Entstehung und Bedeutung des Talmuds

Der Abschluss des Talmuds bezeichnet den tiefsten Einschnitt in der jüdischen Religionsgeschichte. Denn er setzt den Endstein auf eine Entwickelung, die rund ein Jahrtausend gedauert hatte, und wurde selbst wieder der Ausgangspunkt einer neuen Entwickelung, die ebenso lange dauerte.

Seitdem durch die Bemühungen Esras die Thora zum Lehr- und Lesebuche der Juden gemacht worden war, musste es schon neben dieser schriftlichen Lehre notwendig auch eine mündliche geben. Bildete doch die Erklärung dieser schriftlichen Lehre einen Hauptteil des neuen Synagogen-Gottesdienstes und suchte den in seiner Kürze oft dunkeln Text zu deuten, zu erweitern, zu ergänzen und auf das Leben anzuwenden. Es ist also nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass die Anfänge der mündlichen Lehre mit den Anfängen der Predigt zusammenfallen.


So wie der Gottesdienst der Synagoge selbst eine Neuschöpfung war, für die sich in der schriftlichen Thora kein Anhaltspunkt bot, so bildeten sich im Laufe der Zeit aus dem Bedürfnis und aus den veränderten Anschauungen heraus eine Reihe von Einrichtungen und Gebräuchen, die bald Gesetzeskraft erlangten, ohne dass sie aufgezeichnet worden wären. Und es war eine weise Erkenntnis, die sich darin kund gab, dass man diese neu aufgekommenen Gesetze nur mündlich überlieferte. So konnte der Fluss der Entwickelung nicht erstarren, und es blieb Spielraum für die Berücksichtigung der Ansprüche einer jeden Zeit. Jahrhunderte hindurch war man sich gar nicht des immer größer werdenden Widerspruchs bewusst, der sich zwischen der geschriebenen Thora und den mündlichen Überlieferungen herausgebildet hatte. Da führten die Streitigkeiten zwischen den Pharisäern und Sadduzäern zu dem Versuche, den Einklang zwischen schriftlicher und mündlicher Lehre nachzuweisen. Die Sadduzäer leugneten aus politischen Gründen die Geltung der mündlichen Lehre. Daher versuchten die Pharisäer, die mündliche Lehre aus der schriftlichen abzuleiten. Dazu war es nötig, die Masse der Traditionen zu sammeln; und da zeigten sich schon die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten , die sich einem solchen Unternehmen entgegenstellten; denn als man an die Aufzeichnungen ging, ergaben sich sofort im Wortlaut, in der Erklärung und namentlich in der logischen Ableitung der Überlieferungen tiefgehende Widersprüche, die sich in der Gründung der beiden Schulen Hillels und Schammais verewigten. Zu einer vollständigen Aufzeichnung konnte es also vorläufig noch nicht kommen.

Da traten drei weltgeschichtliche Ereignisse ein, die in verhältnismäßig kurzer Aufeinanderfolge das Judentum in seinen Grundvesten erschütterten und zu einer möglichst schleunigen Aufzeichnung aller vorhandenen Überlieferungen drängten. Es waren dies der im Jahre 70 n. Chr. erfolgte Untergang des jüdischen Staates und Tempels, die Verbreitung des paulinischen Christentums und der unglückliche Ausgang des Bar Kochba-Aufstandes 135. Hatte das erste Ereignis den Juden aller Länder den räumlichen Mittelpunkt geraubt, so suchte die Lehre des Paulus, durch welche die Thora als abgeschafft erklärt und das Christentum als der Erbe der biblischen Verheißungen proklamiert wurde, dem Judentum geistig den Boden unter den Füßen wegzunehmen, während die Katastrophe von 135 eine römische Politik einleitete, die sich die völlige Vernichtung der jüdischen Religion zur Aufgabe machte. Damals fielen eine Reihe der angesehensten Lehrer des Judentums als Märtyrer, und es drohte mit ihnen der gesamte geistige Besitz des Judentums verloren zu gehen. Doch gerade noch rechtzeitig nahmen die bedeutendsten Gelehrten und ihnen allen voran Rabbi Akiba das große Werk in Angriff, alle Überlieferungen des Judentums systematisch aufzuzeichnen.

Es gab zwei Methoden für die Sammlung des ungeheuren Traditionsstoffes, entweder die Ordnung nach Gegenständen, also in Form eines Gesetzbuchs, oder die Ordnung nach Bibelversen, also in Form eines fortlaufenden Kommentars zur Thora. Nach beiden Methoden legte Akiba Sammlungen an, doch war das Werk noch nicht vollendet, als er den Märtyrertod starb, und erst nach zwei weiteren Generationen fand es seinen definitiven Abschluss. Wir besitzen noch heute sowohl zwei vollständige Sammlungen der erstgenannten Art, die Mischna und die Tosifta , als auch mehrere Sammlungen der zweiten Art, die sogenannten tannaitischen Midraschim. Von diesen Werken erlangte Gesetzeskraft nur die von Rabbi Jehuda Hannasium 200 abgeschlossene Mischna, die bis heute den Grundstock des Talmuds bildet.

Die Mischna ist gleich den anderen Traditionssammlungen in neuhebräischer Sprache abgefasst und enthält in ihren 63 Traktaten, wie es schon ihrer äußeren Anlage entspricht, fast ausschließlich gesetzlichen Stoff, dessen Dürre nur einmal die herrlichen Sittenlehren der „Sprüche der Väter“ freundlich unterbrechen. Der nie offiziell anerkannte Parallelcodex der Tosifta bietet schon etwas mehr nichtgesetzlichen Stoff, während die Midraschim ganz wie die Thora, deren Text sie sich doch eng anschließen, in bunter Abwechselung gesetzliche, erbauliche und belehrende Elemente enthalten.

So war die Sammlung und Ordnung des Traditionsstoffes vollendet, die mündliche Lehre war nun auch schriftlich geworden, und speziell die Mischna war selbständig neben die Thora getreten. Nunmehr beginnt eine neue Periode in der Geschichte des jüdischen Traditionswesens, die von 200 bis 500 reicht und die Auslegung und Anwendung der Mischna zum Gegenstand hat. Bis dahin waren die jüdischen Gelehrten in Palästina die einzigen Träger der Tradition gewesen. Jetzt, nach Abschluss der Mischna, konnte sie auch nach anderen Ländern getragen werden. So hörte Palästina auf, der einzige geistige Mittelpunkt des Judentums zu sein, und daneben, später gar an Stelle davon, tritt Babylonien. Die Lehrhäuser beider Länder wetteiferten nun miteinander, die Mischna zu erklären, und sie bedurfte wie jedes Gesetzbuch der Erklärung nicht nur wegen ihrer knappen, oft rätselhaften Sprache, sondern auch, weil in beiden Ländern das Volk nicht neuhebräisch sondern aramäisch sprach. Während die palästinensischen Hochschulen eingingen, bevor sie die Erklärung der Mischna zum Abschlüsse gebracht hatten, konnten die babylonischen Lehrhäuser ihre Aufgabe zu Ende führen. Diese streng von einander getrennten palästinensischen und babylonischen Erklärungen werden als Gemara bezeichnet. In ihrer Vereinigung mit der Mischna werden sie Talmud genannt, so dass es also zwei Talmude gibt, denen nur die Mischna gemeinsam ist, den etwas älteren unvollendeten palästinensischen und den um 500 abgeschlossenen babylonischen, der meist als der Talmud kurzweg bezeichnet wird.

Betrachten wir den vollendeten Talmud nach seiner äußeren Form, so erscheint er uns als ein unendliches Protokoll über die Diskussionen, die die jüdischen Gelehrten der beiden Länder während eines halben Jahrtausends in ihren Lehrhäusern geführt haben, und die uns hier in voller Lebendigkeit und Anschaulichkeit erhalten sind. In diesem Sprechsaal treten 1500 mit Namen genannte große und kleine Geister auf. Die scharfsinnigste Dialektik tritt uns in ihren Diskussionen entgegen, doch vermissen wir in ihnen die ruhige, abgeklärte Entwickelung eines Gedankens. Auch in ästhetischer Beziehung ist der Talmud von einer fast abstoßenden Formlosigkeit. Sprunghaft wird von einem Gegenstande auf den andern übergegangen. Nebensächlichkeiten werden oft überbreit behandelt. Ohne Interpunktion rauscht der Fluss der Rede und Gegenrede dahin, ohne dass uns die leiseste äußere Andeutung gegeben würde, wo eine Frage oder ein Ausruf beginnt, wo eine Behauptung oder eine ironische Ablehnung vorliegt. Nicht selten wird die Diskussion uferlos, so dass wir also auch in diesem Sinne von einem „Meer des Talmuds“ sprechen können.

Aus dem Gesagten ergibt sich schon, dass nicht jedes Wort im Talmud gleiche Autorität beanspruchen kann. Häufig begegnen wir diametral entgegengesetzten Anschauungen. Die verschiedensten Intelligenzen und Temperamente kommen in ihm zu Worte, die mannigfachsten Zeitumstände haben auf seine Entstehung eingewirkt. Es kann also nichts Unwissenschaftlicheres geben, als irgend einen im Talmud stehenden Satz willkürlich herauszugreifen und als allgemein verbindlich mit der Formel zu zitieren: „Der Talmud sagt“.

Weit schwieriger ist der Talmud nach seinem Inhalt zu charakterisieren, bildet er doch eine Literaturgattung für sich. Er ist kein Religionsbuch, noch weniger ein bloßes Gesetzbuch, sondern stellt eine Enzyklopädie des gesamten Wissens der damaligen Juden dar, was sich schon äußerlich in dem bunten Sprachgemisch kundgibt, das neben den beiden Grundsprachen (hebräisch und aramäisch) zahlreiche griechische, lateinische, babylonische und persische Lehnwörter aufweist. Zwei inhaltliche Hauptgruppen lassen sich im Talmud unterscheiden: Halacha und Haggada. Die Halacha, eigentlich = Norm, bestimmt die äußere Form des religiösen Lebens. Sie umfasst alle Gesetze und Bräuche, Zivil- und Kriminalrecht ebenso wie Tempelkultus und Synagogen-Gottesdienst, Ackerbaugesetze ebenso wie Speise- und Reinheitsvorschriften. Er behandelt also auch solche Teile des Kultus und Ritus, die seit dem Jahre 70 nicht mehr in Übung waren, indem man die stille Hoffnung auf Wiederherstellung der alten Herrlichkeit nie aufgab. Jede Äußerung des Lebens wurde durch die Halacha in Beziehung zur Religion gebracht und durch feste Formen geregelt. Die unscheinbarste Handlung wurde in die religiöse Sphäre erhoben. „Das ganze Leben wurde zu einem Gottesdienst mit Unterbrechungen.“

Während die Halacha ein einheitliches in sich geschlossenes System bildet, stellt die Haggada eine überaus mannigfaltige Gedankenwelt dar, so dass es kaum möglich ist, sie begrifflich zu definieren. Man kann höchstens negativ sagen, dass sie alle nicht gesetzlichen Bestandteile des Talmuds umfasst. Weder „Poesie“ noch „Feuilleton“ geben auch nur annähernd wieder, was die Haggada im Gesamtorganismus des Talmuds bedeutet. Äußerlich ist sie meistens an einen Bibeltext angelehnt und bietet Deutungen, Ergänzungen und Ausschmückungen zum Schriftwort, dessen Lücken sie nicht selten durch feinsinnige Motivierungen ergänzt, und an dessen Inhalt sie bisweilen scharfe Kritik übt.*) Die Haggada tritt bald in Form der Legende oder Sage auf, bald ist sie in einem Gleichnis oder Sinnspruch ausgemünzt, bald bringt sie Erzählungen aus dem innern und äußern Leben der Juden, bald verherrlicht sie einen großen Mann der Vergangenheit oder Gegenwart, bald lässt sie uns einen Blick in die Beziehungen der Juden zur Außenwelt tun, bald bringt sie Mitteilungen aus den verschiedensten Wissensgebieten. In dieser Mannigfaltigkeit der Form und Vielseitigkeit des Inhalts läßt sie vor unsern Augen die ganze Gedankenwelt des damaligen Judentums erstehen, sie ist der vollendete Ausdruck des jüdischen Geistes- und Gemütslebens während eines Zeitraums von mehr als einem Jahrtausend, sie umfasst die Sittenlehren ebenso wie die Hoffnungen des jüdischen Volkes, sie zeigt uns die Innigkeit des jüdischen Glaubens und Gottvertrauens ebenso wie die Seltsamkeiten des von außen eingedrungenen Aberglaubens. So ist sie der getreue Spiegel der jüdischen Volksseele und enthält, wie Chwolson**) mit Recht hervorhebt, „Elemente von welthistorischer Bedeutung, welche, wenn auch indirekt, viel zur Veredelung, Versittlichung und Humanisierung der Menschheit beigetragen haben.“ Neben dieser religionsgeschichtlichen Bedeutung der Haggada kann auch ihr Wert für die archäologische Forschung nicht hoch genug angeschlagen werden. Enthält sie doch eine Fülle der wertvollsten Angaben über Religion, Recht, Kultur und Sitte der klassischen und orientalischen Völker, sodass Paul de Lagarde im Hinblick darauf den Talmud treffend als ein wahres Pompeji der Altertumskunde bezeichnen konnte.***)

Diese beiden Gruppen Halacha und Haggada sind innerhalb des Talmuds nicht etwa von einander getrennt, sondern treten fortwährend im Laufe der Diskussionen neben- und ineinander auf und ergänzen sich gegenseitig glücklich. Während die Halacha in herber Einseitigkeit lediglich gesetzliche Fragen behandelt und diese Fragen nur mit dem kalten nüchternen Verstände zu lösen sucht, ist die Haggada in ihrer Vielseitigkeit desto weicher und gemütvoller, sie spricht den warmen Herzenston und regt unsere Phantasie ebenso an wie unser Denken und Wollen. Das gibt der Diskussion, die sich oft um geringfügige Dinge dreht, Reiz und Abwechselung. Langweilig ist der Talmud überhaupt nur für den, der ihn nicht versteht.

Der Talmud in seiner Gesamtheit stellt die Lösung einer gewaltigen Doppelaufgabe dar, nämlich das Judentum als Lehre rein zu erhalten und zugleich die Juden als Träger dieser Lehre zu erhalten. Daraus erst können wir seine Eigenart und auch seine Grenzen verstehen. Der Talmud hat die Juden, um sie als Gemeinschaft zu erhalten, im Leben auf Schritt und Tritt beschränkt; und zwar fiel diese Aufgabe der Halacha zu, die genau bestimmte, was man zu tun und zu unterlassen hatte. Es war eine beispiellose Disziplinierung des Willens, in der etwas geradezu Heroisches liegt. Denn sie hat den Juden eines ganzen Jahrtausends die sittliche Kraft verliehen, das Schwerste zu leisten und zu leiden für ihre Religion. Ihr ist auch recht eigentlich erst zu danken, was wir bis heute als unser höchstes Gut, als die schönste Blüte und Frucht unserer Religion zu betrachten haben, ich meine die jüdischen Familientugenden. Doch so hoch diese Erfolge zu bewerten sind, muss auf der anderen Seite zugegeben werden, dass in der Überspannung der gesetzlichen Forderungen eine nicht geringe Gefahr lag. Wenn wiederholt Gesetzeslehrer erklären: „Die Thora kann nur von dem gehalten werden, der sich selbst so macht, als wäre er nicht da“,****) so ist damit treffend ausgedrückt, wie weit die vom Talmud geforderte Selbstentäußerung geht. Dadurch dass die Halacha der persönlichen

Eigenart und dem sittlichen Urteil des Einzelnen zu wenig Rechnung trug, wurden gerade stärkere Individualitäten notwendig in ihrer Entfaltung gehemmt, so dass man in dieser Beziehung wenigstens nicht mit Unrecht von einem „Joch des Gesetzes“ sprechen kann.

Doch dieser mehr äußeren Gebundenheit stand eine desto größere innere Freiheit gegenüber. Wenn das Tun der Juden vielfach durch Gesetze beschränkt war, konnten sie dafür in ihrem Denken und Fühlen sich ungleich freier bewegen. Kein starres Dogma fesselte ihren Geist. Wir begegnen in den haggadischen Teilen des Talmuds häufig überraschend aufgeklärten und freisinnigen Anschauungen, und die dadurch bewirkte Vertiefung und Verinnerlichung der Religion war ein wirksames und segensreiches Gegengewicht gegen die von der strengen Gesetzlichkeit drohende Veräußerlichung. War diese Gesetzlichkeit ein Produkt der Halacha, so war jene geistige Freiheit eine Frucht der Haggada. War die Halacha ihrer ganzen Natur nach national, indem sie die Juden in ihrer Eigenart zu erhalten sich zur Aufgabe machte, so konnte die Haggada gelegentlich die nationalen Schranken durchbrechen und zeigt uns auf ihren Höhen Bausteine zu der erhabensten Menschheitsreligion der Zukunft.

Wir haben bisher bloß von Entstehung, Wesen und Inhalt des Talmuds gesprochen. Was bedeutete aber der Abschluss dieses monumentalen Werkes, das heute fast 6000 eng bedruckte Seiten einnimmt, für das Judentum überhaupt? Man kann ohne Übertreibung sagen, dass der Talmud in dem Jahrtausend von 500 bis 1500 und noch darüber hinaus auf das Judentum einen ebenso tiefen Einfluss ausübte, wie die Bibel in dem vorangehenden Jahrtausend, ja vielleicht einen noch tieferen. Denn er war in allen Ländern die Hauptquelle, in vielen sogar die einzige Quelle geistigen und sittlichen Lebens für die Juden. Der Talmud hat das geschichtliche Wunder fertig gebracht, das Judentum in der Zerstreuung inmitten einer feindlichen Welt mit immer neuer, unverwüstlicher Lebenskraft zu erfüllen und ihm zugleich jenen einheitlichen Charakter aufzuprägen, den es bis heute trotz aller auflösenden Einflüsse bewahrt hat. Er hat den Geist der Juden in der Zeit der tiefsten Erniedrigung frisch erhalten und hat bewirkt, dass auch in der dunkelsten Nacht des Mittelalters ein geistiges Leben unter den Juden nie aufhörte. Studium und Auslegung des Talmuds war der Hauptinhalt, ja vielfach der einzige Inhalt des Lebens nicht nur der Gelehrten, sondern auch all derer, die irgendwie auf Bildung Anspruch machten.

Der Talmud erzog und bildete die Juden nicht nur durch die Ideen, die er enthält und die vielseitigen Materien, die in ihm behandelt sind, sondern vor allem auch durch seine das logische Denken schulende äußere Form. Ein bis heute in jüdischen Kreisen verbreitetes Sprichwort lautet: „Aus einem Bachur (d. h. einem Talmudjünger) kann man alles machen.“ In diesem Sprichwort ist eine große Erkenntnis ausgedrückt. Wer durch die Schule der talmudischen Dialektik gegangen ist, wer den verschlungenen Gängen der langen Diskussionen zu folgen gelernt hat, dessen Geist ist gestählt für jede Denkarbeit, und wenn ihm nur Stoff für sein Denken gegeben wird, wird er auf jedem Gebiete des Geisteslebens etwas leisten. Die stattliche Zahl hervorragender jüdischer Mathematiker und Philosophen, die im Mittelalter namentlich Spanien, in neuerer Zeit alle Kulturländer aufzuweisen haben, sind zum großen Teil direkt am Talmud herangebildet worden, wie dies z. B. auch bei Spinoza zutrifft, von dem Goethe sagt, dass er „durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint.“

Noch ein Punkt muss als besonders wichtig berührt werden. Der Talmud ist von Juden für Juden geschaffen worden ohne Nebengedanken und Seitenblicke auf die Außenwelt. Die Hoffnung auf eine Propaganda hatten ja die Juden unter der Macht der geschichtlichen Tatsachen längst aufgegeben und suchten sich vielmehr nach innen zusammenzuschließen und in eben dem Maße nach außen abzuschließen. Die bewusste Tendenz des gewaltigen Werkes war darum nicht etwa, die Welt zum Judentum zu bekehren, sondern das Judentum und die Juden in der Welt für eine bessere Zeit zu erhalten. So hatte er keinerlei Konzessionen an die Anschauungen der übrigen Welt nötig und konnte das Judentum rein ausprägen.

Doch durch eben diesen Vorzug blieb der Talmud der Außenwelt dauernd unbekannt und unverständlich, und was die natürliche Folge davon war, auch das Judentum wurde der Außenwelt immer unverständlicher. Die Juden wurden dadurch ihrer Umgebung, wie Heine treffend bemerkt, ein wandelndes Geheimnis. Der undurchdringliche Panzer, mit dem der Talmud das Judentum umgab, an dem alle Waffen der Gewalt und der Verführung ohnmächtig abprallten, machte die Juden ihren Feinden immer unheimlicher und ließ sie an überirdische oder teuflische Kräfte glauben. Das Grauen vor dem Unbekannten, das in dieser Angst vor dem Talmud zum Ausdruck kommt, äußert sich z. B. noch heute in der interessanten Tatsache, dass in ganz Deutschland keine Universität einen Lehrstuhl für die Wissenschaft vom talmudischen Judentum besitzt.

Der Abschluss des Talmuds hatte die bewusste, systematische Abschließung des Judentums von der Welt vollendet. Doch kaum ein Jahrhundert später musste das Judentum wider seinen Willen aus seiner Abgeschlossenheit heraustreten und erlebte ohne sein Zutun einen unerwarteten, überwältigenden Sieg seines reinen monotheistischen Gottesgedankens, durch welchen es auch selbst wieder in die vielseitigsten Beziehungen zu seiner Umgebung trat. Dieser Sieg war die Entstehung des Islams.

*) Belege in meiner Schrift „Boussets Religion des Judentums ... kritisch untersucht“ 13 — 14.

**) Das letzte Passahmahl Christi 69.

***) Vgl. jetzt des Verfassers Aufsatz „Die religionsgeschichtliche Erforschung der talmudischen Literatur“ im Archiv für Religionswissenschaft XVI (1913) S. 580—597.

****) bSota 21b und Parallelen. Ähnlich bBerachot 63b und Par.: „Die Thora kann nur von dem gehalten werden, der sein Selbst für sie tötet.“ Bezeichnender Weise begegnen wir fast wörtlich der gleichen Forderung bei dem großen Rigoristen Tolstoi („Der Sinn des Lebens“ S. 77 der bei Langen erschienenen Übersetzung): „Der Mensch hat erst dann alles getan, wenn er sich so beseitigt hat, als wäre er gar nicht da.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen