Brief 2

Herr Vetter, wenn es nicht Gottes Wille ist, daß es bald mit mir zum Guten oder Schlimmen ausschlägt, so werde ich noch desperat werden und am Ende meinen Eltern davonlaufen. Der böse Feind versucht mich so zu allerlei, und oft wünsche ich sogar – Gott verzeihe mir den Wunsch! aber was kann ich davor, daß er mir von Herzen kommt? –, daß mir nur wieder einmal so ein schwer Unglück passierte, wie das war, was meine Eltern an mir erlebten, als ich Anno 78, zehn Jahr alt, auf St. Petri-Kirchhof, von einem Kutschwagen fiel und ein Bein brach. Aber so gut wird es mir nimmer, liebster Herr Vetter. Ach! das war eine schöne Zeit! Denn damals und solang ich in dem Verbande zubrachte, konnte ich lesen, was und soviel ich nur immer wollte und schnitt mir kein Mensch deshalb ein schief Gesicht. Jetzt, sobald ich nur ein weltlich Buch in die Hand nehme, heißt es gleich, ob mich der Satan schon wieder mit mein Historienbuch bei der Hand hätte, Und damit ist's nicht genug, sondern steht auch gleich mein Vater oder Mutter hinter mir und nimmt es mir weg. Ach liebster Herr Vetter, das sind schwere Zeiten, die ich verlebe, und ist auch keine Hoffnung, daß mein Fortune je besser werden wird. Abends um Zwielicht und wenn die andern im Haus und in der Werkstatt Vesper halten, schleich ich mich fort und geh und hol mir irgendein Buch aus Herrn Brückners Lesebibliothek. Aber wo lesen? das ist die Kunst! Da trete ich dann im Winter auf die hohen Beischläge am Fischertor, wo die Laternen brennen, und lese, bis mir das Gesicht braunrot wird und meine erfrornen Hände die Blätter vor Kälte nicht mehr umschlagen können. Wenn ich darauf nach Hause komme, hab ich auch keinen gnädigen Herrgott; da zankt mein Vater und meine Mutter auf mich ein, da setzt es sauere Gesichter und oft wohl gar – nun was hilft's? einmal ist man in der Welt und muß aushalten. Sehen Sie, liebster Herr Vetter, daraus mach ich mir auch im Grund nichts, weil ich's von Jugend auf gewohnt bin; aber was mich mehr kränkt als die Schläge, ist, daß ich in keinem Stück weiterkomme. Da hab ich neulich von einem Autor gelesen, den Wieland aus der griechischen Zunge in das Deutsche übersetzt. Den gab mir der Brückner wegen der wunderbaren Geschichten, die darin enthalten sind.. Derselbe heißt, glaub ich, Lukian 1) und schreibt sich aus Samasota: der ist auch arm und geringer Leute Kind gewesen, so wie ich, und ist in der Werkstatt gestanden, so wie ich, und ist doch nachher ein berühmter und gelehrter Mann geworden. Dabei ist mir, wie ich dieses so las, das Herz vor Freuden hoch aufgesprungen; aber so selig werd ich nicht, daß ich meinen Eltern die Freud an mir erleben laß. Nun, ich weiß, was ich tu; bis künftigen Sommer wart ich noch, und wenn es da nichts wird, so seh ich zu, daß ich ein Schiff kriege, und dann, liebster Herr Vetter, heißt's: Auf und fort nach Batavia 2)

Der ich die Ehre habe usw.




1)
Der griechische satirische Dichter Lukian (um 120-um 180) stammte aus einer unbemittelten Handwerkerfamilie. 1788/89 erschienen seine Werke in der Übersetzung von Christoph Martin Wieland


2) Hauptstadt Niederländisch-Indiens, heute Djakarta