Kannibalismus im zwanzigsten Jahrhundert

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: E. Dau, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Kannibalismus, Hunger, Elend, Russlanddeutsche, Wolgadeutsche, Samara, Saratow, Kasan, Seuchen, Leichenberge, Hilfsexpedition, Hungerwahnsinn
Seit den furchtbaren Gräuelzeiten des Dreißigjährigen Krieges im siebzehnten Jahrhundert, der Deutschland die tiefsten Wunden geschlagen hat, ist es jetzt in Russland wieder so weit gekommen, dass verzweifelte hungergepeinigte Menschen zu Kannibalen geworden sind. Als die ersten Nachrichten dieser grauenerregenden Grässlichkeit verbreitet wurden, hielt man sie für Lüge. Dann kam die Bestätigung durch Nansen, der das russische Hungergebiet durchreiste.

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Am 21. Januar 1922 sandte der Leiter der schwedischen Schiedskommission, Generalkonsul Ekstrand, aus dem Hungergebiet Samara an den Staatsminister Branting ein Telegramm, in dem es unter anderem hieß: „Hier gibt es Bezirke, wo sich die Bevölkerung in einem solchen Elend befindet, dass sie zum Wahnsinn gebracht wird! Man hat schon Leichen aufgegessen, und jetzt beginnt man damit, Menschen zu töten, um sie aufzuessen!“ Dann vernahm man auch von dem ärztlichen Leiter der deutschen Hilfsexpedition für Russland, Professor Doktor Mühlens: „Das Elend in den Hungerkantonen des Gouvernements Kasan ist — ebenso wie in Samara und Saratow — herzzerreißend. Täglich sterben Tausende an Hunger und Seuchen! Berge von Leichen türmen sich stellenweise auf! Protokollarisch steht fest, dass Mütter Leichenteile ihrer Kinder gegessen haben, und auch sonst Leichenteile zur Stillung des Hungers benützt worden sind.“

Im vergangenen Herbst sammelten die Unglücklichen zur Nahrung die noch an den Bäumen hängenden Blätter und Knospen. Lange Zeit hatte man sich mit einem „Brot“ begnügt, das aus gemahlenen Baumrinden, Steppengras, Moos und Flechten, Eicheln samt den Schalen bereitet war. Auch Lehm wurde gegessen, ehe die verzweifelten Menschen zu Kannibalen wurden.

Seit vielen Monaten sind Millionen Menschen unterwegs, um irgendwo Nahrung zu finden. Im November 1921 schrieb ein Wolgadeutscher aus Balzer: „ . . . Viele haben ihre Kinder in die Wolga geworfen, um sie nicht verhungern zu lassen.“ Aus Alt-Zürich kam vom 4. Dezember 1921 datiert die Nachricht: „ . . . Gestern hat man in unserem Nachbardorfe Tote und die eigenen Kinder gegessen.“ Am 30. Dezember schrieb einer der Wolgadeutschen aus Marienfeld: „. . . Gegessen wird alles, auch Krepiertes. Es erfüllt sich, wie in der Bibel 3. Mose, Kapitel 28, Vers 53 zu lesen ist, dass Mütter ihre eigenen Kinder schlachten und essen.“

Unser Bild zeigt die Russin Schulina Chugonnowa aus Juphemof im Distrikt Buzuluk, die ihre schlafende sechsjährige Tochter ermordete und die Hälfte des kindlichen Körpers aufaß. Die Reste liegen auf dem Tisch vor ihr. Der neben dieser Frau stehende Bauer, Andrei Semuykin, aus dem Dorfe Andreyerka im gleichen Hungerdistrikt, verzehrte eine am Typhus verstorbene Frau so weit, das; nur der Kopf und einige Knochen, die gleichfalls auf dem Tisch liegen, übrigblieb. Beide Menschen, die ihre Tat nur im Hungerwahnsinn zu begehen fähig waren, sind nach standrechtlichem Urteil der Tscheka erschossen worden.

Sind die Herzen der Menschen seit den letzten Jahren verhärtet, das Gemüt abgestumpft gegen so unermessliche Leiden und solchen Jammer? Hört die Mahnung des edlen Nansen: „Die Völker und Regierungen Europas müssen erwachen! Sie müssen die Lage erkennen und das Furchtbare verstehen, das sich hier abspielt. Im Namen der Menschheit muss der ungeheuerliche Zustand beseitigt werden!“

Deutsche Herzen, euch gilt der Ruf: Helft den verhungernden Menschen!

Gaben nimmt das „Rote Kreuz“ entgegen. Außerdem die Reichssammlung „Brüder in Not“, Berlin, Prinzessinnenpalais, Oberwallstraße 1 a. Von dieser Stelle werden die hungernden und flüchtenden Russlanddeutschen unterstützt.

Russland, Kannibalismus im russischen Hungergebiet

Russland, Kannibalismus im russischen Hungergebiet