Die Germanisierung der großen Gebiete im Osten

Die Germanisierung der großen Gebiete im Osten, weit über die heutigen Grenzen des deutschen Reiches hinaus ist ohne Frage die größte Tat des deutschen Volkes im Mittelalter. Sie vollzog sich ohne Zutun von Kaiser und Reich, und um beides haben sich die späteren Hanseaten genau so wenig bekümmert wie Kaiser und Reich um die Hanse. Auch das bedingte einen Gegensatz zwischen dem oberdeutschen und niederdeutschen Kaufmann. Je mehr das Reichsleben sich nach den Staufern auf Südwestdeutschland und die Rheinlande beschränkte, um so stärker wurden die oberdeutschen Gemeinwesen an ihm beteiligt und von ihm in Anspruch genommen. Die norddeutschen standen diesen Dingen fremd gegenüber; ihr Interesse wies sie auf Ost- und Nordsee hin, die politischen Ereignisse in den nordischen Landen berührten sie weit näher. Denn der hansische Kaufmann half nicht nur dem deutschen Ritter und Bauer Ostelbien zu germanisieren, er drang noch weit darüber hinaus in die Nachbarlande vor, und neben den zahlreichen städtischen Neugründungen ans kolonialem Boden entstanden Handelsniederlassungen mancherlei Art in Polen und Russland, in Skandinavien und England, in den Niederlanden. Bereits im 13. Jahrhundert fixierten sich die hauptsächlichsten Richtungen dieses rasch aufblühenden Verkehrs, und mit den jungen und jüngsten Schwestern wetteiferten selbst entlegene Binnenstädte, zumal in Westfalen, bei dem Ausbau der deutschen Handelsvorherrschaft auf den nordischen Meeren.

Die Ausgestaltung dieses Handels im einzelnen zu verfolgen, ist hier nicht der Ort, wohl aber ist darauf hinzuwerfen, dass der Umfang des hansischen Ein- und Ausfuhrhandels im 14. und 15. Jahrhundert, relativ gemessen, kaum geringere Ziffern aufweist als der deutsche Handel zu Beginn des 20. Jahrhunderts; ferner dass speziell die Ostsee damals wie heute die mit am meisten befahrene Wasserstraße war; endlich dass die Massenartikel des täglichen allgemeinsten Bedarfs zu allen Zeiten die Hauptgrundlage eines wirklich gewinnbringenden Verkehrs gebildet haben. Halten wir dies vor Augen, so werden wir die Ein- und Rückwirkungen des hansischen Handels aus den gesellschaftlichen Organismus jener Tage richtiger bemessen, als es noch in jüngster Zeit mehrfach geschehen ist*).


*) Vgl. die treffliche Abhandlung von Keutgen, Hansische Handelsgesellschaften vornehmlich des 14. Jahrhunderts, in der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 4 (1906).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kaufmannsleben zur Zeit der Hanse