Brief 1

Hochzuverehrender Herr Vetter!

Verzeihen mir mein Schreiben; danke für gütige Erlaubnis, und daß orthografische Schnitzer darin, das kommt daher, weil mich mein Vater schon früh aus der Schul genommen, nämlich bei Herr Piler zu St. Petri und Pauli, kaum zehn Jahr alt, und mich zu sich in die Werkstatt getan, Künftiges Jahr, auf Tag Simon Judä, geliebt's Gott, bin ich nun dreizehn Jahr und wachs alle Jahr ein Kopf höher, und wer mich sieht, freut sich daran, daß ich so groß bin – aber daß ich mich freute, wenn ich das sagte, so müßt ich lügen – denn ich denk so, ist mancher groß und ein Esel dazu, und was hilft mir, daß ich groß bin, da ich nicht studieren kann. – Wenn ich nun auch einer würde, nämlich ein Student, ach Gott! Herr Vetter, das wär meine Lust, aber mein Vater, der hat da kein Ohr dazu. Meine Mutter wohl; aber die kann auch nicht, wie sie will. Nun was hilft's? Da heißt's recht: Schick dich in die Zeit; bet und arbeit, und das übrige Gott befohlen. So sagt auch der Herr Pater Lambert zu Schwarz-München. Denn der Herr Vetter soll wissen, daß ich dort immer mit aufs Chor gehe und Musik mache, wenn große Meß ist, nämlich an der zweiten Violine, mit meinem Musikmeister Herr Dominikus. Als ich nun so einen Sonntag wie die übrigen Musizi auch am Kohlfeuer dastand und mich wärmte, so ist der Herr Pater an mich getreten und hat mich gefragt, wie ich heiße. Da hab ich ihm in meiner Einfalt zur Antwort gegeben: „Ich heiß Herr Johannes”, worauf mich die übrigen ausgelacht. Er aber hat mich bei der Hand genommen und in seine Zelle geführt, und wie wir dort hingekommen, so hat er erst mit mir gesprochen, und zuletzt, da hat er reich mit großem Ernst gefragt: „Herr Johannes, hättest du wohl Lust, zu firmeln und katholisch zu werden?” Ich aber erschrak heftig in meinem Herzen und sagte, wie man mich gelehrt hatte: „Reverende Pater 1) , nein! Ich bin auf Christum und Calvinum getauft – und so gedenke ich auch in diesem Glauben zu sterben”, wobei mir die Tränen über die Backen rollten. – Da er das sah und wohl merkte, daß für diesmal mit mir nichts auszurichten sei, wurde er sanfter und sprach: „Nun, nun, erschrick nur nicht, mein Sohn! Eine Frage steht ja frei, und die Kirche zwingt niemand.” Da er das sagte, stimmten die auf dem Chore die Violine; so wandte er sich zu mir um und fuhr fort: „Komm mit, die Meß ist angegangen!” Und das ist nicht bloß der Pater Lambert, liebwertester Herr Vetter, nein auch der Mennonit 2) in der „Blauen Hand”, und der St. Petri-Kirchhof gegenüber den großen Schank hat, meint auch, wenn es nach Rechten ginge, so mußte ich Lateinisch und Französisch lernen und die hohen Schulen besuchen, denn Kopf hätte ich schon dazu für zehn andere. Ja, was hilft einem aber der Kopf, wenn man kein Geld hat? das ist nur ebensoviel. Zwar mein Großvater, Monsieur Chalion, der ein französischer Schweizer ist aus Genf und Französisch kann so perfekt wie Wasser, hat mir versprochen, wenn es erst so weit wäre, mir damit unter die Arm zu greifen. Ingleichen auch mein Onkel, Monsieur Grell, auch ein alter Schweizer aus Genf, der Kantor von der französischen Kirche, der gibt ebenfalls Lektion darin – da kann es mir also mit Gottes Hülfe nicht fehlen! Aber das Lateinische! Liebster Herr Vetter! Das Lateinische! Apropos, da hab ich gehört, daß zu Königsberg in Preußen ein Collegium-Fridericianum 3) sein soll, wo arm und geringer Leute Kinder Latein lernten, soviel als sie wollten und mehr. Könnten es der Herr Vetter nicht bewirken, daß ich dahin käme? Wollte auch desfalls, wenn es notwendig wäre. selbst an den König schreiben – wo nicht, wäre mir noch lieber. Gehen mir der Herr Vetter doch mit einem guten Rat an die Hand; nur daß ich von dem verwünschten Metier loskomme.




Der ich die Ehre habe mich zu nennen usw.
1)
Heiliger Vater
2)
Mennonit: Angehöriger einer christlichen Sekte, die, den Wiedertäufern nahestehend, Gewalt, Krieg und Rache ablehnte

3)
Vorstudienanstalt in Königsberg