Geistesseher oder Phantast

Was sollen wir zu all diesen Geschichten sagen? Mag man auch hier und da noch etwas als nicht genügend verbürgt abziehen wollen, des Rätselhaften und mit den bisherigen Mitteln der Wissenschaft nicht Aufzuklärenden bleib! meines Erachtens genug. Die Zeitgenossen haben vielfach in den Proben wunderbaren Wissens, die Swedenborg an den Tag legte, einen untrüglichen Beweis für seine wirkliche Gemeinschaft mit den Geistern Abgeschiedener gesehen. Wäre diese Schlussfolgerung gerechtfertigt, so würden wir uns die Offenbarungen und Mitteilungen, die ihm aus der Geisterrepublik zuströmten, etwa in der Weise erfolgend denken können, wie sie Kant als möglich zu veranschaulichen gesucht hat: geistige Eindrücke aus der höheren Welt, Übertragung von Gedanken, die sich nach dem Gesetz der assoziierenden Begriffe in Bilder und Worte umgesetzt haben. Ich für meine Person würde eine solche Möglichkeit nicht a priori ablehnen. Denn eine vorurteilsfreie Wissenschaft, die ihre eigenen Wege geht, ohne in bornierter Weise an den Dogmatismus herrschender Zeitströmungen gebunden zu sein, wird immer möglichst kaltblütig mit der Möglichkeit der Existenz einer höheren Welt rechnen dürfen.

Nun ist es freilich auf der anderen Seite für die Methode wissenschaftlichen Forschens eine altbewährte Regel, dass man die einfachere Erklärung, sofern sie nur einigermaßen den Anforderungen wissenschaftlichen Erkennens genügt, der komplizierteren vorziehen solle. Dementsprechend müssen wir es zunächst versuchen, mit immanenten, statt mit transzendenten Größen den Geistererscheinungen Swedenborgs beizukommen.


Wenn man sich etwas näher mit diesen Erscheinungen und Offenbarungen befasst, wird man bei nüchterner Betrachtungsweise bei vielen derselben — ich meine natürlich nicht die eben besprochenen — sehr bald mit Kant den Eindruck des stark Subjektiven, ja Phantastischen und Bizarren erhalten. Ich sehe hier ab von den Aufschlüssen, die Swedenborg für den Ausbau seines theologischen Systems auf diese Weise erhalten haben will, — es findet sich manches Tiefsinnige darunter was soll man aber dazu sagen, wenn unter den vielen Erscheinungen, die er gehabt, und die sein Biograph Matter systematisch zusammengestellt hat, *) auch die Götter und Göttinnen Griechenlands figurieren? oder, wenn er sich mit ehemaligen Bewohnern des Planeten Jupiter unterhält und von ihnen u. a. die Auskunft erhält, dass die Leute dort so höflich sind, dass sie einander möglichst das Gesicht zu kehren und auch, wenn sie sich zu Bette legen, es vermeiden, mit einem der Zimmerwand zugekehrten Antlitz zu schlafen?

*) In der Schrift: Swedenborg, sa vie, ses écrits et sa doctrine, Paris 1863. S. 220 f.

Da liegt doch die Annahme nahe, dass es sich hier um Visionen handele, die auf gewisse Nervenanomalien schließen lassen. Zwar hat er auf seine Zeitgenossen immer wieder, selbst in seinem höchsten Alter, einen ebenso vernünftigen wie gesunden, ja fast jugendlichen Eindruck gemacht, der durch seine große Liebenswürdigkeit im Verkehr mit Menschen unterstützt wurde. So rühmt ihm z. B. der Bergrat Sandel eine unschätzbare körperliche Gesundheit nach in seiner Gedächtnisrede, die er ein halbes Jahr nach Swedenborgs Tode im Namen der Akademie der Wissenschaften zu Stockholm gehalten hat, und ähnlich spricht sich der Amsterdamer Johann Christian Cuno aus, der ihn in dessen letzten Lebensjahren kennen lernte und meinte, er sei noch so hurtig auf den Füßen, wie es der jüngste Mann sein könne *). Aber das schließt doch alles gewisse schwere Störungen seines Nerven- und Seelenlebens nicht aus. Man wird schwerlich einen Menschen, der gelegentlich Visionen hat, als körperlich oder geistig krank bezeichnen dürfen. Aber bei Swedenborg liegt die Sache so, dass er während seiner letzten siebenundzwanzig Jahre einen nicht ganz geringen Teil seines Lebens in einer Art Trancezustand, einer Autohypnose, oder wie man es sonst nennen will, verbracht hat, einem Zustande, in dem er Vorgänge in Himmel und Hölle, sowie dem von ihm angenommenen Zwischenreich. Vorgänge auf den Planeten, ja, gelegentlich selbst jenseits unseres Sonnensystems wahrzunehmen glaubte. Haben wir hier einen wahrhaft gottbegnadeten Seher vor uns, der in die Geheimnisse höherer Welten viel, viel tiefer eingedrungen ist als es selbst unseren größten Religionsstiftern vergönnt gewesen? Man wird das trotz aller Genialität und trotz alles religiösen und philosophischen Tiefsinns des Mannes schwerlich annehmen dürfen. Denn wir können es uns noch bis zu einem gewissen Grade verständlich machen, wenn wir einzelne Züge seines Lehens uns vergegenwärtigen, dass mit seinen Nerven keineswegs alles in Ordnung gewesen. Wir werden Swedenborg vom Standpunkt der modernen Seelenkunde als einen körperlich wie geistig nicht normalen Menschen bezeichnen müssen, mag man diese folie auch mit Recht als eine folie raisonnante bezeichnen, wie sie sein medizinischer Biograph, der pariser Professor Gilbert Ballet, genannt hat.

*) Vgl. Scheeler, Aufzeichnungen eines Amsterdamer Bürgers über Swedenborg, Hannover 1858 zitiert bei Mittnacht a. a. O. S. 77.

Das Swedenborg, um ein modernes Schlagwort zu gebrauchen, erblich belastet gewesen, wird sich bei unserer geringen Kenntnis der Eigenschaften seiner Vorfahren kaum nachweisen lassen. Etwas genauer sind wir nur über seinen Vater unterrichtet, den Professor der Theologie in Upsala and späteren Bischofs von Skara, der sich als gelehrte und Charakterrolle Persönlichkeil eines großen Ansehens zu erfreuen hatte. Er war ein Mann von einem sehr ausgeprägten Vorsehungsglauben, der sich ihm z. B., trotz seiner Neigung zur Aufklärung, in die Form eines Glaubens an Schutzengel kleidete. Wenn berichtet wird, dass er mit seinem eigenen Schutzengel gelegentlich ein Gespräch geführt habe, so haben wir da schon gewissermaßen in nuce, was später bei seinem Sohne zu ungeahnter Entfaltung kommen sollte.

Mag nun von vornherein etwas Psychopathisches in ihm gesteckt haben oder nicht, so war jedenfalls die Art seiner Lebensführung keineswegs dazu angetan, etwaige Dispositionen für Nervenüberreizungen zu paralysieren. Sein äußeres Leben zeigt etwas ganz auffallend Rast- und Ruheloses. Das sieht man schon an seinen sehr zahlreichen Reisen, die er nach Dänemark, England, Holland, Deutschland und Italien gemacht hat. Reisen, die damals doch mit viel größeren Beschwerden verknüpft waren als heutzutage, zumal er sich trotz seiner guten Vermögensverhältnisse wenig Bequemlichkeit gönnte, beispielsweise ohne Diener zu reisen pflegte, wie sein Freund Robsahm berichtet. Es kommt hinzu seine geradezu fieberhafte literarische Tätigkeit, die er während mancher Jugendjahre, aber auch später, zum Teil auf Reisen, entfaltete, und die seine Nerven zweifellos ruiniert hat. Noch im späten Alter hat er vielfach die Nacht zum Tage gemacht, ohne bestimmte Schlafenszeiten einzuhalten. Dazu kam eine nicht immer genügende Ernährung. In alcoholicis ist Swedenborg allerdings wohl Zeit seines Lebens sehr mäßig gewesen. Aber er hatte ein anderes gefährliches Reizmittel, den Kaffee, den er sehr geliebt zu haben scheint. Aus seinen späteren Jahren wird berichtet, dass das Feuer in seinem Zimmer nicht ausging, an dem er sich seinen Kaffee Tag und Nacht braute. Fleisch soll er in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens so gut wie gar nicht gegessen haben, Fisch wenig, die Hauptbestandteile seiner kärglichen Mahlzeiten — nur in Gesellschaft scheint er größeren Appetit entwickelt zu haben — waren Brot, Butter, Milch, Kaffee, wie schon erwähnt, Mandeln, Rosinen, Gemüse, Biskuits, Cakes, Pfefferkuchen; Fleischessen hielt er geradezu für etwas Unheiliges und Barbarisches.*) Dass dieses asketische Leben und der reichliche Kaffeegenuss das Zustandekommen seiner Visionen immer aufs Neue befördert haben, gibt auch sein Biograph Wilkinson zu, wenngleich derselbe in dieser Art der Lebensführung Swedenborgs etwas direkt Providentielles erblickt. Leider sind wir über seine Ernährung in früheren Lebensjahren viel weniger unterrichtet als in den späteren. Aber wir werden doch mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, dass in dieser Beziehung keine großen Veränderungen in seinen Gewohnheiten eingetreten sind. In puncto einer rationellen Ernährung und einer geregelten Lebensweise war z. B unser königsberger Philosoph dem schwedischen Seher entschieden weit voraus.

Nicht ganz leicht ist die Frage zu beantworten, ob etwa sexuelle Ausschweifungen in seinem Leben eine größere Rolle gespielt und seine Nerven ruiniert haben. Swedenborg ist niemals verheiratet gewesen. Er war einmal in jungen Jahren mit einem sehr jugendlichen Mädchen verlobt, gab sie aber frei, als er merkte, dass ihm ihr Herz nicht gehörte. Diese Enttäuschung mag ihm nahe genug gegangen sein. Aber es ist doch wohl bloße Kombination, wenn der dänische Psychophysiker Alfred Lehmann mit diesem Erlebnis ein angeblich liederliches Leben des Mannes in späteren Jahren in Verbindung bringt **). Wir hätten von demselben Kunde durch ein Tagebuch, welches Swedenborg 1743/44, also als ein Mann in der Mitte der Fünfziger, auf einer Reise über Holland nach England geschrieben. Diese intimen Aufzeichnungen sind erst 1859 unter dem Titel: Swedenborg's Drömmar in der schwedischen Originalsprache in Stockholm veröffentlicht worden. Ich habe sie nicht selber nicht lesen können, da ich des Schwedischen nicht mächtig bin, aber Inhaltsangaben und stückweise Übersetzungen derselben sind mir von befreundeter Seite in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt worden. Swedenborg hat hier seine Träume aufgezeichnet, die einen recht wirren, zum Teil stark ins Geschlechtliche spielenden Charakter an sich tragen. Lehmann wird Recht haben mit der Vermutung, dass jener wohl kaum jemals daran gedacht hat, dieses Buch könne einmal der Öffentlichkeit übergeben werden. Es finden sich in ihm neben der Wiedergabe der Träume auch Ausdeutungen derselben, die zum Teil recht wunderlicher und krauser Art sind. Der Verfasser des Buches macht zweifellos den Eindruck eines nervös stark aufgeregten Menschen, wenn man auch wohl nicht gerade mit Lehmann von nervöser Zerrüttung sprechen darf. Dass das Sexuelle in diesen Träumen eine zum Teil recht bedenkliche Rolle spielt, könnte man zunächst an gewissen körperlichen Zuständen oder Ausschweifungen der geschlechtlichen Phantasie, die im Traumleben nachwirke, zu erklären versuchen. Aber das dürfte doch aus einigen Stellen hervorgehen, dass er eine Periode des Geschlechtsgenusses hinter sich hat, eine Zeit der „Unreinheit“, deren er sich jetzt schämt, über die er durch Gebet und Erhebung der Seele zu Gott und Christus hinwegzukommen sucht. Wie lange diese Periode gedauert, und in welchem Maße er sich in geschlechtlicher Beziehung hat gehen lassen, darüber gibt uns das Tagebuch keine nähere Auskunft. Wenn daher Alfred Lehmann die späteren visionären Zustände Swedenborgs allein aus der Nervenzerrüttung erklären will, die seine sexuellen Ausschweifungen verschuldet haben sollen, so lässt sich diese These zum mindesten nicht beweisen und enthält wohl eine nicht geringe Übertreibung. Abgesehen von dem Tagebuch wissen wir fast nichts von einem unsoliden Lebenswandel Swedenborgs, vielmehr hat er auf seine Zeitgenossen durchaus den Eindruck eines anständig lebenden Menschen gemacht. Nur dem dänischen General Tuxen gegenüber hat er auf dessen ausdrückliche Frage sich dahin geäußert, er hätte sich von Versuchungen in Beziehung auf das andere Geschlecht während seiner Jugend nicht so ganz freihalten können und in Italien eine Geliebte gehabt. Aber von einer nervösen Zerrüttung allein auf Grund sexueller Ausschweifungen bei ihm zu reden, dazu liegt ein genügender Grund nicht vor. Die Möglichkeit bleibt allerdings bestehen, dass seine ohnehin schon angegriffenen Nerven durch die Anstrengungen eines mehr oder minder unsoliden Lebens und die darauf folgenden heftigen Gewissensreaktionen nicht unerheblich gelitten haben. Bemerken möchte ich noch, dass Swedenborg auch in späteren Jahren nur langsam sprechen konnte und leicht ins Stottern geriet, was gleichfalls auf eine gewisse Nervenanomalie schließen lässt.

*) Vgl. Wilkinson, a. a. O. S 255 f - Wenn Swedenborg in der ersten Vision, die er 1745 in London nach einer späten Mittagsmahlzeit hatte, wie Robsahm berichtet, die Worte zugerufen wurden: „Iss nicht so viel“, so werden wir Gewissensbedenken, die er wegen reichlichen Essens hatte, bei ihm voraussetzen dürfen,

**) In der Schrift: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart, Übersetzt von Petersen, 2. Aufl. Stuttgart 1908, S. 254.


Wir haben so immerhin eine Reihe von Anhaltspunkten und Erklärungsgründen dafür, dass Swedenborg zum mindesten in den letzten Jahrzehnten seines Lehens kein geistig und körperlich ganz normaler Mensch gewesen, und seine Visionen und Geisteroffenbarungen daher als krankhafte Zustände zu beurteilen sind. Damit sind freilich noch nicht alle Rätsel gelöst, welche uns die letzten 27 Jahre seines Lebens aufgeben. Die ekstatischen Zustände eines Visionärs werden immer etwas Geheimnisvolles behalten. Bei Swedenborg kommt nun noch das hinzu, dass er, wenn er im Geiste war, zweifellos über hellseherische Fähigkeiten verfügt hat. Das beweisen unseres Erachtens für eine nüchterne und vorurteilsfreie Kritik die oben ausführlich besprochenen Beispiele. Nach dieser Richtung hin ist Kant seinem Gegner nicht ganz gerecht geworden. Freilich, — die Angehörigen der Geisterwelt als objektive Quelle für Swedenborgs Wissen werden wir mit unserem großen Philosophen ausschalten müssen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass es sich hier nur um immanente Vorgänge im Geiste Swedenborgs gehandelt habe, um Hirngespinste und Phantasien, mit denen sich unter krankhafter Inanspruchnahme peripherischer Nerven Gesichts- und Gehörstäuschungen bei ihm verbanden. Wenn unser Seher der Königin Luise Ulrike, oder seinem Freunde, dem Kommerzienrat Springer, oder jenem Elberfelder Kaufmann, von dem Jung-Stilling berichtet, Erlebnisse erzählt hat, die sie mit Verstorbenen gehabt hatten, so wird sein rätselhaftes Wissen nicht von den Geistern der Abgeschiedenen, sondern von den Erinnerungen der Lebenden herstammen. Swedenborg war, modern ausgedrückt, eine mediumistisch begabte Persönlichkeit welche die Fähigkeit besaß, im Trancezustande auch ferne weilenden Personen ihre Gedanken und Geheimnisse abzulesen, ohne dass diese eine Ahnung davon hatten, und ohne dass er sich über diese Tatsache klar war. Wir haben hier also Fälle einer übersinnlichen Gedankenübertragung vor uns. Telepathische Kräfte treten in Funktion, von denen Alfred Lehmann wohl mit Recht vermutet, dass sie leichter vom Unbewussten als vom Bewusstsein des Absenders ausgelöst werden. Denn die schwedische Königin z. B. hat nach allem, was wir wissen, schwerlich mehr viel an den Auftrag gedacht, den sie dem Geisterseher im Scherz erteilte, oder gar absichtlich ihre Gedanken auf das konzentriert, was sie von jenem zu hören wünschte. Erst als er ihr die geheimnisvolle Mitteilung machte, die ihren Letzten Brief an den verstorbenen Bruder betraf, hat die ganze Sache sie tiefer berührt. Nichtsdestoweniger ist die wahrscheinlichste Lösung des Rätsels die: als Swedenborg im Trancezustande mit dem verstorbenen Prinzen August Wilhelm zu sprechen glaubte, hat in Wirklichkeit eine übersinnliche Gedankenübertragung von dem Geiste der Königin auf seinen Geist stattgefunden. Denn das Gebiet des Geistes umfasst darauf hat die moderne Seelenkunde immer mehr achten gelehrt nicht nur das Bewusste, sondern auch das Unbewusste, unter der Schwelle des Bewusstseins für kürzere oder Längere Zeit Befindliche.

Wenn wir uns diese geheimnisvollen Wirkungen etwas näher veranschaulichen wollen, so werden wir gerade an das anknüpfen können, was Kant in dem zweiten Hauptstück des dogmatischen Teils seiner Streitschrift ausgeführt hat. Er bezeichnet es zwar nur als ein Abenteuer, das er auf dem Luftschiffe der Metaphysik gemacht habe. Aber Luftschiffe haben ja inzwischen gezeigt, was sie leisten können. Halb ironisierend rechnet er mit vagen Möglichkeiten, um Philosophen älteren Schlages zu verspotten, und doch zeigt er hier seine ganze Genialität. Es wird sich in der Tat bei gewissen Geisteroffenbarungen Swedenborgs um geistige Eindrücke handeln, die von einem anderen Geiste, wenn auch keinem überirdischen, auf ihn ausgegangen sind. Diese Eindrücke haben sich ihm nach dem Gesetz der „vergesellschaftenden“ Begriffe in Gestalten und Worte gekleidet, die er zu sehen, resp. zu hören glaubt. Es handelt sich bei diesen Gedankenübertragungen um Erlebnisse Verstorbener - und diese Verstorbenen treten Leibhaftig an ihn heran und reden mit ihm!

Eine gesonderte Betrachtungsweise erheischt die Geschichte von der verlegten Quittung des Gesandten von Marteville. Wir halten uns an die Version, die sich uns als die glaubwürdigste ergeben, im Unterschiede von derjenigen, die Kant vorgetragen hat. Hiernach erhält allein die Witwe im Traum genauere Mitteilung durch ihren verstorbenen Gatten bezüglich des Orts, wo die vermisste Quittung zu finden sei. Dieser Traum ist wohl nicht so auffällig, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Dame kann sehr wohl noch bei Lebzeiten ihres Mannes von der betreffenden Stelle, wo die Quittung verwahrt gewesen, irgendwie Kunde erhalten haben. Sie hat vielleicht gar nicht recht darauf hingehört, als ihr Gatte es ihr sagte, jedenfalls kann man annehmen, dass sie es schnell vergessen hat. Was wir vergessen haben, ist damit aber noch lange nicht aus unserem Unterbewusstsein geschwunden. Das zeigt ja schon die Tatsache, dass uns manches Vergessene hinterher bei gewissen Gelegenheiten wieder einfällt.

Bei der Frau von Marteville ist wohl der Traum das Vehikel gewesen, dass das Vergessene oder gar nicht recht Beachtete wieder über die Schwelle des Bewusstseins bei ihr trat. Ähnliches ist auch sonst bezüglich des Inhalts von Träumen beobachtet worden. Die vorangegangene Aufregung über den eventuellen pekuniären Schaden, sowie das Gespräch mit Swedenborg und die Hoffnung auf eine Hilfe seitens des Verstorbenen werden das ihrige zu dem Zustandekommen des Traumes beigetragen haben. Dass der Tote in derselben Nacht auch Swedenborg erscheint, könnte Zufall sein, d. h. in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Traume der Frau von Marteville gestanden haben. Möglich aber auch, dass von dieser eine Art telepathischer Wirkung auf jenen ausgegangen ist. Was sie im Traume erlebte, hat sich dann in etwas anderer, zum Teil verblasster Weise im Geiste Swedenborgs gespiegelt. Diese Erklärung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man bedenkt, dass auch sonst telepathische Wirkungen von der Gedankenwelt anderer auf ihn ausgegangen sind.

Freilich, auch bei Swedenborg scheinen derartige Offenbarungen, wenn man sie so nennen darf, nur relativ selten vorgekommen zu sein. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl seiner angeblichen Erfahrungen mit der Geisterwelt dürfte - in so weit ist Kant wohl im Rechte gewesen - einen rein subjektiven Charakter getragen haben, was bei seinen aufgeregten und kranken Nerven wohl nicht allzu sehr Wunder nehmen kann. Immerhin wird unsere Beurteilung des Mannes so manchem Leser noch allzu mystisch und, sagen wir einmal, wundergläubig vorkommen. Derartige Skeptiker bitte ich sich mit anderen mediumistisch begabten Persönlichkeiten etwas näher bekannt zu machen, wie sie die Geschichte der Psychologie trotz alles Humbugs, der hier mit untergelaufen, in nicht geringer Anzahl kennt. Denn es ist Aufgabe der Wissenschaft, Einzelerfahrungen in einen größeren Kreis allgemeiner Erfahrungen einzuordnen. Von dem im engeren Sinn spiritistische Gebiet, über das ich mir mein Urteil vorbehalte, sehe ich hier ab. Bei der Deutung der Swedenborgschen Erlebnisse kommt man ohne die Geister aus, obgleich er vielleicht der größte Geisterseher gewesen, der je gelebt hat. Dagegen gibt es ohne Zweifel ein großes Gebiet übersinnlicher Gedankenübertragungen und telepathischer Kräfte. Leider hat die deutsche Wissenschaft der Erforschung dieser dunkeln Phänomene nicht ganz in dem Maße ihre Kräfte gewidmet, wie die ausländische, etwa die englische und amerikanische. Ich will hier nur erinnern an die sehr gründlichen und exakten Untersuchungen und Experimente, die mit dem amerikanischen Medium Mrs. Piper in Amerika wie in England (wo sie in ihr persönlich ganz unbekannte Verhältnisse kam) von dem berühmten W. James und anderen Gelehrten vorgenommen worden sind. Auch bei Mrs. Piper plauderten die Geister im Trancezustande die wunderbarsten Dinge aus. Gedanken und Erlebnisse Anwesender, gelegentlich auch Abwesender. Auch solche Dinge kamen zur Sprache, an die die betreffenden in der fraglichen Zeit gar nicht dachten.

Nun sind aus Swedenborgs Leben ja auch Fälle von Telepathie überliefert, bei denen es sich wahrscheinlich um das Wissen gleichzeitiger, entfernter Ereignisse und nicht um übersinnliche Gedankenübertragung gehandelt hat. Die Quelle seines Wissens würden dann nicht bewusste oder unbewusste Vorstellungen anderer, sondern Ereignisse der Außenwelt gewesen sein, die er mit leiblichem Auge nicht gesehen hat. In der Übermittelung derartigen Wissens scheinen für Swedenborg die Geister gar keine oder nur eine geringe Rolle gespielt zu haben. Wir werden uns darin finden müssen, dass auch solche Fälle telepathischer Wirkung vorkommen und in Swedenborgs Leben vorgekommen sind. Die niederste Form dieser Wirkungen, wenn ich mich so ausdrücken darf, sind die sogenannten Ahnungen, eine Kategorie, in die man z. B. das den Fabrikanten Bolander betreffende Ereignis einreihen kann. Swedenborg ahnt, dass der Fabrik des Mannes Gefahr droht. Möglich auch, dass einzelne dieser Fälle - wunderbares Wahrnehmen entfernter Vorgänge - in das Gebiet der oben besprochenen Phänomene schlagen. Wenn unser Seher den großen Brand von Stockholm vom Jahre 1759 mit manchen Einzelheiten im Geiste geschaut hat, so kann das immerhin durch das Medium befreundeter oder ihm doch bekannter Personen geschehen sein, welche jene Schreckensstunden in der Hauptstadt selbst miterlebten. Sei dem wie ihm wolle, um die Anerkennung des Hellseherischen in der Persönlichkeit des großen Schweden kommt auch eine nüchterne wissenschaftliche Betrachtungsweise meines Erachtens nicht herum. So werden wir denn den Standpunkt, den Kant gegen ihn eingenommen hat, nicht mehr ganz teilen können. Obige Blätter haben es versucht, hierzu die notwendige Ergänzung zu bieten. Swedenborg mag ein noch so großer Phantast gewesen sein, wie Kants Scharfsinn richtig erkannt hat, man mag ihn auch mit gewissem Rechte, wie unser königsberger Philosoph es getan hat, den Kandidaten des Hospitals zuzählen. — er hat nun doch einmal in seinen Ekstasen Dinge erkannt, die ein gewöhnlich organisierter Mensch nicht erkennen konnte. Und so verstehen wir es auch bis zu einem gewissen Grade, dass er zu anderen Geisteroffenbarungen mehr Zutrauen fasste, als dieselben verdienten, und sich als ein ganz besonderes, auserwähltes Rüstzeug der göttlichen Gnade betrachtete.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kant und Swedenborg