Die Textbibel von Kautzsch

Das Erscheinen der vorliegenden Textbibel ist in mehr als einer Beziehung ein bedeutungsvolles Ereignis. Vor allem ist dieselbe ein beredter Zeuge für die Fortschritte der alttestamentlichen Wissenschaft im abgelaufenen Jahrhundert. Aus der Hand zahlreicher bedeutender Bibelforscher hervorgegangen, fasst sie die Summe all dessen zusammen, was für das Verständnis der Heiligen Schrift im einzelnen von Grammatikern und Lexikographen, Exegeten und Kritikern bis auf den heutigen Tag geleistet wurde. Aber die Bedeutung dieser Übersetzung liegt viel weniger auf gelehrtem als auf religiösem und kulturhistorischem Gebiete, wie denn überhaupt die Bibel von Anfang an sich nicht an eine kleine Schar von privilegierten Geistern wandte, sondern zur ganzen Menschheit sprach. Die neue Textbibel kommt einem doppelten Bedürfnis entgegen. All diejenigen, die die Bibel nicht mit wissenschaftlich prüfendem Geist lesen, sondern naiv in sich aufnehmen, um sich daran zu erbauen und zu erheben, zu trösten und aufzurichten, sich seelisch zu erquicken und ästhetisch zu befriedigen, dieser ganze unendliche Kreis, der alle Kulturmenschen umfasst oder doch umfassen sollte, schmachtete nach einer Ausgabe der heiligen Schriften, die in einer allgemein verständlichen und geschmackvollen Form den ewigen Inhalt ihnen nahe brächte, und keine der vorhandenen Übersetzungen vermochte diese wohlberechtigten Ansprüche zu erfüllen. Es war klar, dass nur die Wissenschaft eine solche Aufgabe zu lösen imstande war, und sie erfüllte eine ernste und hohe Pflicht gegen die große Gemeinde der Bibelleser, indem sie ihnen eine Übersetzung in die Hände gab, in der sie alles, was sie in mühsamer Arbeit erkannt und entdeckt hatte, zum Nutzen der Allgemeinheit verwertete.

Es kann nicht geleugnet werden, so seltsam es auch klingen mag, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel, wie sie im 19. Jahrhundert geübt wurde, gewissen Kreisen die Bibel verleidete und entfremdete. Manche ängstlichen Gemüter fürchteten von einer kritischen Behandlung der biblischen Schriften eine Schädigung ihres religiösen Empfindens. Sie glaubten, wenn die Sonde der Kritik an die Urkunden des Glaubens gelegt werde, würde der Glaube selbst sich daran verbluten, wenn ein Buch, ein Kapitel oder auch nur ein Wort oder ein Buchstabe angetastet werde, sei das Fundament der Religion erschüttert. Einer solchen kurzsichtigen Pietät begegnen wir ja auch auf manchen anderen Gebieten, man sträubt sich dagegen, ein kostbares, mittelalterliches Gemälde, das nicht intakt auf uns gekommen ist, von Meisterhand restaurieren zu lassen, oder gar einen Torso aus dem Altertum wieder zu ergänzen. Seit Spinoza sucht die Wissenschaft derartige Vorurteile zu zerstreuen, aber die Macht der Gewohnheit ist stärker als alle Argumente und nicht mit Unrecht klagt Lazarus: „Um nicht an die Klippen der Kritik zu geraten, lässt mancher die Bibel im Schrank stehen.“


So bedauerlich nun auch diese Tatsache ist, muss man ihr doch Rechnung tragen, und in richtiger Erkenntnis haben auch die Herausgeber der neuen Übersetzung alles kritische Beiwerk, wie Quellenscheidung, Häkchen, Punkte und Klammern fortgelassen. Der gewöhnliche Leser wird dadurch gar nicht erst aufmerksam gemacht, wie viele Stellen noch zweifelhaft und unverständlich sind. Auge und Sinn werden nicht gestört und im Genüsse behindert, während der Fachmann nach wie vor das größere Bibelwerk mit den Beilagen wird zu Rate ziehen müssen.

Über viele Einzelheiten der Übersetzung lässt sich natürlich streiten. Doch im ganzen ist die Wiedergabe der biblischen Bücher als gediegen und zuverlässig zu bezeichnen. Auch die Ausstattung ist würdig. Besonders dankenswert ist die Einbeziehung der Apokryphen*) und die Kenntlichmachung aller dichterischen Stücke durch Absetzung.

Alle Anzeichen deuten daraufhin, dass die vorliegende Bibel berufen ist, ein tieferes Erfassen der Heiligen Schrift in den breiten Schichten der gebildeten Kreise anzubahnen. All diejenigen, die nicht imstande sind, sich in selbständige Bibelstudien zu vertiefen, werden von nun an aus dieser Übersetzung, die in ungezählten, immer vollkommneren Auflagen Verbreitung finden möge, die Resultate der wissenschaftlichen Forschung kennen lernen, und die Wirkungen werden weit über den Kreis der evangelischen Kirche, an die der Herausgeber sich zunächst wendet, sich heilsam fühlbar machen.

*) Eine Ausgabe der Bibel ohne Apokryphen ist daneben erschienen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen