Zweiundvierzigstes Kapitel. - Immer schwerer, immer zerstörender begann im Lauf der Jahre der Druck äußerer Uebermacht auf den ehemaligen Wohlstand meiner unglücklichen Vaterstadt einzuwirken. ...

Tolle Zeiten hab' ich erlebt, und hab' nicht ermangelt,
Selbst auch thöricht zu sein, wie es die Zeit mir gebot.
Goethe.

Immer schwerer, immer zerstörender begann im Lauf der Jahre der Druck äußerer Uebermacht auf den ehemaligen Wohlstand meiner unglücklichen Vaterstadt einzuwirken.


An alten reichen Familien, an einzelnen bedeutenden Handelshäusern, die mit großen Mitteln und ausgebreitetem Kredit ihre merkantilischen Kenntnisse und Erfahrungen geltend zu machen verstanden, fehlte es zwar nicht, und diese verbreiteten allerdings noch eine Art von Scheinleben um sich her, durch welches dem oberflächlich darüber hinstreifenden Blicke das tief im Innern zehrende Verderben verschleiert wurde. Der Kleinbürger aber, der Ladenhändler, der Handwerker, Alles was zum arbeitenden Mittelstande gehört, diesem eigentlichen Herzen großer und kleinster Staaten, durch welches das Leben pulsirend sich weiter verbreitet, waren dem langsamen allmählichen Verarmen verfallen. Die Zahl unbewohnter, fest verschlossener Häuser mehrte sich überall, und nicht allein in kleinen abgelegenen Gäßchen, auch in den sonst bewohntesten Hauptstraßen der Stadt.

Viele achtbare Bürger, die unter harten Entbehrungen einen schwachen Schimmer ehemaliger besserer Tage mühselig beizubehalten suchten, waren im Grunde jenen verschämten Hausarmen zuzuzählen, gegen deren hartes Loos das eines in Lumpen gehüllten, die allgemeine Wohlthätigkeit öffentlich in Anspruch nehmenden Bettlers fast beneidenswerth erscheint.

Jameson konnte das allmähliche Verkümmern des Ortes, den er in der Blüthe des Wohlstandes gekannt, nicht ansehen, ohne selbst es mit zu empfinden; ihm war dabei zu Muthe als stünde er am Schmerzenslager eines langsam Hinsterbenden. Im Kreise der ihm zunächst umgebenden Freunde trat manche ihn schmerzlich berührende Veränderung nach und nach ein, war im Wechsel des Lebens so manche Lücke entstanden, welche er nicht wieder gefüllt zu sehen hoffen durfte; und als er zuletzt auch das Haus meiner Eltern verschlossen und verödet erblickte, als er, von alter Gewohnheit verleitet, wohl zehnmal des Tages sein Fenster öffnete, um in unsern Beischlag hinabzusehen, und keine der ihm ehemals so befreundeten lieben Gestalten sich mehr zeigte, da war ihm, als sei auch das letzte Band zerrissen, das in seiner jetzigen Stellung ihn festhielt. Ich, das Kind seines Herzens, sein frühester Liebling, den er mit so großer Liebe und Treue erzogen und geleitet hatte, war ihm zwar geblieben; aber durch andere Pflichten, andere Verhältnisse in Anspruch genommen, war es mir nicht möglich, ihm zu ersetzen, was er durch die Trennung von der nahen lieben Nachbarschaft derer verlor, die er im Lauf von fast dreißig Jahren sich gewöhnt hatte, als ganz zu ihm gehörend zu betrachten.

Seine Gesundheit wankte, nur ein rascher Entschluß konnte vor allmählichem Versinken in Schwäche und Trübsinn ihn bewahren, und er war noch kräftig genug, um ihn zu fassen und auszuführen. Er legte seine Stelle nieder, schiffte sich ein und eilte seiner ursprünglichen, ihm beinah fremd gewordenen Heimath, seinen schottischen Bergen wieder zu [und wolle man daselbst statt 2. Capitel des 2. Bandes 42. Capitel lesen.] . Mit welchem Gefühl, mit welchem heißen Trennungsschmerz, hat er selbst nie auszusprechen unternommen, und so will denn auch ich seinem Beispiel folgen. Daß ich entfernt von Eltern und Geschwistern, nach dem Verlust auch des letzten Freundes meiner frühesten Jugendjahre einzelne Stunden verlebte, in denen ich sehr vereinsamt mich fühlen mußte, liegt ja deutlich genug zu Tage; was bedarf es da noch vieler Worte!

Mit immer steigendem Interesse wandten indessen mein Mann und ich unsre Blicke nach Paris den dort beginnenden Kämpfen eines großen Volks zu, das aus den Ketten des Despotismus sich loszuwinden strebte. Die eben zusammenberufene Nationalversammlung wurde mir jetzt, was meine alten Römer, was meine tapfern freigesinnten Amerikaner in den Tagen meiner Kindheit mir gewesen waren, sie erhoben mich über die mich umgebende Gegenwart; und meine warme Theilnahme an dem Versuche, ein unter Zwang, thörichter Verschwendung und verdammenswürdigen Leichtsinn untergehendes Volk zum Gefühl der Würde freigeborner Menschen zu erheben, nahm mich dermaßen in Anspruch, daß ich die Lücke, welche die letzte Zeit in mein eignes Dasein gerissen, darüber weit weniger empfand.

Zeitungen hatte ich immer so fern als möglich von mir geschoben und darüber manchen halb spottend halb ernst gemeinten Vorwurf meines Mannes geduldig über mich ergehen lassen; denn von jener Zeit her, in welcher ich die sehr unleserlich gedruckte, aber wegen ihres vortrefflichen französischen Stils damals sehr berühmte Gazette de Leyde meinem Vater posttäglich vorlesen mußte, war mir ein unüberwindliches Grauen vor allen nur erdenklichen politischen Blättern geblieben. Ich behauptete steif und fest, ich erführe ohnehin, was sich in der Welt Merkwürdiges begebe, ohne mir Zeit und Laune mit solchen Langweiligkeiten zu verderben; jetzt aber konnte ich die Ankunft des Hamburger Correspondenten kaum erwarten, und zürnte recht ernstlich, wenn man vergaß, ihn mir nach Oliva zu senden.

So stand ich denn an einem recht heißen Sommertage des Jahres 1789 in Oliva am Fenster, in Erwartung des Boten, der mir die Zeitung bringen sollte, und sah zu meiner großen Verwunderung statt seiner meinen Mann in den Hof reiten; an einem Posttage! Nur eine wichtige Veranlassung konnte Heinrich Floris Schopenhauer an einem solchen zu diesem Besuch bewogen haben. Und so war es denn auch, er hatte Comptoir und Geschäfte verlassen, um die Kunde des ersten Triumphs der Freiheit, der Eroberung der Bastille, mir selbst zu überbringen.

Von nun an ging ein neues Leben in mir auf, unerhörte Hoffnungen eines durchaus veränderten Zustandes der Welt wurden in mir rege, welche jedes Blatt des fast gleichzeitig entstandenen Moniteurs immer fester stellte. Nur wenige meiner Zeitgenossen mögen jener jetzt fast vergessenen Ereignisse sich noch lebhaft erinnern, aber dann gedenken sie auch gewiß der glühenden Begeisterung, des hohen, Alles wagen, Alles willig aufs Spiel setzen wollenden Freiheitssinnes, der damals im Gemüth der edelsten Jugend sich entzündete, und sie antrieb, ihr Hoffen, Sinnen und Trachten einzig jener hochbewunderten Nation zuzuwenden, die für Alle siegreich in die Schranken trat, verjährte Vorurtheile niederbrach und, Blut und Leben nicht schonend, in Ausübung dessen, was Noth that, uns mit Lehre und Beispiel glorreich voranging. Etwas Mord, einzelne Gräuelthaten, die bei der Eroberung der Bastille vorgefallen waren und noch täglich, leider in immer steigender Anzahl sich erneuerten, wurden als in solchen Zeiten unvermeidlich nicht sonderlich beachtet. Verjährte Krebsschäden sind nicht mit Rosenwasser zu heilen, war ein damals sehr beliebter Kernspruch.

Und was war denn die Hinrichtung eines oder zweier Elenden, die, strotzend von erpreßtem Reichthum und Wohlleben, das hungernde, nach Brot schreiende Volk zur Zielscheibe ihres Witzes zu wählen sich erkühnt hatten? Was war sie, verglichen mit dem unheilvollen Geschick jenes Greises, der bei der Zerstörung der Bastille im dunkelsten Kerker derselben aufgefunden worden war? Wie gewöhnlich ohne Verhör und Urtheil hatte vor undenklicher Zeit eine lettre de cachet in jenes Grab der Lebenden ihn hinabgestoßen. Welches Vergehens man ihn anklagte, hat nicht er selbst, hat Niemand jemals erfahren, auch König Ludwig XV. nicht, der gewohnt war, jene Glück und Leben tödtende Waffe als eine nicht abzuschlagende kleine Gefälligkeit der Fürsprache mächtiger Günstlinge gedankenlos preiszugeben.

Wochen, Monate, Jahre lang saß der Unglückliche da, lichtlos, einsam, in Hunger und Blöße, in Nässe und Kälte, und konnte nicht sterben. Er hörte zuletzt auf die Tage, die Jahre zu zählen, vergaß endlich sogar seinen eigenen Namen und was er früher in der Welt gewesen, und vegetirte in dumpfem Halbbewußtsein fort, von Allen, sogar von seinem Kerkermeister vergessen, nur von dem Knecht nicht, der aus alter Gewohnheit seine karge Nahrung gleich einem im Käfig gehaltenen wilden Thiere ihm zuweilen hinwarf.

Ohnmächtig sank er zusammen, als die Befreier in seine Jammerhöhle drangen und ihn hinaustrugen in die laute lichtvolle Welt. Als er aus langer starrer Bewußtlosigkeit erwachte, lastete die frische freie Luft mit Centnerschwere auf seiner eingeengten keuchenden Brust; das seit fünfzig bis sechzig Jahren nicht gesehene Tageslicht war seinen gelähmten Augen die quälendste Folter, jeder Ton, der sein an lautlose Grabesstille gewöhntes Ohr traf, versetzte ihn in peinlichste Furcht.

Aengstlich, zitternd, wimmernd, mit gebrochener kaum vernehmlicher Stimme flehte er seine Befreier an, ihn wieder hinunter zu schaffen in seine düstere Wohnung, wand sich, winselte, ächzte und entschlummerte.

Der Namenlose fand ein namenloses Grab nach einer nicht mehr zu berechnenden Anzahl in qualvollster Gefangenschaft vollbrachter Jahre, konnte nur dieses vor der Pein des ihm neu aufgedrungenen Lebens ihn bergen. So stirbt ein dem Hungertode Geweihter an Nahrungsmitteln, die nach zu langem Entbehren ihm tödtlich werden, statt ihn zu erquicken.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jugendleben und Wanderbilder