Fortsetzung

Vom Winde geschwellt blähten sich die Segel und dahin, so schnell wie es gekommen, verschwand das Fahrzeug im Dunkel der Nacht. Störtebeker hatte seinen Raubzug beendet.

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Auf der Insel Usedom, dort, wo jetzt Heringsdorf mit seinen eleganten Villen und vornehmen Hotels aus dem grünen Buchenwald hervorleuchtet, dort lag zu jener Zeit, dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts, nur ein dichter Wald, den große, weite Moorstrecken durchquerten. Wilde Tiere, Füchse und Wölfe, fanden hier eine sichere Zufluchtsstätte und hatten auch die Wölfe unter den Menschen, die Seeräuber, hier einen sichern Schlupfwinkel gefunden. Klaus Störtebeker war direkt von Kammin hierher gesegelt. Von einem günstigen Winde getragen, lief sein Schiff, wohlbehalten durch Klippen steuernd, in den versteckt hinter Felsen liegenden Hafen ein.

Gestrüpp und Dornenhag verbargen den Eingang einer tief in die Felsen hineinragenden Höhle. In dieser fand Helga Petersdorf das Bewusstsein wieder. Sie ruhte auf einem Lager von weichen Fellen. Mattes, rotes Licht erhellte den ziemlich wohnlich eingerichteten Raum, dessen Wände mit kostbaren, doch vom Moder zerfressenen türkischen Teppichen behangen waren. Von der Decke hing an einer eisernen Kette eine Lampe herab. Helga war allein. Verwundert richtete sie sich empor und ein fast irrer Blick streifte ihre Umgebung.

„Wo bin ich? Hier ist mir so fremd, so seltsam — Muhme Ursula — Vater!“ rief sie, über ihre noch schlaftrunkenen Augen streichend; doch Niemand erschien auf ihr wiederholtes banges Rufen. Plötzlich vernahm das junge Mädchen eine Stimme:

„Heda, Ihr Tagediebe, noch nicht an der Arbeit!“ schallte es zornig zu der Einsamen hin, und mit einem Male erkannte Helga die Stimme, wusste sie, was mit ihr geschehen.

„Don Guzmann, der Schreckliche!“ lispelte sie, sich entfärbend. Da bewegte sich der türkische Vorhang und herein schaute das gerötete Antlitz Don Guzmanns: „Ah, Täubchen, endlich erwacht, schöne Maid?“ rief er sichtlich erfreut.

Helga sprang empor und ehe der Eintretende ahnte, was geschah, lag das junge Mädchen ihm weinend und flehend zu Füßen.
„Lasst mich heim! Lasst mich heimgehen. Don Guzmann erbarmt Euch meiner Angst.“

Doch dieser lachte ihr frech ins Angesicht. „Ah, Schätzchen, Don Guzmann lasse bei Seite, dies ist nicht mein Name. Ich bin — ja höre und staune, ich bin Klaus Störtebeker, der Seeräuber!“

„Gott, meine Ahnung — meine Ahnung!“ lispelte Helga, zusammensinkend. Klaus Störtebeker fasste ihre Hand, aber wie von einem Schlangenleib berührt, schnellte Helga jetzt empor.

„Rühr' mich nicht an, Bösewicht, rühr mich nicht an!“ schrie sie, atemlos vor Angst und Abscheu. „Ja nun erkenne ich Dich — aber lass Dich erbitten, führe mich heim nach Kammin und ein reiches Lösegeld ist Dir gewiss!“

„Wer sagt, dass ich ein Lösegeld begehre? Dich — Dich allein, Du schöne, weiße Taube will ich mein nennen. Dein Auge soll mir in Liebe erstrahlen, Deine zarten Hände sollen mir die Falten von der Stirn glätten nach des Tages Last und Mühe, Deine süße Stimme soll mich in Schlummer singen, wenn böse Gedanken mein Hirn umnebeln!“

Helga hatte entgeistert, zu einem Marmorbild erbleichend, zugehört. Jetzt überkam sie der Mut der Verzweiflung. Mit einer Kraft, die Niemand dem zarten Weibe zugetraut, stieß sie Klaus Störtebeker von sich und wollte an ihm vorüber das Freie gewinnen. „Ah, schaust Du so aus, flüchten willst Du, schöne Helga; dann gibt es noch Mittel und Wege, um solche Gelüste zu brechen!

Der Seeräuber nestelte an der Steinwand. Ein Geräusch wie sich aufwindender Ketten ward hörbar, und knarrend, krachend fiel ein eisernes Gitter von der Höhe der Höhle herab.

„So — dieser Käfig ist stark genug, um Dich zu halten, versuch es nur, Schätzchen. Deine zarten Finger können diese Eisenstangen nicht biegen, aber sei klug, ich rate es Dir — sei klug. Zeige mir ein heiteres Gesicht, sei mein Liebchen, und jenes Gitter verschwindet und Du bist unsere Herrin, die schöne Räuberbraut!“

Helga verhüllte ihr Gesicht, sie schluchzte schmerzbewegt auf. Dann huschte ein ganz leises Lächeln über ihr schmerzverzogenes Gesicht, ein Gutes hatte das Eisengitter — so wie sie es von der Außenwelt abschloss, so trennte es auch das Opfer von seinem Peiniger. „Wirst Dich wohl anders besinnen, schöne Helga!“ höhnte Klaus Störtebeker.

„Niemals — niemals — eher sterben!“

„Es stirbt sich nicht so leicht, schöne Taube. Der Hungertod tut weh. Ich lasse Dir Zeit, Dich zu besinnen!“

Der Seeräuber ging. Helga blieb allem. Verzweiflung erfasste sie, sie wütete gegen sich selbst und schlug ihr Köpfchen an dem Eisengitter wund. Sie tobte — schrie, doch alles war umsonst. Niemand erschien auf ihr Schreien. Um sie her herrschte die unheimliche Ruhe eines verlassenen Friedhofes. Bald lehnte Helga abgespannt auf dem Ruhebett, sie dachte nach. Hierbleiben konnte sie nicht. Der Abscheu vor des Seeräubers Nähe steigerte sich von Minute zu Minute. „Otto, geliebter Otto — rette Du mich! Rette Deine Helga vor Schmach und Elend!“ flüsterte sie, „ach, er ist tot. Der Bösewicht hat ihn ermordet! Nimmer dringt mein Hilferuf an sein Ohr!“ klagte die Unglückliche.

Mehrere Male erschien Klaus Störtebeker hinter dem Gitter, er fragte, ob Helga nun vernünftig geworden. „Bis morgen früh gebe ich Dir Zeit zum Besinnen — dann —“

„Was dann?“ fragte Helga, von Angst geschüttelt.

„Dann frage ich nicht mehr — sondern handele!“

Wieder war Helga allein. Auf dem kalten Fußboden hingestreckt, lag sie im heißen Gebet. Wund rang sie sich die zarten Hände — doch kein Engel erschien, kein Wunder geschah, sie aus der Gefangenschaft zu erlösen.

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Für Helga brach eine entsetzliche Nacht herein. Hohl rauschte die Brandung, schaurig klagend heulte der Wind über die aufgeregte See, dazwischen aber, und dies dünkte Helga schrecklicher als das Toben der Elemente, vernahm sie wilde, gotteslästerliche Flüche der Seeräuber. Würfel klapperten, Becher klirrten — doch allmählich ward es ruhiger, die Stimmen entfernten sich, und nun versuchte auch Helga einzuschlummern, aber immer wieder schreckte sie aus dem unruhigen Schlummer auf. Der helle Strahl einer Laterne weckte Helga aus dem kurzen Schlummer, in den sie gegen Morgen aus Abspannung gefallen. Klaus Störtebeker stand in einem dunkeln Lederkleide, zum Einschiffen bereit, vor ihr.

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„Endlich, Dein Schlaf war fest—“

„O wäre ich hinübergeschlummert!“ lispelte Helga.

Aus des Seeräubers Augen strahlte eine heiße Glut; er neigte sich über die Ruhende. „Komm, schöne Räuberbraut, küsse mich! Mich dürstet nach Deinem Kuss!“ rief er; von Leidenschaft verblendet neigte er sich immer tiefer über Helga, schon fühlte sie seinen heißen Atem auf ihrer Wange wehen, da sah sie den Knauf eines Dolches in seinem Gürtel. Schnell, wie ein Gedankenblitz, entriss sie ihm die Waffe.

„Ah — nun werde ich frei!“ jubelte sie hell auf.

„Gib den Dolch zurück — gib her!“ schrie Störtebeker wild.

Ein verzweifeltes Ringen begann, Helgas Gewandtheit hielt der überlegenen Kraft des Mannes das Gleichgewicht. Doch schon fühlte die Unglückliche, wie ihr Arm erlahmte, wie ihre Kraft schwand.

Jetzt galt es eine letzte Möglichkeit zu erspähen. Das eiserne Gitter war hinter Störtebeker nicht geschlossen, rasch ersah Helga einen günstigen Moment, und ehe der Räuber ahnte, was sie im Schilde führte, flog sie an ihm vorüber, dem Ausgang der Höhle zu.

„Verdammt, sie entwischt mir!“ schrie der Räuber. Die fliehende Helga hatte soeben den freien Wald erreicht. Einen Augenblick hielt sie in ihrer Flucht inne — dort vor ihr, über der noch in tiefem Schatten liegenden See, ging in goldener Pracht die Sonne auf. Rosige, zarte Wolken bedeckten den Himmel, und jetzt — jetzt zitterte der erste Sonnenstrahl, Wasser, Himmel und Erde erhellend, gleich einem goldenen Pfeil zu Helga hinüber. Aufatmend schaute sie in das helle, goldene Licht, doch dieser eine Augenblick genügte, um sie alsbald wieder in die Gewalt ihres Feindes zu bringen.

„Jetzt halte ich Dich — nun bist Du mein!“ schrie er triumphierend aus.

„Noch nicht — Sonne, leb wohl — Nacht, nimm mich auf!“ rief Helga, und ehe Störtebeker es verhindern konnte, stieß sie sich den Dolch tief in die Brust.

„Helga — Wahnsinnige — halt ein, halt ein!“ schrie der Erschrockene; da flog ein mildes Lächeln über des Mädchens Antlitz, sie sank zu Boden; doch ihr Auge hing fest, wie gebannt, an der aufsteigenden Sonne.

„Zu spät, Dein Dolch traf gut! Nun bin ich frei! Otto, ich komme, ich folge Dir — heilige Mutter Gottes, nimm meine Seele gnädig an! Otto — ich — blieb Dir — treu — rein gebe — ich meine Seele — dem Schöpfer — zurück—“

Dann noch ein letztes Aufzucken und die schöne Helga lag tot zu Störtebekers Füßen.

„Helga — stirb nicht — stirb nicht!“ schrie dieser verzweifelt auf, doch sein Opfer hörte ihn nicht mehr. Nur mechanisch bewegte sich die kleine Hand nach dem Herzen, aus dem rotes Blut hervordrang — es rieselte über Helgas weißes Kleid — es so mit roten Blutrosen schmückend.

Die Höhle des berüchtigten Seeräubers ist heute noch zu sehen; auch hat man viele, viele Jahre hindurch die Gestalt der unglücklichen Helga im weißen Kleide auf den Dünen zwischen Heringsdorf und Ahlbeck im ersten Morgengrauen wandeln sehen. Sobald der erste Sonnenstrahl die Gegend erleuchtete, sank die zarte Mädchengestalt zusammen. Zum letzten Male ward sie im Jahre 1820 gesehen, kurz ehe König Friedrich Wilhelm III. mit seinen Söhnen, dem nachmaligen König Friedrich Wilhelm IV. und unserm allgeliebten Kaiser Wilhelm I. die aufblühenden Fischerkolonien an der Ostsee besuchte. Zu selber Zeit erhielt Heringsdorf durch Kronprinz Friedrich Wilhelm seinen jetzigen Namen. Landhäuser, Villen, Hotels entstanden und als dann die zierliche Kirche, zum großen Teil durch königliche Freigebigkeit erbaut ward, da verschwand die wehklagende Gestalt — denn die unglückliche Helga Petersdorf hatte nun ihre Ruhe gefunden.