Innere und äußere Entwickung

Sehr lebhafte religiöse Kindheitseindrücke waren jahrzehntelang in seiner inneren Entwickelung zurückgetreten. Mit einer sorgfältigen Bildung ausgerüstet, die durch mannigfache Reisen fortdauernd erweitert wurde, hatte er sich zunächst auf poetischem Gebiet versucht, um sich sodann den Ingenieurwissenschaften zu widmen. Er gründete 1716 eine Zeitschrift für Mathematik und Physik, den Daedalus Hyperboreus, in der er sehr kühne Pläne mechanisch-technischer Art entwickelte. Karl XII. ernannte ihn daraufhin zum Beisitzer des königlichen Bergwerkskollegiums in Stockholm. Im Auftrage des Königs war er aber auch bei der Konstruktion von Schiffsdocks, Schleusenanlagen und anderen hydraulischen Arbeiten tätig. Während der Belagerung der Festung Frederikshald an der norwegischen Grenze war er es, der auf Rollmaschinen, die er selbst erfunden hatte, die schwedische Artillerie meilenweit über Berg und Tal beförderte. Aber nicht nur praktisch, sondern auch literarisch war er zu dieser Zeit, abgesehen von der Herausgabe seiner Zeitschrift, mannigfach tätig. Das zeigen seine vielseitigen Publikationen der Jahre 1717 — 1719 aus dem Gebiet der Algebra, der Erdkunde, der Münzkunde und der Astronomie. 1719 in den Adelsstand erhoben, wurde er dadurch dauerndes Mitglied des Reichstags und betätigte sich als solches auch mehrfach in politischen Fragen. So hat er z. B. noch im hohen Alter sehr gründliche Memoranda in Finanzfragen geliefert.

1721 — 1722 sehen wir ihn auf einer großen Reise nach Holland und Deutschland begriffen. Er besucht die wichtigsten Bergwerke und Hütten, findet aber dazwischen noch Zeit zu literarischen Publikationen. So hat er in Amsterdam binnen Jahresfrist nicht weniger als fünf Schriften veröffentlicht. Sie sind zum großen Teil technischen Inhalts. In einer derselben, dem prodromus principiorum rerum naturalium, zeigt sich aber schon der Übergang zur Naturphilosophie, die er später weiter ausbauen sollte. Sein Beruf führte ihn naturgemäß auch zur Mineralogie, speziell zur Kristallographie, einer Wissenschaft, die ihm, wie es heißt, sehr wertvolle Erkenntnisse zu verdanken hat.


1733 — 1734 ist er wieder auf Reisen und literarisch aufs eifrigste tätig. In Dresden und Leipzig veröffentlicht er in drei Foliobänden sein naturphilosophisches Hauptwerk, die opera philosophica et mineralia. Trotz aller teils tiefsinnigen teils willkürlichen Spekulationen, die diese Bände enthalten, hat Swedenborg doch die Erfahrung als den Ursprung all unseres Wissens nicht gering geschätzt. So ist es interessant zu sehen, wie beispielsweise neuerdings von medizinischer Seite seine hervorragenden Verdienste um die Gehirnphysiologie gewürdigt werden. Insbesondere hat auf dieselben der Anatom Retzius in einem Vortrage vor der anatomischen Gesellschaft in Heidelberg 1903 aufmerksam gemacht. Swedenborg ist z. B. der erste gewesen, der den Sitz der höheren psychischen Tätigkeit ausschließlich in die Gehirnrinde verlegt hat.

Wir wollen die weiteren Reisen und gelehrten Publikationen des vielbeschäftigten und so überall vielseitigen Mannes hier nicht des näheren verfolgen. Was ihn mit der Zeit immer mehr innerlich beschäftigte und in seinen Bannkreis zog, war die Frage nach dem Wesen der menschlichen Seele. Auf der einen Seite ist sie ihm den mathematischen und mechanischen Regeln unterworfen, die die ganze Natur beherrschen, und er ist eifrig bemüht, diese Gesetze zu erforschen. Anderseits sieht er in ihr etwas Immaterielles, Unendliches, Göttliches, Unsterbliches. Er vermag auf friedlichem Wege die Spannung nicht zu lösen, in die er durch diese beiden so schwer miteinander zu vereinigenden Auffassungen geraten ist. Da kommt seine Überzeugung von dem Geistcharakter und der Unsterblichkeit der Seele auf gewaltsame Weise zum Durchbruch. Als er im April des Jahres 1745 in London weilte, erlebte er zwei kurz aufeinander folgende Visionen, in denen er u. a. eine Geistgestalt sah, die ihm Anweisungen und Aufklärungen gab, die ihn tief erschütterten. Von nun an waren nach seiner Überzeugung seine Augen aufgetan, nicht nur für die Erkenntnis der Seele, sondern für das Geisterreich überhaupt, für Himmel und Hölle, auch für manche irdischen Dinge. So fühlte er sich insbesondere berufen, auf Grund des Auftrags, der ihm in der zweiten Vision zuteil geworden, den tieferen geistigen Sinn des Buchstabens der Heiligen Schrift zu offenbaren. Die in der Kirche oft gehandhabte, durch die Reformation zurückgedrängte allegorische Bibelauslegung lebt in ihm machtvoll wieder auf, wofür nunmehr eine Reihe neuer Schriften, die er veröffentlicht, Zeugnis ablegt; so die vielbändigen arcana coelestia, die, eine Art von Kommentar zu den beiden ersten Büchern Mose, 1747 — 1758 erschienen. Immer neue Geistervisionen folgten jenen beiden ersten, grundlegenden. Auf Grund der neuen Erkenntnisse, die ihm auf diesem Wege zuteil wurden, glaubte er sich von Gott auserwählt zum Werkzeug des wiederkehrenden Christus, zum Reformator der Kirche und ihrer Lehre, die er in wichtigen Punkten verwarf. Während der letzten siebenundzwanzig Jahre seines Lebens — er war bereits in der zweiten Hälfte der Fünfziger, als er seine Berufung erlebte — hat Swedenborg, kann man geradezu sagen, ein Doppelleben geführt, in dieser Welt, wie in der Geisterwelt, mit der er wie mit guten Bekannten in seinen zahlreichen Verzückungen verkehrte. Mit längst Verstorbenen, Propheten, Poeten, Aposteln, Reformatoren usw., aber auch mit eben erst Heimgegangenen hat er lange Gespräche geführt, ihnen Aufschlüsse gebend und von ihnen solche empfangend. Nur musste er mit dem Namen der betreffenden Persönlichkeit, die er im Geisterreich antreffen sollte, schon vorher eine etwas nähere Vorstellung verbinden und auch selber den Wunsch hegen, sie zu sehen ....


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kant und Swedenborg