Brief 3

Das einzige, was mich jetzt noch freut und tröstet, ist die Musik, und da muß ich dem Herrn Vetter doch ausführlich erzählen, wie es zugegangen, daß ich mich jetzt mit ganzem Fleiß auf sie legen kann. Nämlich: wir haben doch zwei Gesellen in unserer Werkstatt, einer ist von Danzig, mit Namen Herr Ebert, der zweite aus dem Reich 1) ; und wir nennen ihn nur Monsieur Manheimer. Der erste ist ein verständiger und gesetzter Mensch, schon bei Jahren; .der zweite aber, nämlich der Manheimer, etwas leicht, wie auch sonst den Kopf voll allerlei Schelmstücke. Wie dieser nun gemerkt, daß ich an der Musik ein gar besonderes Wohlgefallen verspürt, so daß ich oft stundenlang vor dem Bohonschen Hause zur Winterszeit, wenn daselbst Konzert war, stehengeblieben und zugehört, hat er eines Abends, als wir allein in der Werkstatt waren, mir gesagt: „Wenn ich wüßte, Herr Johannes, daß Ihr Euren Eltern nichts wieder davon ausschwatzen wolltet, so könnt ich Euch schon einmal an einen Ort mitnehmen, wo nicht allein Musik, sondern auch eine Auflage von Wein, Kaffee und schönen Frauenzimmern wäre; da Ihr Dinge zu sehen kriegtet, wie Ihr sie all Euer Lebtage noch nicht gesehen habt.” Da ist mir vor Freuden das Herz aufgegangen, und sagte ich zu ihm: „Tut das ja, lieber Herr Manheimer!” Aber das sagte ich nur so in meiner Einfalt und ohne daß ich die Folgen, die das haben könnte, bedachte. Wie nun Weihnachten herbeikam, mahnt ich ihn an sein Versprechen. Und er trat zu meinem Vater und sagte: „Meister, wollt Ihr wohl erlauben, daß ich mit Eurem ältesten Sohn ein wenig auf dem Christmarkt gehe?” Und mein Vater, der ein gottesfürchtiger Mann, auch sonst in allen Stücken sehr streng war, sagte darauf: „Geht! seht aber wohl zu, daß ihr zu rechter Zeit wieder da seid, keinen Schaden nehmt und auch niemanden etwas Ungebührliches zufügt!” Somit gingen wir. Es war aber um die Zeit des zweiten Abends vor dem heiligen Christfest, und wir hatten just Schneelicht mit Mondschein, so daß das Gedränge von Menschen auf dem Christmarkt fast groß war. Und man konnte keinen Apfel auf die Erde fallen lassen, so dicht stand alles, Kopf an Kopf; so auch keinen Schritt weder vorwärts noch rückwärts tun, ohne entweder jemand auf die Füße zu treten oder von ihm getreten zu werden. Die Seilerburschen und Matrosen aber, deren eine große Menge auf dem Markte war und die jedesmal die Ausgelassensten und Schlimmsten sind, nahmen gleich von Anfang allerlei lustige Streiche vor. Denn bald nähten sie den Leuten, Frauenzimmern und Mannspersonen, ohne Unterschied, Kleider, Ärmel, Koller und Rockschöße mit Packnadeln zusammen, so daß sie nicht wieder auseinander konnten. Bald warfen sie wieder den alten Weibern vor dem Junkerhof ihre Körbe mit Walnüssen oder auch ihre mit Äpfeln, Pfefferkuchen, Lichtern und Laternen besetzten Christtische über den Haufen und freuten sich dann über den Hallo, den es gab, wenn die Jungen brav auflasen und die Weiber mit ihren Fäusten brav zuschlugen. Zuletzt hatten ihrer sogar einige vor dem Ratskeller, wo der Weinschank ist, Posto gefaßt, und wenn ein reputierlicher Bürgersmann, dem die frische Luft, bei dem Austritt aus dem Gewölbe, ein wenig den Kopf benahm, sich ungewisser wie gewöhnlich auf seinen Füßen zeigte, so drängten sie ihn so lang, bis er in eine Fischbutte fiel und die Karpfenweiber, die daselbst ihren Stand haben, mit ihren Fischnetzen und großen Wasserbehältern ihn wieder nüchtern machten. Wir sahen das alles so mit an wie jemand, der nichts Angelegentlicheres zu tun hat, und verweilten bald da, bald dort. Endlich und ebenfalls in der Gegend des Junkerhofes, vorn die Treppe herauf, gleich da am Eingang, wo die Zinngießer und die Leute, welche die großen Wachsstöcke verkaufen, ihre Buden haben, traten ein paar fremde Gesellen an uns, auch aus dem Reich. Der eine von ihnen sagte: „Guten Abend, Gesellschaft!”; der andere aber fragte, oh es erlaubt sei, mit uns Kompagnie zu machen. Wir antworteten: „Warum nicht?“, aber mir ahnete gleich nichts Gutes, besonders von dem einen Kerl, der den Hut quer übers Ohr gesetzt hatte und recht desperat aussah. Er flüsterte dem Manheimer einige Worte ins Ohr, während er kein Auge von mir verwendete. Wie ihm dieser aber erwiderte: „Es hat nichts auf sich, es ist der Sohn meines Krauters” 2) , so gab er sich, wie es schien, zufrieden, und wir gingen weiter. Mittlerweile waren wir auch bei den Buchbinderläden vorbei, hinten herum, wo die Lotterie gezogen wird und die Tischler mit Schränken und Kommoden ihre Ausstellungen hatten, dem Ausgange des Junkerhofes ganz nahe gekommen. Weil nun hier die Passage sehr eng ist, der bösen Gesellen aber, die aus Mutwillen stopfen halfen, viel waren, so geschah es, obgleich die Wächter genug schrien und mit ihren Stangen Luft zu machen suchten, daß dennoch einige ansehnliche Leute im Gedränge steckenblieben, andere ihre Hauben und Hüte verloren. Mich hatte der Strom der Menge mit solcher Gewalt in den Rücken gefaßt, daß ich wie unbeweglich vor einem jungen, sehr schönen und wohlgekleideten Frauenzimmer stehenblieb, das darüber in keine geringe Verlegenheit zu geraten schien. Aber denke sich der Herr Vetter nur ja nichts Arges dabei, oder daß ich mir etwa ihre Verlegenheit, wie die übrigen, zunutz gemacht; nein, ich stand bloß dichte bei ihr und sah sie an, und sie mich auch. Und ich sprach kein Wort, und sie auch nicht, sondern alles, was ich tat, war, daß ich mit geballter Faust wehrte, daß von den übrigen sie niemand anrührte. Und ich konnte wohl merken, daß mein Betragen ihr gefiel; denn da das Gedränge schon angefangen hatte, sich zu verlaufen, blieb sie noch einen Augenblick stehen, und als sie wegging, sah sie sich noch einmal mit freundlichen Mienen nach mir um und wurde rot, und ich auch. Und so ist sie verschwunden und habe sie seitdem mit keinem Auge gesehen. Aber daß ich dem Herrn Vetter meine Historie zu End erzähle; als das junge Frauenzimmer kaum weggewesen, ist der Manheimer an mich getreten und hat mir gesagt, daß wir heut Abend bei Rekowskys auf der Altstadt zubringen wollten, und in der Konsternation hab ich ja gesagt und bin ihm gefolgt. Zum Glück aber sind wir bei der Nonnenkirche vorbeigegangen, und die Tür von der Kirche ist offengestanden, und mittendrin hing eine Lampe, die leuchtete hell und klar, und eine Stimme hat dazu oben vom Chor ganz fein und lieblich gesungen. Da ist mir allerlei eingefallen, von meinen Eltern, und was ich sonst von jenem Hause auf der Altstadt gehört hatte, das nichts Guts war, und der Spruch aus der Bibel 3) : „Wenn dich die bösen Buben locken”, und habe alles in meinem Herzen erwogen und dabei gedacht: „Geh doch lieber in die Kirche, es ist besser!” Und da ich diesen Schluß einmal fest in meine Seele gefaßt, so hat mir Gott auch die Gnade gegeben, ihn auszuführen; denn ich habe mich alsbald darauf zu meiner Gesellschaft gewandt und ihr adieu gesagt. Und wie ich fortging, hörte ich wohl, daß sie hinter mir her lachten, aber ich kehrte mich nicht daran. Und wie ich erst in der Kapelle war, wurde mir auf einmal das Herz wieder leicht, und weinte viel und laut, und wo ich hinsah, in den Kirchstühlen und überall, stand das junge Frauenzimmer von heut abend vor mir und sah mich still freundlich an. Und die Musik ging fort, und die Lampe schien dazu, wie der Mond, wenn Vollicht werden will, und mir war nicht anders zumut, als ob ich den Himmel offen säh und alle Engel niederstiegen und ihre Freude daran hätten, daß ich hier war. Und seitdem, liebster Herr Vetter, ist es, daß ich der Musik so gut geworden bin, und habe meinem Vater so lang und viel in den Ohren gelegen, daß er sie mich nun lernen läßt, nämlich bei Herr Dominikus, auf St. Petri-Kirchhof. Wiewohl das junge Frauenzimmer habe noch mit keinem Auge wieder gesehen und denke wohl, sie wird nicht von hier, sondern weit weg zu Hause sein. Aber wie sich doch alles in der Welt schicken muß!

Der ich die Ehre habe usw.




1) aus dem Deutschen Reich
2) Krauter, ein Provinzialausdruck für Patron, Meister
3) Altes Testament, Sprüche Salomos, 1, 10