Ben Isaak Salomon (Raschi). (1040-1105) Salomon ben Isaak – genannt Raschi!

Keiner im Judentum dürfte sich finden, der diesen Namen nicht mit feierlicher Achtung ausspräche, und der dem Träger dieses Namens nicht zu unendlichem Danke verpflichtet wäre. Das Leben dieses Mannes ist dergestalt mit Fabeln und Widersprüchen umnebelt, dass es schwer fallen muss, etwas Licht und Helle zu gewinnen. Eine Meisterhand aber hat sich daran versucht, und glänzt durch ein Meisterstück: Zunz ist es, dem es durch Fleiß, Scharfsinn und Gelehrsamkeit gelungen, die Lebensgeschichte dieses Mannes in Klarheit zu erforschen, und mit Geist aufzuzeichnen. Des vielverdienten Zunz Schilderung also ist unser Vorbild und Leitfaden.

Raschi ist geboren im Jahre 1040 zu Troyes in der Champagne. Sein Vater Isaak, war kein ungelehrter Mann; seine Mutter war die Schwester des berühmten Simeon des Älteren. Seine früheren Lebensumstände und Verhältnisse gewähren durchaus keine geschichtlichen Anhaltspunkte. Gewiss ist jedoch, dass er sich sehr früh verheiratete, und späterhin öffentlicher Lehrer wurde, wahrscheinlich zu Troyes selbst. Zu den Märchen, die aus seinem Leben erzählt werden, gehört, dass er große Reisen nach Ägypten und Asien unternommen habe, was nur reichen Privatleuten möglich war; öffentlich lehrenden Rabbinern konnte und durfte das nie in den Sinn kommen. Und warum hätte der freimütige Raschi, der Erlebtes so treulich mitteilte, von diesen Reisen geschwiegen, und nirgends ein Wort davon fallen lassen? Im Gegenteil folgt aus Stellen seiner Kommentarien, dass er weder Palästina noch Babylon je betreten; und wenn er von Venedig erzählt, dass man dort von einem Hause ins andere zu Schiffe fahre, so beweist das noch nicht, dass er selbst dort gewesen sei. Ebenso unbekannt ist ihm Spanien.


Er hatte drei Töchter, keinen Sohn. Eine war an seinen Schüler und Fortsetzer Jehuda ben Nathan, die zweite an einen Unbekannten und die Dritte an Meyer aus Damrog verheiratet, welch letzterer, selbst ausgezeichnet durch Kenntnisse, der Vater vier berühmter Söhne und einer Tochter ist. Der erste Samuel, Raschbam, ist Nachfolger Raschis im Amte, der zweite Isak, und der dritte der berühmteste, Jacob, unter dem Nahmen Tam bekannt. So pflanzte sich Raschis Geschlecht fort und man kann seine Geschlechtstafel, die voll von berühmten und autorisierten Nahmen ist, bis zirka 1220 fortleiten.

Raschi ist der Stifter der deutsch-französisch-rabbinischen Schule, und er hat sie sowohl durch Schüler, als auch durch seine eigene Familie befestigt, ausgebreitet, verherrlicht und verewigt. Die Männer der Toßapoth sind seine Nachkommen und Schüler; und sie waren die Erzieher aller Lehrer des damaligen Deutschlands und Frankreichs. Durch ihn hatte sich das Studium des Talmud durch ganz Frankreich verbreitet, und es entstanden Schulen in Metz, Verdün, Vitry, Lyon, Lafére, Orleans, Paris, Sens usw.

Von diesem talmud-jüdischen Leben aus, muss Raschi aufgefasst werden, und auf diesem Felde blühen seine Leistungen, die ihn bis zu uns herübergetragen, und dies ist der Standpunkt, auf dem er groß und ehrwürdig erscheint. Jene nur, sagt Zunz, die nach ihren gebildeten Freunden in der Residenz sich die Gestalten untergegangener Zeiten schnitzen, äffen die Weltgeschichte und prahlen von Raschi, dass er ein toleranter Mann gewesen sei, der Persisch, Arabisch, Latein, Griechisch, Deutsch verstanden, Astronomie und Medizin ergründet, in Kabbala und hebräischen Grammatik ein Meister, Reisen gemacht und Wunder getan habe, – und nur über die Kommentarien, als über die eigentliche Welt des Raschi beobachten sie ein dummes und hochmütiges Schweigen.

Ganz anders muss aber von Raschi behauptet werden, dass er nur vom Talmud beherrscht wurde, und nichts von all den ihm angedichteten Sprachen und sehr wenig von den Wissenschaften wusste, die ihm zugeschrieben wurden. Über die Kraft und Einsicht, über die Richtung und über den Willen dieses Mannes, werden uns seine eigenen Werke den besten Aufschluss geben; und wird er unbewusst uns eine schwachen Seiten auch verraten, so wird er wohl nicht stumm bleiben, wenn wir ihm die starken abfragen werden.

Was seinen Kommentar des Talmud betrifft, so muss bemerkt werden, dass er nicht der Erste war, der das Geschäft übernommen, den Talmud zu kommentieren, denn zu seiner Zeit waren schon dreizehn Kommentatoren, drei Lexikographen, mehr als fünf Sammlungen von Rechtsgutachten, über achtzehn Talmud und Gesetz erläuternde, acht grammatische und anderweitige Schriften vorhanden, so, dass seine Bibliothek wenigstens achtzig Werke stark war, die er Alle benutzt, und von denen er so Manchen als seinen Lehrer bezeichnet. So Isaak ben Jehuda aus Frankreich, Isaak Levi aus Vitry, Jacob von Jakor usw.

Zu welcher Zeit Raschi seine Kommentarien angefangen, darüber können wir nicht Auskunft geben, weil uns keine Kunde darüber zugekommen ist. Wahrscheinlich erst nach dem Jahre 1070, und wie es scheint, hatte er nicht immer ununterbrochen oder der Reihe nach gearbeitet, denn er ist in zwei Traktaten zugleich, und zwar in der Mitte des Talmud Baba Bathra und Maccoth stehen geblieben. Die beiden Klassen seiner Kommentarien sind stark von einander verschieden. Sein biblischer Kommentar ist als ein neues Werk zu bezeichnen, das er begonnen, und zwar als ein privates Unternehmen, denn es findet sich nirgend eine Spur, dass er die Bibel öffentlich gelehrt, und höchst selten führt er einen seiner Lehrer darin an. Er hat vielmehr zu seinem und zum Nutzen der Lernbegierigen diese Arbeit – eine Frucht seiner Einsicht und seiner Gelehrsamkeit – unternommen, und als ein geschlossenes Werk ist sie aus seinen Händen hervorgegangen. Die talmudischen Kommentare aber, nach älteren Meistern eingerichtet, aus früheren Arbeiten exzerpiert, öffentlich empfangen, öffentlich den Schülern wieder gegeben, sind wahrscheinlich, noch während ihr Urheber selbst fortarbeitete, in die Hände des Publikums gekommen, so, dass je öfter Raschi Gelegenheit bekam, seine Aussprüche zu berichtigen oder zu ergänzen, desto vielfältiger diese Collegienhefte, auch verbessert, gleichsam überarbeitet worden sind. Großen Wert mussten daher Raschis eigene und letzten Arbeiten haben, die unstreitig im Besitze einer vornehmsten Schüler und Enkel verblieben. Auch konnten über denselben Gegenstand, unabhängig von den geschriebenen Kommentarien sich Zusätze vorfinden, die teils schriftlich abgefasst, teils einer nächsten Umgebung mündlich mitgeteilt worden waren. Auf diese Weise kann man sich so Manches erklären, was über die Kommentarien des Talmud scheinbar Widersprechendes vorkommt.

Nichts destoweniger verfolgt der Geist Raschis eine bestimmte Richtung, die in beiden Arbeiten sich offenbart. Er will dienen dem Werk, das durch ihn reden und verstanden sein soll, – der Aron sein dem stummen Moses. Er strebte daher, die Heiligen ihrem Urgedanken nach wiederzugeben, und dies sollen ihm Wort verstand und Hermeneutik bewirken helfen, und daher finden wir, obschon Talmud und der Zeiten Sitte ihn beherrschten, niemals Allegorien, sondern er gibt bloß die rezipierten wieder. Einmahl gestand er gerade, zu dem Samuel ben Meier, dass er bei mehr Muße an neue Erklärungen denken müsste, weil der natürlichen Auslegungen täglich mehr würden. Des praktischen Nutzens wegen aber hat er die wichtigsten Halachoth an den passendsten Bibelstellen angeführt, und die Erklärungen selbst im reinen Hebräisch abgefasst. Nicht minder war er in den talmudischen Kommentarien bemüht, die Welt vor untergelegten Dichtungen zu bewahren, und gibt den Talmud ohne Verteidigung und ohne Angriff, ohne Deutelei und ohne Sophisterei, und verkündet den Sinn, ohne Eifersucht als ob er ob ein Anderer das Rechte geraten.

Mit eben der Treue gegen seinen Text, verbindet Raschi Ehrlichkeit gegen seine Leser. Er scheidet Formelles von Eigenem, nennt, wo es passt, seine Gewährsleute, sagt, was sein Eigentum, was er nicht von Andern hat, affektiert keine Kenntnisse, und sagt offen seine Meinung selbst gegen Talmud und Rezeption.

Seine Sprache ist überall Natur concis und deutlich. Mit einem Buchstaben, bemerkt Azulai richtig, sagt er mehr als Andere in ganzen Reihen; im Ausdruck der hebräischen und chaldäischen Sprache hat er große Übung, und obwohl in wissenschaftlicher Grammatik zurück, er dennoch sicher durch Gefühl und Übung geleitet und nicht selten ein glücklicher Bestreiter grammatischer Theorien. Besondere Aufmerksamkeit richtet er auf den Wortverstand, und erläutert das Wort, zersetzt es grammatikalisch und übersetzt es, wo er es für nötig findet, in der Regel in seiner Muttersprache, in das Altfranzösische, so, dass man aus seinen Glossen, wüsste man sie in den verdorbenen Ausgaben nur recht zu deuten, ein ziemliches Lexikon der französischen Sprache aus der Zeit des ersten Kreuzzuges veranstalten könnte. Die hebräische Sprache ist ihm die Sprache der heiligen Schrift, und die chaldäische ihm identisch mit der Sprache des babylonischen Talmud. Sehr hoch achtete er alte gute Handschriften, und berichtigte durch sie falsche Lesearten im Talmud usw.

Der Ruf seiner großen Gelehrsamkeit zog ihm bald Scharen von Schülern herbei, die seine Lehren, seine Schriften, seinen Ruf verbreiteten, und deren Nachfolger als die Vermittler auftraten, zwischen der afrikanisch-spanichen und zwischen der italienisch-französischen Schule. Die vorzüglichten seiner Schüler sind folgende: Simcha ben Samuel aus Vitry, Großvater Isaaks des Älteren, Ahn des Moses Couci, gleichzeitig mit Raschi gestorben; Samuel ben Meier, desselben Enkel und Nachfolger im Amte, Verfasser großer talmudischer Kommentarien, eines Kommentars zum Pentateuch; Schemaja, Raschis Enkel, gleichfalls Kommentator; Schemarja, Verfasser eines Machsor; Jehuda ben Nathan, Raschis Eidam, und Isaak Levi ben Ascher. Dies ist in Kürze Alles, was von Raschis Leben und Werken zu erzählen wäre, bis auf den Umstand, dass er noch eine traurige Begebenheit erlebt, die Judenverfolgung am Rhein im Jahre 1096, über die noch manche Klagelieder von Zeitgenossen übrig sind, als: von Benjamin Menachem ben Meschullam, Samuel ben Jehuda, Kalonimos ben Jehuda, Eleafer. Er starb in einem Alter von 64 Jahren, zwischen den Jahren 1104 und 1105. Sein Schatten aber fing nun erst an, sich zu bewegen, zu leben und zu wirken. Folgendes sind seine hinterlassenen Werke: 1.) Kommentar zur heiligen Schrift. Von diesem soll ein Enkel Jakob Tam geäußert haben, dass er sich wohl die talmudischen Kommentare, aber nicht die biblischen zu machen getraut haben würde. Seine Gedrängtheit war ungeübten Lesern unverständlich, und scharfsichtigen bedeutungslos, ungenügsamen zu kurz, aufgeklärten zu orthodox. Daraus ist zugleich erklärlich, warum er so viele Ausleger, Angreifer und Feinde gefunden, deren Aufzählung ein ganzes Register ausmachen würde. Dieser Kommentar wurde nun von Epitomatoren und Kompendienschreibern benützt, aber auch interpoliert, wie z. B. der Kommentar zur Chronik usw. Fünfhundert Jahre hatte man Raschi unverstümmelt gelesen, da erscheinen im Jahre 1617 römische Zensoren, vermutlich über einige Ausdrücke mehr als über die theologische Polemik unwillig, und strichen aus dem Texte die ihnen missfälligen Stellen.

Die Gelehrten behandelten ihn aber freundlich und gütiger. Erkannten sie die Wissenschaft des Judentums nicht als eine selbstständige, so erschien ihnen Raschi als der heiligen Schrift treuer Begleiter, der alte jüdische Rabbiner interessant genug seine Bekanntschaft zu suchen und seine Meinung zu befragen. So hatte ihn schon Nicolaus de Lyra, Justianus Sebastian Münster gelesen und Noten dazu gemacht.

Noch wichtiger sind die Versuche, Raschis Kommentar ins Lateinische zu übersetzen und zu erläutern, von denen eine oder die andere mehr oder weniger glücklich ausgefallen ist. Des Pellicanus (gest. 1556) Übersetzung des ganzen Kommentars ist nicht bekannt worden, und nach ihm traten noch viele Übersetzer auf. – Was nun „die jüdische Welt“ betrifft, so gab dieser Kommentar Gelegenheit zu vielen andern Kommentaren.

2.) Kommentare zum Babylonischen Talmud, unter denen der Kommentar zu Nedarim (letzte Hälfte). Nasir Kerithoth, Meila nicht ihm gehören, und den Traktat Baba Bathra hat er nur bis S. 29 a so wie er den Traktat Maccoth nur bis S. 19 b kommentierte, jenen hat Samuel ben Meier, diesen Jehonathan ben Nathan fortgesetzt, und der Kommentar erstreckt sich über die drei Traktate Redarim, Baba Bathra, Maccoth als unvollständig und über 30 Traktate vollständig.

Späterhin hätte Raschi trotz aller Sorgfalt durch viele Abschriften gelitten, wie viele seiner Bearbeiter klagen, und an Bearbeitern wie sein Bibel-Kommentar ist er viel ärmer; hingegen musste er viel Feuerproben mitmachen. So ist er in Spanien verboten (Ind. libr. proh. sub Ferdin. VI. Th. 2. p. 1048) und in Italien verbrannt worden. (Bartolocci Th. 3. S. 747) Die Gelehrten, die ihn gut nicht übergehen konnten, führen ihn nur beiläufig an, und seit den letzten hundert Jahren ist er fast wie vergessen; wer ihn anführt, schreibt früheren Gelehrten nach.

3.) Commentar zu Bereschith Rabba, gedruckt in Venedig 1560 Fol. (Wolf T. II. Azulai S. 71 Nr. 9 f, 17 Nr. 9).

4) Commentar zu Aboth. (Handschrift im Vatican) gedruckt (Mantua 1560 Fol. Venedig 1605. 4. Wilmersdorf 1708. 8. und in der Amsterdamer Talmudausgabe von 1714 (p. Bartolocci Th. I. p. 8. Wolff Th. I. p. 1068. Th. 2 p. 907. 909 Opp. Catal. p. 96.

5) Gutachten und Urteilssprüche scheint Raschi schon unter dem Namen „Lustgärten“ gesammelt, wenigstens eine solche Sammlung veranstaltet zu haben. Einen Auszug hat Samuel aus Bamberg angefertigt. Einige handschriftliche Sammlungen befinden sich in der Oppenh. Bibliothek

6) Gebet-Ordnung, von der vielleicht nur das eine Exemplar existiert, das Raschi besessen und beschrieben.
Man hat ihm außer den angeführten Werken irriger Weise noch Andere zugeschrieben.

Ungemein groß ist der Einfluss von Raschis Werken auf die späteren Juden. So ist seine Meinung, sein Urteil die Grundlage der Toßaphoth, das will sagen, der ganzen nachmaligen französisch-deutsch-polnischen Rabbinerschule, und immer musste man zu seiner Erklärung der Schriftstellen Zuflucht nehmen. Er genießt vorzügliche Ehrennahmen: „Großes Licht; Lehrer; Vater des Talmud; grader Verstand; Lehrer des Exils; Haupt der Erklärer; Gesetzverkünder.“

„Niemand ist ihm an die Seite zu setzen“, sagt Mendelssohn, „wo er natürlicher Auslegungen sich befleißigt.“ Und selbst Karäer haben ihn studiert.

In den Werken Raschis liegt noch zur Bearbeitung künftiger Geschlechter eine Geschichte der jüdischen Bibelerklärung, eine Geschichte des Talmudismus und des ihn fortleitenden Rabbinismus; auch liefert er Manches zur innern Geschichte der jüdischen Literatur, zur Kritik des Gemara Textes und selbst zur Altertums- und Geschichtskunde überhaupt.
S. D.