Kaiser Nero und Titus

Über Jerusalem hatte der Herr klagen müssen: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Math. 23,37.) Deshalb geriet diese Stadt bald in große Trübsal, und es erfüllte sich über ihr das Wort Jesu: „Es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängstigen, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem anderen lassen, darum dass du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.“ (Luc. 19, 43. 44.)

Zu Rom herrschte der Kaiser Nero, ein grausamer Mann, welcher nicht bloß die Apostel Paulus und Petrus hinrichten ließ, sondern auch die christliche Gemeinde in Rom hart verfolgte. Als er einst aus bloßem Übermute die Stadt hatte anzünden lassen, und das Volk darüber ergrimmt war, beschuldigte er die Christen dieser Tat. Und man glaubte ihm, weil damals die Heiden schon einen solchen Hass auf die Gläubigen geworfen hatten, dass man sie „Feinde des menschlichen Geschlechts“ nannte, „die einem abscheulichen Aberglauben anhingen.“ Die Christen wurden daher als Brandstifter ergriffen, in Felle genäht und den Hunden zum Zerfleischen vorgeworfen, oder man bestrich sie mit Wachs, Pech u.vdgl., stellte sie in die Gärten des Kaisers umher, und zündete sie an, so dass sie als Fackeln die Nacht erleuchteten. Drei bis vier Jahre lang dauerten diese Verfolgungen in und außerhalb Roms fort.


Unter diesem Kaiser herrschte im jüdischen Lande ein Landpfleger, der durch gleiche Härte und Schlechtigkeit die Juden zum Aufstande gegen die Römer reizte. Das Land geriet in Aufruhr und hörte bald auf diesen, bald auf jenen Betrüger, der es frei zu machen versprach. Parteiungen, Hunger und Erdbeben vermehrten dann noch das Elend des Volkes. Da sandte der Kaiser seine Feldherrn mit einem großem Heere aus, um die Empörer niederzuwerfen, und ein schrecklicher Krieg begann. Trotz des verzweifelten Widerstandes ward das ganze Land bis auf Jerusalem bald bezwungen.

Es war gerade ums Osterfest des Jahres 70, als der Feldherr und spätere Kaiser Titus sich zur Belagerung dieser Stadt anschickte, in der zwei und eine halbe Million Menschen zusammengeströmt waren. Titus, ein milder und edler Mann, hätte die Stadt und ihre Bewohner gerne geschont; daher ließ er ihnen mehrmals Verzeihung anbieten. Allein die Verblendung und Hartnäckigkeit der Juden war so groß, dass sie darauf nicht hörten, ja, statt ihre ganze Kraft der Verteidigung der Stadt zuzuwenden, mordeten sie innen einander in wütenden Parteikämpfen, und doch durfte Niemand von Übergabe der Stadt reden, da man dem Volke vorspiegelte, der Messias werde nun bald kommen und das auserwählte Volk retten.

Bald stellte sich auch große Hungersnot in der Stadt ein; man sing an, Heu zu essen und am Leder der Schilde zu nagen; Männer entrissen ihren Weibern, und Eltern den Kindern die Speise, ja eine vornehme Mutter schlachtete gar ihr Kind, kochte und verzehrte es. Wer aus der Stadt entrinnen wollte, wurde von den Römern, die einen Wall ringsum gezogen hatten, aufgefangen; viele von ihnen ließ dann Titus, um die Hartnäckigen in der Stadt zu schrecken, an Kreuze rings um die Stadtmauer her anschlagen, so dass bald kein Baum mehr weit und breit zu sehen war. Die Soldaten aber, welche vermuteten, dass die Flüchtlinge ihr Gold und Edelgesteine verschluckt hätten, um sich später die Gefangenschaft damit zu erleichtern, schlitzten ihnen den Bauch auf. Man musste zuletzt die in der Stadt durch Hunger und Schwert Umgekommenen über die Mauern werfen, weil man sie innen nicht mehr alle begraben konnte; es waren wohl sechsmalhunderttausend Leichname. „Nie hat eine Stadt ähnliches Elend erfahren,“ versichert uns ein Augenzeuge, „nie hat es aber auch von Anbeginn der Welt ein Geschlecht gegeben, das furchtbarer an Bosheit gewesen wäre.“

Endlich hatten die Römer mit ihren Sturmwerkzeugen die dreifache Stadtmauer durchbrochen; allein sie mussten nun gegen die Verzweifelten jeden Stadtteil besonders erobern. Zuletzt wogte der Kampf um den Tempel. Titus hatte streng verboten, das herrliche Gebäude selbst zu beschädigen. Indes schleuderte dennoch ein römischer Soldat während des Kampfes eine Fackel in das Holzwerk am Thor, und bald loderte der Brand wild auf. Unter dem Geheul der Juden und dem Kriegsgeschrei seiner eigenen Soldaten forderte Titus vergeblich zum Löschen auf; in wenigen Stunden war der ganze Tempelberg ein Flammenmeer, und von den Stufen des Tempels und Altars strömte das Blut der Erschlagenen. Viele Juden töteten sich selbst oder stürzten sich verzweifelnd in die Flammen. „Niemand kann sich ein furchtbareres Geschrei denken,“ sagt jener Augenzeuge, „als sich von allen Seiten während des Tempelbrandes erhob. Der Siegesruf und der Jubel der Legionen tönte durch das Wehklagen des Volkes auf dem Berge und in der ganzen Stadt. Der Widerhall von allen Bergen umher vermehrte das betäubende Getöse. Doch war der Anblick ebenso schrecklich. Der Berg schien wie mit Einer Flamme von seiner Wurzel an zu brennen; oben sah man nirgends etwas von Erde, Alles war mit Leichen bedeckt; auf diese Haufen tretend, jagten die Soldaten den Fliehenden nach.“

Eine Million und hunderttausend Juden wurden im Ganzen getötet, und siebenundneunzig Tausend gefangen genommen. Einige mussten als Sklaven arbeiten, Andere zur Belustigung der Römer mit wilden Tieren kämpfen. Solch ein Enden nahm Jerusalem und das Judenvolk, das bei der Kreuzigung des Heilands gerufen hatte: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“

Die Christengemeinde zu Jerusalem aber war schon vor dem Ausbruch des Kampfes nach der Stadt Pella ausgewandert, gehorsam dem Gebote ihres Herrn (Matth. 24, 15 16.), und blieb dort von den Gräueln verschont, wie einst Israel zu Gosen.