Zacharias Frankel

Das neunzehnte Jahrhundert, das wahrlich nicht arm ist an „Großen in Israel“, an Männern, die ihre ganze geistige und sittliche Kraft in den Dienst des Judentums gestellt haben, hat verhältnismäßig nur wenige Persönlichkeiten hervorgebracht, die auch ins Leben der Juden mächtig eingriffen, die ihren durch ernste Forschungen gewonnenen tieferen Einblick ins Wesen des Judentums nicht nur in gelehrten Werken, sondern auch in lebensvollen Schöpfungen bekundeten, die durch die Macht ihrer Persönlichkeit auf die äußere Lage der Juden entscheidenden Einfluss übten und gleichzeitig auch nach innen konsolidierend wirkten. Im Grunde war dies nur die natürliche Folge jener einseitigen Geistesrichtung, die in der stillen Beschaulichkeit des Ghetto ihren Nährboden gefunden hatte und nunmehr wie ein verhängnisvolles Erbteil auch unter den vollkommen veränderten Verhältnissen sich fühlbar machte. In den vorangegangenen Jahrhunderten bot sich den Juden fast keine Gelegenheit zu anderer als rein geistiger Betätigung. Durch die von außen aufgezwungene Abschließung war es ihnen verwehrt, in die Welt der Tatsachen einzugreifen, und so konnte bei ihnen kein rechtes Verständnis für das Leben oder gar Lust und Fähigkeit zu lebensvollen Schöpfungen aufkommen. Nunmehr aber, nachdem die Juden mit einemmale die Ghettotore gesprengt hatten und sich vor neue Aufgaben gestellt sahen, bedurfte es tatkräftiger, weitblickender Männer, die neue Gestaltungen vorbereiten und zeitgemäße Institutionen schaffen sollten. Unter den wenigen, die dazu berufen erschienen, nimmt unstreitig den ersten Platz Zacharias Frankel ein.

Um die volle Bedeutung dieses Namens zu würdigen, müssen wir einen Blick auf die innere und äußere Lage der Juden in der ersten Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts werfen. Die Emanzipation war erst in einigen Staaten durchgeführt, eine staatliche Organisation fehlte den Juden ganz, jede Gemeinde war eine Welt für sich, innerhalb der Gemeinden bekämpften sich die Orthodoxen, die von einem Eingehen auf den Zeitgeist nichts hören wollten, und die Reformer, die das ganze überlieferte Judentum wenigstens in seinen äußeren Formen aufgeben wollten. Die Parteigegensätze hatten sich in einer Weise zugespitzt, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, und, was das Traurigste war, über allen Streitigkeiten war die Hauptsache versäumt worden, die jüdische Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes. So bot das damalige Judentum ein trauriges Bild: Starrheit und Stagnierung auf der einen Seite, Unkenntnis, Gleichgültigkeit und Abfall auf der anderen, und die Rufe nach Mäßigung, die von aufgeklärten und besonnenen Juden gegen die extremen Parteien erhoben wurden, verhallten ungehört im lauten Streite der Meinungen. Eine Versöhnung der Gegensätze oder gar eine völlige Einigung des in zwei feindliche Lager gespaltenen deutschen Judentums schien für immer ausgeschlossen. Da trat Frankel auf den Plan, und es gelang ihm, eine vermittelnde Richtung zu schaffen, der sich alsbald zwar nicht die Parteiführer von rechts und links mit ihrem Gefolge, aber ein großer Teil der ihre Zeit verstehenden Juden anschloss, und der noch heute die überwiegende Anzahl deutscher Gemeinden und deutscher Rabbiner angehört.


*) „Die Welt“ 1901 No. 40 S. 7 ff., No. 41 S. 9 ff.

Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe war nur einem Manne möglich, in dem so viele und so große selten vereinte Eigenschaften anzutreffen waren wie gerade in Frankel: tiefe Religiosität und Pietät für das Überkommene neben Verständnis für das Leben und die Bedürfnisse der Gegenwart, bedeutende jüdische, speziell talmudische Gelehrsamkeit neben gründlicher klassischer und moderner Bildung, unerschütterliche Überzeugungstreue neben abgeklärter Ruhe in der Polemik.

Geboren zu Prag am 30. September 1801, bereitete er sich in seiner Vaterstadt von früher Jugend auf zum rabbinischen Berufe vor und setzte dann seine Studien in Pest fort, bis er 1832 zum Rabbiner von Teplitz berufen wurde. Dort zeigte er schon seine organisatorische Begabung und erwirkte die Einrichtung eines zeitgemäßen Gottesdienstes mit Predigt in der Landessprache. Schon nach 4 Jahren wurde er zum Oberrabbiner von Dresden berufen, wo sich ein weites Feld für seine Tätigkeit eröffnete. Die Juden Sachsens standen noch unter drückenden Ausnahmegesetzen und in einer Reihe von Schriften wie durch sein persönliches Einwirken erreichte er deren Milderung und baldige Abschaffung. Gleichzeitig suchte er in der von ihm begründeten „Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums“ *) für seine Ideen und Pläne weitere Kreise zu interessieren. Er wollte erstlich die äußere Emanzipation der Juden herbeiführen, und zwar nicht bloß die Emanzipation der Individuen, sondern die Emanzipation der Gesamtheit, deren staatliche Anerkennung als Religionsgemeinde er anstrebte. Weiter wollte er eine Reform des Judentums aus sich selbst heraus, also nicht etwa durch Abstreifung des spezifisch Jüdischen, sondern durch tieferes Erfassen seines wahren Wesens, und als Haupthilfsmittel zu diesem Zwecke erschien ihm die Wissenschaft des Judentums, Frankel besaß zwar weder die universelle, alle Seiten des Judentums mit gleichem Verständnis umfassende Gelehrsamkeit eines Zunz , noch die kühne, vor keiner Konsequenz zurückschreckende Kritik eines Geiger, noch die philosophische Tiefe eines Joël, aber er überragte alle Genannten durch seine Fähigkeit, die Wissenschaft in weitere Kreise zu tragen und fürs Leben nutzbar zu machen, nicht in dem Sinne, als ob die Wissenschaft nur eine Dienerin des Lebens darstellen sollte, sondern in dem höheren und edleren Sinne, dass sie das Leben beherrschen und gestalten solle. In der Biographie seines gleichgesinnten und mitstrebenden Freundes Dr. Bernhard Beer, dessen hunderster Geburtstag am 1. Juli 1901 von den meisten jüdischen Zeitungen mit undankbarem Schweigen übergangen wurde, beklagt Frankel mit Recht (p. 196) „ein Abhandenkommen der Kenntnis des nationalen Heiligtums, das, dem Geist des Judentums zuwider, der Obhut einiger Theologen überlassen bleiben soll“. Die genannte Zeitschrift und ihre Nachfolgerin, die von Frankel 1852 — 1868 geleitete und noch heute erscheinende „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“, hat sich unter seiner Redaktion nicht wie heute darauf beschränkt, rein gelehrte Artikel zu bringen und das Judentum als ein der Gegenwart entrücktes Forschungsobjekt, etwa wie das klassische Altertum, zu behandeln, sondern suchte jederzeit Fühlung mit dem Leben und behandelte die brennenden Tagesfragen mit Würde und Entschiedenheit, aber immer in einem versöhnlichen Sinne mit wahrem, wissenschaftlichem Ernste: die Veredelung des Gottesdienstes, der Religionsunterricht, die Vorbildung der Rabbiner, die Rabbinerversammlungen, alle einer ernsten Diskussion würdigen Fragen, werden da in der Regel von Frankel selbst mit Wärme und Gründlichkeit nach allen Seiten besprochen. Die teilweise vor mehr als einem halben Jahrhundert geschriebenen Artikel sind noch heute lesenswert, ja vielfach sogar noch aktuell, und zeigen uns, wieso Frankel zu einer so einzig dastehenden führenden Rolle im Judentum gelangen konnte. Heutzutage ist vielfach der Glaube verbreitet, man müsse gesinnungs- und charakterlos sein, dürfe eigentlich gar keinen Standpunkt haben, müsse nur äußerlich recht glatt und verbindlich gegen jedermann sein, dann erst könne man mit allen Parteien auskommen und in Frieden leben. Nichts von alledem bei Frankel! Hier stehen wir einem Manne gegenüber, der nicht etwa in allen Farben schillert und geschickt zwischen den verschiedenen Richtungen laviert — fürchteten und begeiferten ihn doch die Kampfhähne von beiden Parteien — sondern einer abgeschlossenen Persönlichkeit, die unbeugsam an dem als recht Erkannten festhält. Es ist gerade der feste, positive Standpunkt, der sich durch kein Parteigeschrei von rechts und links beirren lässt, der immer das ganze Judentum und nicht etwa bloß eine Richtung innerhalb desselben im Auge behält, wodurch Frankel schnell einen so großen Kreis von Anhängern, Mitarbeitern und Jüngern um sich scharte, die mit seltener Begeisterung und Verehrung an ihrem Meister hingen.

Und wo lagen die Wurzeln seiner Kraft, wodurch gewann er diesen festen und positiven Standpunkt? Aus seiner überlegenen Kenntnis des jüdisch-religiösen Schrifttums. Und eben darum glaubte er und mit Recht, die von verschiedenen Seiten versuchte Regeneration des Judentums könne bloß aus einer wissenschaftlichen Erforschung und Darlegung seines Lehrgehaltes hervorgehen. Charakteristisch für Frankel sind nachstehende Worte**): „Das Judentum hat seine Gewähr in sich, in den ewigen Wahrheiten, die es lehrt. Erhalterin und Nährerin dieser Wahrheiten ist die Wissenschaft, sie stellt jene dem Geiste als Lebendiges und Leben Ausströmendes gegenüber, gibt ihm die spannende und anregende Beschäftigung, durch die diese Wahrheiten ein lebendiges, ohne die sie ein totes Gut sind. Der jüdische Glaube ist nicht in einem Volkstum bedingt, bedarf nicht der Vertretung durch äußere Macht: er entfaltete seine edelsten Blüten in den Zeiten des Umherirrens und der Heimatlosigkeit; aber in dem Maße, wie er von jeder Forderung weltlicher Unterlage entfernt ist, beansprucht er geistiges Leben, eine ununterbrochene Strömung in der Sphäre des Denkens und des Forschens. Wissenschaft ist das Herz des Judentums, aus dem das Blut sich durch alle Adern ergießt; die Erhaltung des Judentums liegt im Gedanken, ohne den Gedanken siechen und versiegen die Handlungen.“

Unter den Quellen der jüdischen Religion war es allerdings nicht die Bibel, sondern die weite talmudische Literatur, auf die er die historische Methode angewendet wissen wollte und selber anwandte. Aber diese Beschränkung, die heute natürlich in der wissenschaftlichen Theologie nicht mehr gelten kann, war damals vielleicht berechtigt; denn einerseits war die Bibelkritik erst in den Anfängen und hatte noch wenig positive Ergebnisse gezeitigt, anderseits waren die Juden jener Zeit noch nicht reif für ein historisches Verständnis der heiligen Schriften, und hätte deren kritische Behandlung mehr verwirrend als aufklärend wirken müssen. Frankel betrachtete es als seine Lebensaufgabe, ein wissenschaftliches Studium des Talmuds anzubahnen. Wie bis zu seiner Zeit Talmud studiert wurde, hat er selbst anschaulich geschildert***): „Das wissenschaftliche Element war erloschen, das Studium nicht von wissenschaftlichem Geiste durchhaucht. Die Lehr- und Forschungsweise der letzten Zeit vornehmlich lag weit von jedem wissenschaftlichen Bildungsgang ab: sie hatte völlig auf ein systematisches Studium verzichtet, und es machte sich allenthalben der Mangel an Methode, die Abwesenheit jeder wissenschaftlichen Architektonik fühlbar. Hierzu kam noch, dass man sich damit begnügte, dem Geiste an sich scharfsinnige, aber jeder breiteren Basis entbehrende Diskussionen als alleinige Nahrung darzubieten; die umfassende Kenntnis des theologischen Stoffes, wie sie die spanische und auch die französische Schule zeigt, wurde von minutiösen Geistesspielereien verdrängt.“ Der Talmud glich bis in unser Jahrhundert einem Urwald. Erst Zunz brachte wenigstens in die haggadischen Partien ungeahntes Licht, aber die Halacha harrte noch immer des Pioniers, der in ihr Dunkel eindringen, das vorliegende Gestrüpp entfernen und den verschütteten Weg zu ihrem Ursprünge wieder finden sollte. Die Lösung dieser Aufgabe war von vitaler Bedeutung für das Judentum, denn auf dem Talmud basierte das ganze religiöse Leben in seinen Formen und Bräuchen, und manche Vertreter der extremen Reform, die gerade diese Seite des Judentums abgetan wissen wollten, konnten kein wirksameres Kampfmittel finden, als indem sie ihre Pfeile gegen den Talmud richteten. Da sie ihn bisher nur durch eine Vexierbrille gesehen und von seinem wahren Wesen keine rechte Vorstellung hatten, glaubten sie berechtigt zu sein, ihn vor aller Welt lächerlich zu machen und alle daraus abgeleiteten Satzungen schlechthin zu verwerfen. Die Vertreter der starren Orthodoxie wiederum sahen den Talmud durch eine andre Brille an, und er erschien ihnen da nicht als Zerrbild, sondern als Idealbild, und um das Judentum zu retten, hielten sie sich für verpflichtet, dieses vermeintliche Idealbild mit allem romantischen Flimmer zu umgeben. Nun trat Frankel auf und zeigte in einer Reihe von bahnbrechenden Schriften das wahre Wesen des Talmuds, von seinen ersten Anfängen im sopherischen Zeitalter bis zu seinen spätesten Ausläufern. Er rechtfertigte dadurch glänzend, was erst vor wenigen Wochen Harnack****) in seiner Rektoratsrede ausgesprochen: „Die historische Methode allein ist konservativ, denn sie sichert die Ehrfurcht — nicht vor der Überlieferung, sondern vor den Tatsachen — und macht der Willkür ein Ende, Blei in Gold und Gold in Blei verwandeln zu wollen.“ Frankel ging den Spuren der „mündlichen Lehre“ nicht nur im Talmud selbst nach, sondern fand ihren Niederschlag auch in der Septuaginta und dem ganzen hellenistischen Schrifttum. Er zog neben der Mischna auch die Tosifta und die halachischen Midraschim zur Vergleichung heran, entriss den jerusalemischen Talmud der unverdienten Vergessenheit und gab als erster eine Entwicklungsgeschichte der Halacha, indem er mit eminenter Gelehrsamkeit ein klares Bild von der Aufeinanderfolge der einzelnen Schulen zeichnete und jeden Tanna bezw. Amora in seiner Eigenart zu charakterisieren suchte. Seine hierher gehörigen Werke und Abhandlungen, vor allem seine hebräisch geschriebenen Einleitungen in die Mischna und den jerusalemischen Talmud sind noch heute durch die planvolle und übersichtliche Ordnung des weitschichtigen Materials das unentbehrlichste Hilfsmittel zum tieferen Eindringen in die talmudische Literatur und, trotzdem die Kritik teilweise über dieselben hinausgegangen ist, durch kein neueres, gleich umfassendes Werk überholt. Überhaupt sind auf halachischem Gebiete diejenigen großen Werke, die er allein uns hätte bieten können, so eine Einleitung in den babylonischen Talmud und eine vollständige kritische Ausgabe des jerusalemischen Talmuds, noch heute ein Desideratum der Wissenschaft. Aber alle diese hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen hätten Frankel nicht zu der Bedeutung erhoben und ihm die Anerkennung so weiter Kreise erworben, wenn er nicht gleichzeitig an einer Stätte gewirkt hätte, von der aus sein Geist auf fast alle deutschen Gemeinden ausströmte.

Im Jahre 1854 wurde Frankel zum Direktor an das neugegründete Breslauer Rabbiner-Seminar berufen. Die Eröffnung dieses Seminars, des ersten seiner Art in Deutschland, an dem neben Frankel Männer wie Grätz, Joël, Jakob Bernays lehrten, bildet einen Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Juden. „Bis dahin, so erzählt einer seiner hervorragendsten Schüler, irrten die Jünglinge in Deutschland, die sich dem rabbinischen Berufe zu widmen entschlossen waren, buchstäblich wie eine Herde ohne Hirten umher. Bruchstückweise mussten sie sich die Erfordernisse für ihre künftige Laufbahn, hier das rabbinische Wissen, dort die zur modernen Bildung erforderlichen Kenntnisse zusammenlesen, es fehlte die Führung, der Zusammenhang, die Überleitung aus der alten Talmudschule in die weiten, luftigen Hallen moderner Wissenschaft. Hier in der Frankel sehen Lehrstätte ward ein Mittelpunkt für die Vereinigung der bisher getrennten Gebiete geschaffen, hier schloss der Geist des unverfälschten alten Judentums mit dem Geiste unserer Zeit ein dauerhaftes Freundschaftsbündnis, hier wurden die Thora und die Wissenschaft, die eine nicht als Magd der anderen, sondern beide als gleichberechtigte Schwestern, nebeneinander hingestellt, hier wurde Ordnung und Einheit, System und Methode geschaffen.“

Das Breslauer Seminar, das Frankel über 20 Jahre bis zu seinem am 13. Februar 1875 erfolgten Tode leitete, ist so eng mit seinem Namen verknüpft, dass man eine ganze Geschichte des Seminars und der von ihm ausgegangenen Wirkungen schreiben müsste, um Frankels Verdienste voll zu würdigen. Bei einem Manne wie Frankel, der gerade durch die Macht seiner Persönlichkeit so entscheidenden Einfluss auf seine Hörer übte, der durch die Hoheit seines Charakters vorbildlich und charakterbildend wirkte, der durch seine geläuterte Religiosität und seinen sittlichen Ernst ebenso wie durch seine tiefe Gelehrsamkeit und seinen eisernen Fleiß auch den anfänglich Widerstrebenden mit sich fortriss, wäre es geradezu eine Unmöglichkeit, auf Grund von Büchern und Aktenstücken ein Bild seiner ganzen Lehrtätigkeit zu geben. Wenngleich der Schreiber dieser Zeilen niemals Frankel persönlich gekannt hat, ist er doch in der Lage, seine Bedeutung auch nach dieser Seite hin zu würdigen. Denn im engeren Verkehre mit Frankels besten und edelsten Schülern gewann er einen Einblick in das ideale Verhältnis, das sich dort am Seminar zwischen dem Meister und seinen Jüngern herausgebildet hatte, in die beispiellose Verehrung, die sie der sittlichen und geistigen Hoheit Frank eis zollten, in die rührende Dankbarkeit, mit der sie an ihm wie an einem wahren Vater hingen. Frankel hat im buchstäblichen Sinne des Wortes Schule gemacht, durch seine Jünger ist jüdisches Wissen und Fühlen in die meisten größeren deutschen und teilweise auch außerdeutschen Gemeinden gedrungen. Frankels Schule hat eine neue Richtung, das historische Judentum, geschaffen und so ein Verfallen ins Extrem nach der einen oder anderen Seite verhütet. Eine große Anzahl seiner Schüler sind erfolgreiche Pfleger der jüdischen Wissenschaft geworden. Ich nenne hier nur Wilhelm Bacher, Philipp Bloch, Heinrich Groß, Moritz Güdemann, Jakob Guttmann, David Kaufmann, Samuel Kohn, Israel Lewy, Joseph Perles, Adolf Schwarz, Jehuda Theodor, M. S. Zuckermantel. Die seitdem gegründeten Rabbinerseminare in Berlin, Pest und Wien sind ganz nach dem Muster des Frankelschen Vorbildes organisiert, und die dort wirkenden Lehrkräfte sind teilweise seine Schüler. Die Saat, die so von ihm ausgestreut wurde, ist also herrlich aufgegangen und trägt noch heute edle Frucht.

Als Frankel starb, da konnte der Redner an seinem Grabe*****) von dem Blick ins Leere sprechen, der sich jetzt vor aller Augen auftue, und diese Worte klingen heute nach einem Vierteljahrhundert wie eine Prophezeiung; denn noch ist die Lücke nicht ausgefüllt, die durch sein Scheiden entstand, noch ist kein Mann wiedererstanden, der gleich ihm als Führer in Israel gelten konnte, der die gleiche Gelehrsamkeit, die gleiche Charakterfestigkeit und dazu die Gabe besessen hätte, zwischen den klaffenden Gegensätzen in unserer Mitte vermittelnd und versöhnend aufzutreten, auf weite Kreise aufrüttelnd, aufklärend, erwärmend und anregend zu wirken, eine ganze Generation von glaubensstarken, begeisterten und wohl ausgebildeten Gemeindelehrern in die Welt zu senden. Hoffen wir, dass die Vorsehung uns auch im 20. Jahrhundert einen Mann schenke, der in den Riss treten und seinen Zeitgenossen ein zweiter Zacharias Frankel werden möge.

*) 3 Bände 1844—1846.

**) Aus einem Briefe an das Kuratorium des Breslauer Rabbiner-Seminars (abgedruckt in dem Berichte über die ersten 25 Jahre des Seminars, Breslau 1879, S. 70).

***) a. a. O. S. 73.

****) Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte, Berlin 1901, Seite 8.

*****) Joël Predigten aus dem Nachlasse II. 300.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen