Zur ästhetischen Würdigung der Bibel

Die ästhetische Betrachtung der Bibel war bis ins 18. Jahrhundert bei Juden und Christen gleich unbekannt. Man begnügte sich damit, in der Heiligen Schrift das Wahre und Gute zu finden, und dachte gar nicht daran, auch das Schöne darin zu suchen. Wohl haben die größten Dichter auch schon in früheren Jahrhunderten instinktiv die Schönheit der Bibel herausgefühlt und sich von ihr beeinflussen lassen. Doch mit Bewusstsein hat keiner von ihnen die eigenartige Schönheit der biblischen Poesie sich oder gar anderen klar gemacht. Der einfache Grund davon liegt in der Tatsache, dass keiner all dieser Dichter den hebräischen Urtext lesen konnte, sondern mit unvollkommenen Übersetzungen sich behelfen musste, in denen der Blütenstaub des Originals verwischt ist, wie denn überhaupt die Kraft und Schönheit der hebräischen Poesie noch von keinem Übersetzer bis auf den heutigen Tag auch nur annähernd erreicht wurde. Es war also nur natürlich, dass erst ein gründlicher Kenner der Ursprache der Bibel ihre Schönheit voll erkennen und der erstaunten Welt aufweisen konnte. Dieser Mann war Herder. In seinem 1782/83 erschienenen Werke „Vom Geiste der hebräischen Poesie“, das leider unvollendet geblieben ist, leistete er auf seinem Gebiete nach R. Hayms Urteil „Ähnliches wie Winkelmanns Schriften für das Kunststudium und die Archäologie“. Ihm folgte kein geringerer als Goethe, der in seinen „Noten und Abhandlungen zum westöstlichen Divan“ und außerdem zerstreut an vielen Stellen seiner Schriften tiefsinnige Bemerkungen über die Schönheit des biblischen Schrifttums bietet.

Seitdem ist aber aus verschiedenen Gründen nur wenig für die ästhetische Würdigung der Bibel geleistet worden. Die meisten modernen Kritiker und Literaturhistoriker gingen, den Strömungen der Zeit folgend, an der Bibel überhaupt achtlos vorüber, und der große Umwerter aller Werte, Nietzsche, wurde gewiss nur von wenigen verstanden mit seiner tiefsinnigen Bemerkung, dass der Geschmack am Alten Testament ein Prüfstein auf „groß“ und „klein“ sei. Doch auch in der seit 100 Jahren so reich und vielseitig entwickelten alttestamentlichen Wissenschaft trat das ästhetische Moment auffallend in den Hintergrund gegenüber der philologischen und historisch-kritischen Betrachtungsweise. Für gebildete Laien vollends fehlte es, wenn wir von einzelnen Vorträgen absehen, gänzlich an einem Werke, das dem heutigen Stande der Forschung entspricht und doch in gemeinverständlicher Weise den Schönheitsgehalt der Bibel erschließt.


Diese empfindliche Lücke wird nun erfreulicherweise durch mehrere Veröffentlichungen des letzten Jahres ausgefüllt. Vor allem ist hier August Wünsche zu nennen. Wünsche ist unter den christlichen Gelehrten der Gegenwart einer der besten Kenner der hebräischen Sprache und Literatur, und was besonders selten ist, er kennt neben der Bibel auch die rabbinische Literatur, deren haggadische Bestandteile er in seiner „Bibliotheca Rabbinica“ übersetzt hat. In einem groß angelegten und vornehm ausgestatteten Werke behandelt er nunmehr „Die Schönheit des Alten Testaments“.*) Mit großer Wärme entwickelt er im ersten Kapitel die Grundlinien seines Gegenstandes und bespricht die wenigen Vorarbeiten. In folgenden Kapiteln bietet er eine nach Materien geordnete Darstellung der verschiedenen im Alten Testament anzutreffenden Dichtungsarten. Das Interesse wird durch sehr reichliche, sorgfältig ausgeführte Übersetzungsproben wie durch Einstreuung der bedeutsamsten Stellen aus Herder, Goethe und Heine dauernd aufrechterhalten und gesteigert. Mit Recht bespricht Wünsche an erster Stelle die Schönheit in der alttestamentlichen Geschichtsdarstellung. (Hier wäre ein Hinweis auf Steinthals Vortrag „Die Erzählkunst der Bibel“**) am Platze gewesen.) Sodann werden die poetischen und prophetischen Bücher auf ihren Wert geprüft. In diesen ersten Abschnitten liegt unseres Erachtens der Hauptwert des Buches, da hier eine Fülle anregender Gedanken und Beobachtungen geboten ist, während in den folgenden mehr ins spezielle gehenden Kapiteln naturgemäß der Verfasser stark zurücktritt hinter dem von ihm zusammengetragenen Material. Von selbständiger Durchdringung des Gegenstandes zeugen noch namentlich die Abschnitte über die Naturpoesie und religiöse Poesie. Für weite Kreise von Interesse dürfte das letzte Kapitel sein, das „das Alte Testament in der bildenden Kunst“ behandelt. Gleichsam als Ergänzung dieses Werkes, das sich nur mit der inhaltlichen Schönheit der Bibel beschäftigt, hat Wünsche ein zweites kleineres Werk über „Die Bildersprache des Alten Testaments“ veröffentlicht. Besonders wertvoll sind die im ersten Kapitel niedergelegten „Gedanken über Bild und Vergleichung im alttestamentlichen Schrifttum“. Dieselben stellen eine in sich geschlossene Untersuchung über das Wesen und die Unterschiede von Bild, Vergleich und Gleichnis dar und bilden damit einen wichtigen Beitrag zur Lehre von den Tropen überhaupt. Die folgenden Kapitel behandeln die Tierwelt, die Pflanzenwelt, das Mineralreich, die kosmischen Erscheinungen sowie Feuer und Wasser im Bilderschmuck des Alten Testaments. Die geradezu erschöpfende Sammlung aller einschlägigen Stellen ist von höchstem Interesse. Man erstaunt, wie der Verfasser mit Recht bemerkt, welche Fülle von religiös-sittlichen Gedanken und Ideen durch die Naturbildersprache im Alten Testament ihre Veranschaulichung findet, Gestalt, Farbe und Leben erhält. Die mit solchen Sammlungen unvermeidlich verbundene Eintönigkeit wird angenehm unterbrochen durch gelegentliche Hinweise auf verwandte Erscheinungen in der babylonischen, arabischen, rabbinischen, neutestamentlichen und altklassischen Literatur. Eine notwendige Ergänzung des Werkes, mit der vielleicht Wünsche uns noch selbst beschenken wird, hätte die dem Kulturleben entlehnten Bilder des Alten Testaments zu behandeln.

Während die bisher besprochenen Werke das Alte Testament lediglich von ästhetischen Gesichtspunkten aus beurteilen, bietet uns Karl Budde***) eine vollständige, geschichtlich orientierte Darstellung von der Entwickelung der althebräischen Literatur. Als einer der gelehrtesten und scharfsinnigsten Vertreter der historischkritischen Schule, der seit einem Menschenalter die alttestamentliche Wissenschaft durch zahlreiche wertvolle Werke bereichert hat, ist Budde für seine Aufgabe besonders gut vorbereitet, zumal er auch ein feinsinniges Verständnis für ästhetische Fragen besitzt, wie er z. B. schon in seinem Kommentar zum Buche Hiob gezeigt hat. Budde ist sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe vollkommen bewusst und rechtfertigt in der Vorrede, wieso er die von ihm, seinen Vorgängern und Mitarbeitern gewonnenen kritischen Resultate nicht noch einmal begründet, sondern stillschweigend als gesichert voraussetzt. Die Darstellung hat dadurch begreiflicherweise bedeutend gewonnen. Wir haben hier nach den vielen schwer durchzuarbeitenden Einleitungen, Kommentaren und Einzeluntersuchungen endlich eine lesbare alttestamentliche Literaturgeschichte, die auch dem Nichtfachmann eine Orientierung über das bei seinem geringen Umfang so reichhaltige und vielseitige alttestamentliche Schrifttum ermöglicht. Andererseits sind, was Alter und Komposition der einzelnen Schriften betrifft, noch so viel offene Streitfragen unter den Gelehrten, dass bei weitem nicht alle in dem Werke niedergelegten Meinungen als letztes Wort der Wissenschaft anzusehen sind. Doch als erster Versuch in seiner Art, die Arbeit der Kritiker auch für den weiten Kreis der gebildeten Laien nutzbar zu machen, ist das Werk unbedingt zu begrüßen. Eine erfreuliche Zugabe ist die von Alfred Bertholet verfasste Darstellung der apokryphischen und pseudepigraphischen Literatur, die bisher über den engen Kreis der Fachleute hinaus wenig Beachtung gefunden hat, trotzdem sie kulturhistorisch als Bindeglied zwischen dem Alten und Neuen Testament einerseits und der rabbinischen Literatur andererseits die höchste Bedeutung besitzt.

Mögen die Werke von Wünsche und Budde viele verständnisvolle Leser finden, die daraus den Geistesgehalt wie den ästhetischen Wert des alttestamentlichen Schrifttums besser würdigen lernen. Mögen dieselben auch die Erkenntnis befestigen, dass die von mancher Seite noch so gefürchtete kritische Behandlung der biblischen Literatur für unsere Zeit nur nützlich und nötig ist, wie es schon vor hundert Jahren Goethe mit weit vorausschauendem Blick erkannt hat: „Kein Schade geschieht den heiligen Schriften, so wenig als jeder anderen Überlieferung, wenn wir sie mit kritischem Sinne behandeln, wenn wir aufdecken, worin sie sich widerspricht, und wie oft das Ursprüngliche, Bessere durch nachherige Zusätze, Einschaltungen und Akkomodationen verdeckt, ja entstellt worden. Der innerliche, eigentliche Ur- und Grundwert geht nur desto lebhafter und reiner hervor, und dieser ist es auch, nach welchem jedermann, bewusst oder bewusstlos, hinblickt, hingreift, sich daran erbaut und alles übrige, wo nicht wegwirft, doch fallen oder auf sich beruhen lässt.“

*) Leipzig (Ed. Pfeiffer) 1906. Ein zweiter Band über das Neue Testament soll folgen.

**) Zu Bibel und Religionsphilosophie I S. 1 — 15.

***) Geschichte der althebräischen Literatur (Aus „Die Literaturen des Ostens in Einzeldarstellungen“). Leipzig, C. F. Amelangs Verlag. 1906.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen