Kinder der Straße - 102 Berliner Bilder

Autor: Zille, Heinrich (1858-1929), Erscheinungsjahr: 1922

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Vorwort zur 11. Auflage.

Mein lieber Meister Zille!

Also 60.000 "Straßenkinder"? - Wissen Sie, das ist selbst für 'ne Stadt wie Berlin 'ne ganze Menge! Und ich zweifle keinen Augenblick daran: Ihr schönes und einzigartiges Buch wir auch noch die 100.000 erreichen!

Aber das Buch, die "Kinder der Straße" selber! Wie es entstanden ist? Ich glaube, da machen sich Ihre Leser ein ganz falsches Bild davon. Ich weiß es ja, denn wir beide haben sozusagen zusammen angefangen, das Berlin der kleinen Leute künstlerisch und literarisch wieder zu entdecken und neu zu erobern. Was nicht so leicht war! Zuerst wollte nämlich niemand etwas davon wissen! Man war fest davon überzeugt, mit dem seligen Adolph Glasbrenner und seinem confrère, Meister Hosemann, sei der "echte Berliner" für alle Zeiten ausgestorben . . . Wir beide sahen und zeichneten unsere Leute auch ganz anders. Der satirisch-feuilletonistische Stil, den jene beiden vormärzlichen Karikaturisten pflegten, konnte uns nicht mehr genügen; wir wollten ja nicht nur den Berliner Witz konservieren und wieder zu Ehren bringen, wir wollten mehr: ein Bild des untersten Berlins sollte entstehen, aus jener Zeit, die bei allem Aufstieg Deutschlands, der bitteren Not unter den Allerärmsten nicht zu steuern wusste. Ich glaube, wir waren doch schon ein bisschen Propheten, lieber Zille! - Wir sahen die schwärenden Schäden an dem scheinbar so gesunden Volkskörper und haben immer wieder darauf hingewiesen - freilich ohne viel Gehör zu finden! . . . Heute nach dem großen Krieg, der unser Land niedergeworfen hat, heute sehen es auch die, die es damals noch nicht glauben wollten: Das Proletariat ist auf dem Marsche und nichts wird es aufhalten! . . . Ob freilich, um bei Emil Zola zu bleiben, mit dem Proletariat und seinen Zielen auch die letzte große Weisheit und Wahrheit geschritten kommt, das zu entscheiden, ist heute keiner im Stade. . . . Wir lauschen indessen, ob in den Kämpfen, in denen die Volksseele sich aufbäumt, noch jener Ton hörbar ist, der allein hoffen lässt; ob Witz und Humor uns treu bleiben? . . . Uns wahrlich! Unsre Berliner reißen immer noch Witze! Vielleicht sind die "Kalauer" "blutiger" als früher, aber weniger zwerchfellerschütternd sind sie gewiss nicht, als damals, da Adolph Glaßbrenner seinen am Brandenburger Tor haltenden Kremserkutscher sagen ließ: "Mit den da wern Se donich fahren, Ha Jraf! Den sein Pferd hat ja jar keen Vata jetatt, un de Mutter, det war 'ne Esel!" . . .