, gegen dessen geistlose Methode alle Humanisten eiferten. Das zweite Druckerzeugnis, das seine Presse verließ, war ein Ablassbrief, in dem ein geistlicher Rat König Lusignans von Cypern im Namen des Papstes allen den Christgläubigen die Vergebung der Sünden verhieß, die innerhalb dreier Jahre das Kreuz gegen Türken und Sarazenen nehmen würden. Es folgten eine Mahnung zum Kampf wider die Ungläubigen, Bibeldrucke, jedoch der Vulgata, des Textes der Kirche, Psalterium und Missale, scholastische Schriften theologischen oder juristischen Inhalts; aber der große Meister war längst aus seiner Werkstatt verdrängt, als Fust und Schöffer zum erstenmal ihr Glück mit einem klassischen Werk, den Officien Ciceros, versuchten. Wir erkennen, was diese ersten Drucker anstrebten, was Gutenberg selbst zum Erfinder gemacht hat: das, was alle Welt gebrauchte, wollte er ihr geben; nicht sowohl die Verbreitung der Ideen als die Befriedigung des Massenbedürfnisses war sein Ziel; wie es schon die Absicht der Briefmaler, der Holztafeldrucke und Blockbücher gewesen war, die vor oder auch nach der Entdeckung des Druckes mit den beweglichen metallischen Lettern sich auftaten. Nichts ist hierfür bezeichnender, als dass die ersten Einzelblätter des Holztafeldrucks Heiligenbilder waren — und Spielkarten. Überhaupt aber sind die Drucke, welche die Mainzer Presse verließen, ein redendes Zeugnis dafür, wie eng noch zu ihrer Zeit das deutsche Leben von den hierarchischen Formen umschlossen war, wie selten und ungehört die Humanisten und wie gering das Bedürfnis war nach reinen Quellen der Bildung. In Italien lebte der neue Geist schon weit über 100 Jahre; Schriftsteller hatten dort geblüht, zu denen alle Jahrhunderte seither mit Ehrfurcht emporschauen ; alle Stufen von dem engen Anschluss an die mittelalterliche Weltanschauung bis zur zersetzenden Skepsis hatte der Humanismus dort bereits durchlaufen. Auffallend genug, dass die Italiener, die alle Klosterbibliotheken Deutschlands nach den alten Codices durchstöberten und selbst so unermüdlich im Abschreiben der Klassiker und in der Füllung ihrer Bibliotheken waren, dazu Beobachter und Forscher von größter Sicherheit und feinster Spürkraft, unter denen die reichsten Künste, wenn nicht des Griffels, so doch des Pinsels und des Meißels blühten, und die mit einem Wort die Bahnbrecher der neuen Bildung waren, nicht dies gewaltigste Werkzeug zu ihrer Ausbreitung erfunden haben. Aber freilich, die italienische Bildung selbst war nur die einer Klasse, einer dünnen und von dem Körper der Nation fast losgelösten Schicht: ihre Träger hatten gar nicht das Bedürfnis, in die Tiefen herunterzusteigen; sie wollten weniger lehren als genießen; sie waren die feinste Blüte ihrer Nation, aber es fehlte der breite und tiefe Boden, in dem sie hätten Wurzel schlagen können. Und diese geistigen Aristokraten glaubten, da sie den Fürsten und Magistraten und endlich auch dem obersten Hirten der Christenheit und seinem ganzen Hof so nahe standen, dass sie die Masse übersehen und entbehren könnten. So mussten sie wohl absterben, sobald sich ihre Freunde von ihnen trennten und der Boden, der sie alle trug, sich wieder mit dem nie ganz überwundenen Geiste erfüllte, dem am Ende auch sie sich wieder unterwerfen mussten. In Deutschland hingegen war von jeher, wie in den Benediktiner- und Zisterzienserklöstern des Mittelalters, so jetzt in den Städten ein zunächst freilich engerer, in sich gekehrter, aber auf den Kern gerichteter, ernst und methodisch arbeitender Geist lebendig. Er ward auch dann nicht ertötet, als der volle Strom der italienischen Bildung vor allem doch wieder kraft der neuen Erfindung nach dem Norden hinüberdrang. Denn nun bemächtigte sich das literarische Italien der deutschen Kunst. Aldus Manutius errichtete in Venedig die Druckerei, aus der die Klassiker in Masse hervorgingen. Aus seinen schönen Ausgaben haben die Deutschen, mochten sie in ihren Städten bleiben oder in das gelobte Land der Bildung hinüberwallen, gelernt, bis der neue Geist in ihrem Vaterlande selbst erstarkt war und die deutschen Drucker die Klassiker unter ihre Presse brachten. Auch jetzt blieb den meisten der deutschen Humanisten der bürgerlich-beschränkte, methodisch-lehrhafte Sinn eigen; von Anfang an richteten sie ihr Augenmerk auf die Belehrung des Volkes, auf die Errichtung und die Reform der Schulen. Und so erwuchs aus der Verschmelzung der von italienischem Geiste befruchteten Antike und des tiefsinnigen, auf die Quellen religiöser Bildung gerichteten deutschen Charakters die Reformation, die den Genius unseres Volkes zu seiner höchsten Entfaltung und zur universalen Erneuerung des christlichen Geistes geführt hat.

Johann Gensfleisch zum Gutenberg aber, der Mainzer Bürger, war ein Handwerker, und so ist auch seine Kunst ein Werkzeug geblieben. Die positive, frei wirkende, von innen her schaffende Kraft war nicht in ihm und seinem Werke, es müsste denn sein, dass die Massen Wirkung, die es gehabt und von Anfang her angestrebt hat, selbst als eine positive Kraft gelten sollte. Aber der Geist, der die Tiefen bewegt, führt auf Quellen zurück, die jenseits aller Technik hegen. Das Altertum, das die Kunst des Drückens noch nicht kannte, hat dennoch in den Künsten und auf allen Gebieten des geistigen Schaffens Formen und Gedanken hervorgebracht, in denen wir noch heute unsere erhabensten Vorbilder verehren; und das 19. Jahrhundert, so glänzend und vielgepriesen es um seiner technischen Errungenschaften willen dastehen mag, hat nur Ursache, auf die vergangenen, so viel ärmeren und beengteren Zeiten, in denen aber der Geist seine mächtigen Flügel geregt hat, mit Ehrfurcht zurückzuschauen. Die Technik kann die Güter gewaltig vermehren, sie mag die Kräfte des Menschen in ungeahntem Maße beflügeln, aber sie vermag nicht aus eigener Kraft das Reich des Idealen zu gestalten. Ihre Kunst bewährt sich, um die Massen zu bezwingen, die Ideen zu verbreiten. Stärke in allen Sphären des Daseins zu erzeugen; aber dem Reiche der Ideen gegenüber ist sie an sich neutral: unermesslich in ihrer Bedeutung als Hilfskraft, ist sie an sich selbst ohnmächtig, sobald es gilt, den Tiefen des Lebens nachzugehen. Sie kann schaffen, hemmen und zerstören, den Geistern des Fortschritts dienen und denen der Verneinung. All die assimilierende, völkerverbindende Kraft, die man ihr wohl zuschreiben möchte, ist nicht imstande gewesen, die Ideale des Weltfriedens und der Humanität, die das 18. Jahrhundert hervorrief und predigte, zu erhalten: vielmehr haben alle Errungenschaften ihrer Art nur dazu gedient, den Streit, der die Welt erfüllt, unerbittlicher und ungeheurer zu machen als je und den nationalen Egoismus, der heute das Wort führt, mit immer stärkeren Waffen auszurüsten. Aber nicht auf Verbreiterung des menschlichen Wissens und Könnens, die nur zu leicht Verflachung wird, kommt es in letzter Linie an, sondern auf ihre Vertiefung. Und nur wer die Idee um ihrer selbst willen liebt, in den Studien wie im Leben, wird die Kraft ermessen können, die in der Tiefe ruht, und die zuletzt auch der Welt der Erscheinungen, dem Leben der Staaten und der Nationen wie jedem Einzeldasein zugrunde liegt und sie im Innersten zusammenhält.

Lenz, Max (1850 in Greifswald-1932) Historiker

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Gutenberg, Johannes (um 1400-1468) Erfinder des modernen Buchdrucks mit beweglichen Lettern und der Druckerpresse

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HERE I STAND, LUTHERS BIBLE

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Martin Luther, the Man and his Work

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RA 022 Luther Martin

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