Der erste modern-wissenschaftliche hebräische Bibelkommentar

Der engere Zusammenschluss von Ost und West im Judentum, der auf künstlerischem und literarischem Gebiete schon in der kürzesten Zeit so herrliche Früchte getragen hat, ist der jüdischen Wissenschaft bisher nur wenig oder gar nicht zugute gekommen. Wenngleich die hebräischen Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbücher sich die redlichste Mühe gaben, ihre Leser mit den wissenschaftlichen Arbeiten des westeuropäischen Judentums bekannt zu machen, wenngleich verschiedene Biographien der bedeutendsten Gelehrten und teilweise sogar schon Übersetzungen ihrer Werke vorliegen, ließen sich hier noch keine greifbaren Resultate erzielen und fehlt noch jede innere Annäherung zwischen der Gedankenwelt der alten „Lomdim“ und der modernen westeuropäischen Gelehrten. Auf der einen Seite ein von frühester Jugend an methodisch geschulter Geist, der mit allen Kenntnissen und Hilfsmitteln der philologischen und historischen Wissenschaft arbeitet und in seiner Kritik vor keiner Konsequenz zurückschreckt, auf der anderen Seite ein innerhalb der „vier Ellen der Halacha“ festgebannter Geist, der die Gegenwart weder kennt noch versteht, der seine Hauptnahrung: im Talmudstudium und seine Hauptbetätigung in einer haarspaltenden Dialektik findet, daneben eine Pietät gegen die Tradition, die gar keinen Gedanken an eine Kritik aufkommen lässt, und dazu oft noch eine überreizte Phantasie, die durch die Versenkung in die Kabbala sich immer mehr von der wirklichen Welt abwendet.

*) „Ost und West“ 1904 Nr. 1 Sp. 59 ff.


Es sollte fast unmöglich scheinen, dass sich eine Brücke zwischen diesen beiden einander verständnislos gegenüberstehenden Weltanschauungen schlagen ließe, und doch gibt es einen Berührungspunkt, gibt es etwas, was beiden Kreisen als ein wertvoller Besitz gilt, es ist die heilige Schrift, oder besser gesagt, der hebräische Text der heiligen Schrift.

Seitdem es ein Judentum gibt, haben alle geistigen Bewegungen und Umwälzungen, die sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vollzogen, an den hebräischen Text der Bibel angeknüpft. Je schwieriger die Erklärung dieses Textes war, desto leichter bot er die Handhabe, alles herauszulesen oder hineinzulegen, was als eine neue religiöse Erkenntnis ins Volksbewusstsein übergegangen war. Dieser Text war das einzig Bleibende, von vornherein Gegebene, und jeder neue Gedanke, jede neue Einrichtung musste die Feuerprobe auf seine Berechtigung im Judentum durch den Nachweis seiner Übereinstimmung mit dem Schriftwort erweisen. Die älteste Halacha und Haggada wollen ihrer äußeren Form nach nichts weiter als die richtige Erklärung oder Anwendung des Bibeltextes sein. Schon die Bezeichnungen Haggada*) und Midrasch**) sind Kunstausdrücke der Exegese und deuten darauf hin, dass die Haggadisten und Darschanim in erster Linie als Ausleger der Bibel galten. Eine Reaktion gegen diese freie Schalten mit dem Schriftwort führte einerseits zur Entstehung des Karäertums, das sich an den Buchstaben der Bibel klammerte, und führte andererseits innerhalb des Judentums zur rationellen Bibelerklärung, die alle Hilfsmittel der damaligen Wissenschaft in den Dienst der Exegese stellte. Auch die philosophische Bildung konnte erst dann einen Platz im Judentum beanspruchen, nachdem man Aristoteles in der Bibel gefunden hatte, und der More Nebuchim ist zwar nicht seiner Form, aber seinem Inhalt und seiner Tendenz nach ein Versuch, zu zeigen, dass Aristoteles und seine Schüler eigentlich dasselbe wie Moses und seine Jünger, nur mit ein wenig anderen Worten, sagen. Auch die Kabbala konnte nicht früher zu einer Macht werden, bevor im Sohar ihre Übereinstimmung mit der Thora vor Augen geführt war. Endlich wäre auch selbst Mendelssohns Aufklärungswerk nicht so schnell gediehen, wenn nicht im Biur der Bibeltext selbst seine scheinbare Sanktion dazu gegeben hätte.

Der Sturm, den Mendelssohns Auftreten in den gegnerischen Kreisen hervorrief, und die geringen Erfolge, die sein Werk gerade in den Ländern des Ostens erzielt hat, waren wohl mit die Hauptveranlassung, dass seit jener Zeit keiner der zahlreichen Aufklärer es wieder unternommen hat, in Form eines modernen hebräischen Bibelkommentars den Ertrag westeuropäischer Geistesarbeit für die Bildung der jüdischen Massen nutzbar zu machen.

Es ist daher mit Freuden zu begrüßen, wenn ein Mann wie Abraham Kahana, der auch sonst schon große Verdienste um die Aufklärung seiner Landsleute hat, ein Unternehmen ins Leben rief, wie es bisher nicht einmal die westeuropäischen Juden aufzuweisen hatten: einen wissenschaftlichen, in jüdischem Geiste gehaltenen hebräischen Kommentar zur ganzen Bibel. Die schwierigste Aufgabe war hier, die geeigneten Mitarbeiter zu finden. Denn zu unserer Schande müssen wir es gestehen: wie wenig jüdische Gelehrte beschäftigen sich heute in wissenschaftlicher Weise mit der Bibel! Man überlässt es lieber den evangelischen Theologieprofessoren, das Alte Testament als Vorstufe für das Christentum zu behandeln oder zu misshandeln. Wie wenig ist in den letzten 30 Jahren von jüdischer Seite für das sprachliche, historische und religionsgeschichtliche Verständnis der Bibel geleistet worden, wie selten wählt ein jüdischer Theologe ein biblisches Thema für seine Doktor-Dissertation! Der Grund dieser auffallenden Erscheinung ist unschwer zu finden: Man fürchtet für seinen Glauben und geht darum an der Bibel wie an einem feuergefährlichen Gegenstand in weitem Bogen vorbei. Diese falsche Scheu hat sich aufs bitterste gerächt: die jüdische Wissenschaft ist auf biblischem Gebiet ins Hintertreffen geraten; und so wenig gerechtfertigt sonst die Geringschätzung ist, mit der die kritischen Theologen auf die Wissenschaft des Judentums herabblicken, auf biblischem Gebiet ist unsere Inferiorität eine traurige Tatsache, über die wir uns nicht hinwegtäuschen dürfen. Wir besitzen weder eine wissenschaftliche Übersetzung, noch eine Einleitung, noch einen Kommentar, noch eine Religionsgeschichte, noch eine Darstellung der äußeren Geschichte und der Altertümer des biblischen Judentums, wir müssen uns hier fast ausschließlich aus nichtjüdischen Werken Belehrung holen, während wir im Mittelalter die Führung in der biblischen Wissenschaft hatten und im Reformationszeitalter die Lehrer der Christen auf diesem Gebiete waren. Doch nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet zeigen sich hier die schlimmen Folgen unserer Rückständigkeit. Welches Buch über die Bibel, welche Übersetzung, welche Darstellung des Prophetismus können wir unseren Gebildeten, unseren Frauen und Kindern in die Hand geben? Wie viel glücklicher sind in dieser Beziehung unsere Glaubensbrüder in England, die in Montefiores Jewish Bible for home reading eine ebenso vornehm ausgestattete, wie inhaltlich zuverlässige Hausbibel besitzen, die ihnen gleichzeitig die nötigen Anregungen für das geschichtliche und religiöse Verständnis bietet.

Trotz alledem hat Abraham Kahana die geeigneten Mitarbeiter für sein Werk gefunden, und da es sich um einen hebräischen Kommentar handelte, brauchte er sich glücklicherweise nicht auf deutschschreibende Gelehrte zu beschränken, sondern konnte jüdische Bibelforscher aus aller Herren Ländern heranziehen. Wir finden daher unter den Mitarbeitern auch Frankreich (Lambert), Italien (Chajes) und Russland (Kahana) vertreten. Wir sehen hier also auch schon rein äußerlich Ost und West mit einander verbunden. Noch deutlicher sehen wir die innere Verbindung von Ost und West in dem eben erschienenen ersten Hefte, das den Kommentar zu den Psalmen (I. Teil Ps. 1 — 12) von Chajes enthält. Der Verfasser, der würdige Enkel von R. Zewi Hirsch Chajes, vereinigt in seiner Person alle charakteristischen Züge von Ost und West: an den Brüsten des Talmuds großgezogen und schon in jungen Jahren ein scharfsinniger Kenner und Kritiker des rabbinischen Schrifttums, hat er an der Universität und am Rabbiner-Seminar in Wien die modern-wissenschaftliche Ausbildung genossen, als deren Frucht er schon eine Reihe wertvoller Untersuchungen — eine davon erschien in den Denkschriften der Wiener Akademie — veröffentlicht hat. Er ist von modern-jüdischem Geist erfüllt und schreibt ein ausgezeichnetes Hebräisch. Sein Psalmen-Kommentar bietet nicht etwa nur eine Zusammenfassung der Resultate der bisherigen Erklärer, sondern geht häufig in kühnen, oft glücklichen exegetischen und kritischen Bemerkungen über seine Vorgänger hinaus. Jedem Psalm ist eine Einleitung vorausgeschickt, die die vermutliche Abfassungszeit, den Inhalt und die poetische Form bespricht. Der Kommentar selbst will vor allem das sprachliche Verständnis der einzelnen Stellen vermitteln und enthält auch zahlreiche neue wertvolle grammatische und lexikalische Beobachtungen. Das exegetische Material aus den alten Übersetzungen wird in der Regel im Original (leider durch häufige Druckfehler entstellt) angeführt. Ich weiß nicht, ob das bei den meisten Lesern und Benutzern des Kommentars nötig ist, da der größte Teil wohl gar nicht griechisch und lateinisch liest. Dagegen wäre es wünschenswert, dass die Namen der bisherigen Erklärer, die in der Regel unter dem Schleier eines ... verhüllt bleiben, wenn nicht zu jeder Stelle, so doch wenigstens in der Vorrede genannt werden.

Demnächst soll auch die zweite Hälfte des Psalmenkommentars sowie die Kommentare zur Genesis von Kahana, zu Jesajas von Krauß und zu Daniel von Lambert erscheinen.**) Hoffen wir, dass das große Werk bald vollständig vorliege und dazu beitrage, die wissenschaftliche Bildung unserer Brüder im Osten zu heben und die Bibel wiederum zum Besitz des jüdischen Volkes zu machen.

*) Von ... „der Text sagt, lehrt“; s. Bacher, Jew. Quart. Review IV 406—429. — Agada der Tannaiten 2 Aufl. I 451 ff. ') Von 'Ol „suchen“, „forschen“ (im Schriftwort).

**) Die genannten Teile sowie der erste Teil des Kommentars zu den kleinen Propheten und die Kommentare zu Exodus und Numeri sind inzwischen längst erschienen. Seit 1913 ist jedoch leider nichts weiter erschienen, was seine traurige Ursache in der politischen und wirtschaftlichen Katastrophe hat, die der Krieg über die russischen Juden gebracht hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen