Juedische Sprichwörter

Autor: Landsberger, Artur Dr. 1876-1933, Erscheinungsjahr: 1912
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. Kapitel I - Von Familie und Haus.
    1. Sprichwort 001 bis 020
    2. Sprichwort 021 bis 040
    3. Sprichwort 041 bis 051
  2. Kapitel II - Von Glück und Unglück.
    1. Sprichwort 052 bis 070
    2. Sprichwort 071 bis 097
  3. Kapitel III - Von Weisen, Narren und Schlemihlen.
    1. Sprichwort 098 bis 120
    2. Sprichwort 121 bis 140
    3. Sprichwort 141 bis 162
  4. Kapitel IV - Von Juden und Andersgläubigen.
    1. Sprichwort 163 bis 187
  5. Kapitel V - Von Gott, Tod und Leben.
    1. Sprichwort 188 bis 213
  6. Kapitel VI - Von Tugend und Lastern.
    1. Sprichwort 214 bis 235
    2. Sprichwort 236 bis 253
  7. Kapitel VII - Weise Sprüche und Lebensregeln.
    1. Sprichwort 254 bis 280
    2. Sprichwort 281 bis 300
    3. Sprichwort 301 bis 320
    4. Sprichwort 321 bis 340
    5. Sprichwort 341 bis 360
    6. Sprichwort 361 bis 379
  8. Kapitel VIII - Scherzhafte Redensarten .
    1. Sprichwort 380 bis 400
    2. Sprichwort 401 bis 420
    3. Sprichwort 421 bis 433
Vorwort

In der Erkenntnis, daß die Anschauungen und die Denkweise, die Sitten und Gebräuche, kurz der ganze Charakter eines Volkes nirgends bündiger, deutlicher und nüancierter zum Ausdruck kommen als in seinen Sprichwörtern, haben als erste die Parömiographen derartige Sammlungen veranstaltet, von denen und aus der Zeit des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt 3, nämlich die des Diogenianos, des Zenobius, und Plutarch (Sprichwörter der Alexandriner) erhalten sind.

Heute besitzt jede zivilisierte Nation ihre Sammlung. Wir Deutschen haben uns nicht damit begnügt, unsre eignen Sprichwörter zu sammeln, die in Dutzenden von Editionen vorliegen; wir haben vielmehr lateinische und griechische, französische, englische, italienische, spanische, persische, chinesische, japanische Sprüche ins Deutsche übertragen — nur die jüdischen hat man trotz der starken Einwirkung jüdischer Eigenart auf deutsches Wesen bis heute nicht aus ihrer Ghetto-Einsamkeit ans Licht des Tages gefördert.

Das geschieht hier — wenigstens in deutscher Sprache — zum ersten Male; indessen darf der Herausgeber wohl behaupten, daß auch in keiner anderen Sprache bisher eine derartige Sammlung vorliegt — außer im Jüdischen.

Das Jüdische, ein mit Slavischem und Hebräischem durchsetztes Mittelhochdeutsch wird noch heut von mehr als sechs Millionen Menschen gesprochen. Tagesblätter in dieser Sprache, deren Auflagen zum Teil nach Hunderttausenden zählen, erscheinen zu Dutzenden, und in den letzten 15 Jahren hat sich eine moderne jüdische Literatur entwickelt, für deren hohes Niveau die Leistungen von J. L. Perez und Mendaly Mocher Sforem beredtes Zeugnis ablegen. Ihre ins Deutsche übertragenen und hier und da veröffentlichten Erzählungen aus dem Leben des jüdischen Volkes können neben dem Besten, was deutsche Erzähler gaben, leben. Die jüdischen Volkslieder, die an Natürlichkeit und Innigkeit, wie an Unmittelbarkeit des Empfindens ihresgleichen suchen, denke ich demnächst herauszugeben.

Nun noch ein paar Worte zu der vorliegenden Sammlung:
Vor ein paar Jahren brachte mir der durch seine Romane bekannt gewordene galizische Schriftsteller Hermann Blumenthal zur Veröffentlichung in einer Zeitschrift eine Reihe von jüdischen Sprichwörtern, die er in Wien und Galizien gesammelt hatte. Ich bat ihn, seine Sammlung fortzuführen, und vor allem zu erforschen, ob eine große Reihe bei uns seit Menschengedenken gebräuchlicher Sprichwörter, die auch im Ghetto gebraucht werden, von dort zu uns gekommen sind, oder ob die Juden vor drei Jahrhunderten diese Sprüche bei uns gehört, übernommen und dann mit oft kaum merklichen Veränderungen ihren Gewohnheiten angepasst haben. Diese Feststellungen sind nicht überall gelungen.

Dafür gelang es andererseits, den Nachweis zu erbringen, daß eine ganze Reihe von Sprüchen, die wir als typisch deutsch empfinden, aus dem Talmud und Midrasch stammen. Reiche Ausbeute war für meine Arbeit die Handschrift des Moritz Blaß aus dem Jahre 1850, die sich in ihrem wohl einzigen Exemplar in der Lesehalle der Berliner kgl. Bibliothek befindet, so wie eine Auslese, die ein Liebhaber der jüdischen Heraldik namens Bernstein in Russland und Polen gesammelt und im Hausfreund vom Jahre 1889 veröffentlicht hat. Bernsteins Sammlung ist wohl die reichhaltigste. Auch der sehr empfehlenswerten Tendlauschen Sammlung (bei Kaufmann Frankfurt), der weitaus besten, die mir vorlag, habe ich einige wenige Sprüche entnommen. 150 Sprüche etwa sind aus dem Talmud und Midrasch. Tolstoi hat während seiner Krankheit im Jahre 1908 „Gedanken weiser Männer“*) gesammelt. Lao-Tse, Confucius, Buddha, Christus, sein Liebling Ruskin, Pascal, Voltaire, Vauvernagues, Rot, Kant, Luther, Jean Paul, Gontscharow, Dostojewski sind vertreten; aber auch eine große Zahl von Talmudsprüchen befindet sich darunter, von denen ich etwa ein halbes Dutzend in diese Sammlung aufgenommen habe.

Natürlich hätte ich allein aus dem Talmud und Midrasch Bände mit weisen Sprüchen füllen können. Ich habe das nur soweit getan, als hier enthaltene Weisheiten ins jüdische Volk drangen und von ihm, meist ohne daß das Volk die Herkunft kannte, zu gebräuchlichen Redensarten wurden. Übrigens existieren derartige Sammlungen meist recht minderwertiger Art; ein großherzoglich hessischer Provinzialrabbiner leistet sich in der Verballhornisierung talmudischer Weisheit, die er „zur Erbauung der jüdischen Jugend“ in Knittelverse zwängt, gradezu Erstaunliches. Seine Leistung aber stellt noch in den Schatten der Berliner Max Weinberg, der seiner „Spruchpoesie des Talmud“ betitelten Sammlung in anerkennenswerter Selbstkritik Goethes Wort vorausstellt: „Original, fahr hin in deiner Pracht!“ Und in der Tat verspürt man in beiden Sammlungen nicht den leisesten Hauch talmudischen Geistes. Gegen solche Schändungen heiligen Besitztums sollten alle Glaubensgenossen Protest erheben. Obgleich es auch mir nicht immer gelang, für jedes spezifisch jüdische Wort die Übersetzung zu finden, die den Sinn des Wortes in seiner ganzen Eigenart wiedergab, so glaube ich doch mit diesem Buche manch einem das Verständnis für jüdisches Denken und Fühlen vermittelt zu haben.

Ob es für das Studium eines Volkes zweckdienlicher ist, es beim Beten, bei der Arbeit oder bei seinen Vergnügungen aufzusuchen, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Der Satz aber: „an seinen Sprüchen wirst du es erkennen“, hat allgemeine Gültigkeit.

Schließlich sei hier noch dem Schriftsteller Hermann Blumenthal gedankt, der mir mit Liebe und Umsicht beim Sammeln, Übersetzen, und Zusammenstellen geholfen hat.

Pfingsten 1912.

Dr. Artur Landsberger

*) Deutsch von Adolf Hess bei Albert Langen, München.