Moses Maimonides

Jeder nur einigermaßen gebildete Jude nennt noch heute nach 700 Jahren mit scheuer Ehrfurcht den Namen des Moses Maimonides, des Mannes, von dem schon seine Zeitgenossen in richtiger Erfassung seiner Größe sagten: „Von Moses, dem Sohne Amrams, bis zu Moses, dem Sohne Maimuns, war keiner wie Moses.“ Jeder denkende Jude steht, wenn auch unbewusst, auf seinen Schultern und hat einen Hauch seines Geistes verspürt. Wie das spätere Judentum sein Bestes Maimonides verdankt, so verdankt Maimonides sein Bestes dem Judentum, dessen Ideen, dessen geistige Richtungen und Strömungen in seiner Person wie in einem Brennpunkt sich sammeln; und so wie jeder wahrhaft große Mann, der umgestaltend auf seine Umgebung eingewirkt hat, doch nur aus seiner Zeit und seinem Volk heraus zu verstehen ist, so ist auch Maimonides als das Endglied und der krönende Schlussstein einer vorausgehenden langen geistigen Entwicklung zu betrachten. Wir müssen daher zuerst ein Bild der damaligen Weltlage und der damaligen Kultur einerseits und des damaligen Judentums andererseits zu gewinnen suchen.

*) „Ost und West“ 1905, Spalte 289—300; 379—388.


Die Juden wohnten im zwölften Jahrhundert schon in ziemlich allen Ländern, wohin das Christentum und der Islam gedrungen waren, und sowohl in ihrer äußeren Lage wie in ihrer geistigen Tätigkeit spiegelte sich deutlich die Kultur der Völker, in deren Mitte sie lebten. In der Provence, deren Bevölkerung schon früh der Kirche gegenüber eine gewisse Freiheit sich wahrte, und in Italien» wo der Zusammenhang mit der Kultur des Altertums noch immer aufrecht gehalten wurde, war darum auch die Lage der Juden immer besser und ihre Kultur immer höher als in den anderen christlichen Ländern. Am glücklichsten aber lebten die Juden unter dem Szepter der Araber, die vom Ganges bis zum Atlantischen Ozean mit dem Siege des Halbmondes Bildung, Kunst und Wissenschaft verbreitet und zu höchster Blüte gebracht hatten. Die Geistesnacht des Mittelalters, in der die meisten christlichen Nationen hindämmerten und die sich erst im 15. Jahrhundert zu lichten begann, ist in den Ländern des Islams nirgends anzutreffen, und unter seiner milden Sonne erwachten auch im Judentum zahlreiche schlummernde Keime, die sich bald herrlich entfalten sollten. Speziell im arabischen Spanien, wo hochsinnige, oft selbst gelehrte und kunstverständige Chalifen regierten, fanden alle Wissenschaften und edlen Künste eifrige Pflege. Dichtkunst und Baukunst, Sprachforschung und Mathematik, Naturwissenschaft und Medizin, Theologie und Philosophie erlebten eine Glanzzeit, die in der Geschichte des ganzen Mittelalters einzig dasteht. Und die Juden, die dort in großer Anzahl lebten, durften nicht nur ungehindert ihre Religion bekennen, sondern standen hochgeachtet beim Volk und bei den Herrschern da, bekleideten die höchsten Staatsämter und zeichneten sich in allen Berufen aus. Gleich ihren Vorfahren in Alexandria, die in eigenartiger Verbindung jüdischer Religion und griechischer Weisheit einen ganz neuen Kulturtypus geschaffen hatten und einen Denker wie Philo aus ihrer Mitte hatten hervorgehen sehen, verbanden jetzt auch die Juden unter arabischer Herrschaft die treue Pflege ihrer eigenen Religion, Sprache und Literatur mit dem emsigen Studium der arabischen Geistesschätze, die sie nicht nur sich selbst aneigneten, sondern auch noch durch Übersetzungen ins Hebräische ihren Glaubensgenossen in anderen Ländern zugänglich machten. Bald wurden sie aus Schülern Lehrer, und so begegnen wir unter ihnen vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert glänzenden Namen auf allen Gebieten geistigen Schaffens: Dichter in hebräischer und arabischer Sprache, wie Salomo ibn Gabirol, Juda Hallevi, Abraham ibn Esra, Moses ibn Esra, Juda Alcharisi, Sprachforscher, wie Juda Chajjug und Jona ibn Ganâch, eine stattliche Anzahl von Ärzten, Naturforschern und Mathematikern und vor allem eine Reihe von bedeutenden Philosophen bekundeten der ganzen Welt die selbständige Schöpferkraft des jüdischen Geistes. Nachdem schon im Orient der Gaon Saadia in seinem großen Werke sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Lehre des Judentums philosophisch zu begründen und ihre Berechtigung sowohl dem Islam wie dem Christentum gegenüber zu erweisen, setzten in Spanien Männer wie Bachja ibn Pakuda, Salomo ibn Gabirol, Joseph ibn Zaddik, Abraham ibn Esra, Juda Hallevi, Abraham ibn Daud das Werk in origineller Weise fort und beleuchteten das Judentum nach den verschiedensten Richtungen, erweiterten den geistigen Gesichtskreis ihrer Glaubensgenossen durch neue philosophische Ideen, prüften und läuterten es durch die stete Vergleichung mit arabischen und griechischen Philosophen und wirkten so anregend und läuternd weit über die jüdischen Kreise hinaus auf arabische und später auch auf christliche Denker. Speziell die Schriften des Aristoteles, die damals im christlichen Abendland noch ganz unbekannt waren, wurden zum großen Teil ins Arabische übersetzt und von Mohammedanern wie Juden eifrig studiert und erklärt. Aus dem Arabischen wurden sie dann ins Hebräische übersetzt, und erst aus dem Hebräischen wurden sie mit Hilfe von jüdischen Gelehrten ins Lateinische übertragen, wodurch sie dann den Christen zugänglich wurden, bei denen sie bald eine so große Rolle spielen sollten. Besonders seitdem Ibn Sina am Anfang des XI. Jahrhunderts die philosophischen Schriften des Aristoteles in einem zwanzigbändigen Werke bearbeitet hatte, gehörte es förmlich zur Bildung, sich mit Aristoteles zu beschäftigen, und die Juden standen hierin hinter ihren mohammedanischen Landsleuten nicht zurück. So heilsam diese Beschäftigung mit Aristoteles für tiefer eindringende jüdische Denker war, so gefährlich war sie, wie jede Modephilosophie, für die Masse der Halbgebildeten, die sich weder die Mühe nahmen, noch auch die Fähigkeit besaßen, dem großen Denker zu folgen, und nur soviel daraus entnehmen zu dürfen glaubten, dass ihr Judentum vor dieser Philosophie nicht standhalten könne. Selbst für solche Juden, die den ernsten Willen hatten, Juden zu sein und zu bleiben, war es damals schwer, ja fast unmöglich, zu einer richtigen Auffassung des Judentums zu gelangen. Der Stoff in Bibel und Talmud war so ungeheuer ausgedehnt und vielseitig, dass sich kaum Zeit und Gelegenheit fand zur Durcharbeitung der Quellen.

In diesem Zeitalter der Irrungen trat, von der Vorsehung gesandt, Moses Maimonides als „Führer der Irrenden“ auf und heilte den Riss, der durch das ganze Judentum ging, indem er Religion und Philosophie miteinander versöhnte und zeigte, dass sie nicht nur einander nicht ausschlössen, sondern sich gegenseitig ergänzten und bedingten.

Am 14. Nissan {= 30. März) 1135 wurde Moses zu Cordova in Spanien als Sohn des selbst sehr gelehrten und schon auf acht gelehrte Ahnen zurückblickenden Rabbiners Maimun geboren. Kaum war Moses 13 Jahre alt, da wurde Cordova von den Almohaden, einer fanatischen aus Nordafrika eingedrungenen Sekte der Mohammedaner, erobert und allen Einwohnern wurde nur die Wahl zwischen Tod, Auswanderung oder Annahme des Islams gelassen. Die meisten Juden, darunter auch Maimun mit seiner Familie, entschlossen sich zur Auswanderung, und so sehen wir die Familie zehn Jahre ein Wanderleben in verschiedenen Städten Spaniens führen. Während dieser Zeit genoss Moses bei seinem Vater Unterricht in Bibel, Talmud, Mathematik und Astronomie, während er bei mohammedanischen Lehrern Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie lernte. Im Jahre 1159/60 wanderte die Familie Maimon nach Fez in Nordafrika. Dort war indessen die Religionsverfolgung noch drückender als in Spanien, und zahllose Juden mussten, um ihr Leben zu retten, zum Schein den Islam annehmen, während sie im geheimen dem Judentum treu anhingen. Man hat vielfach angenommen, dass auch Moses sich diesem Zwange gefügt habe und ein Scheinmohammedaner geworden wäre. Doch haben neuere Forschungen mit Sicherheit ergeben, dass diese Annahme sich nur auf verleumderische Behauptungen seiner Feinde stützte. Die Anklage fand nur deshalb so lange Glauben, weil Moses eine besondere Schrift veröffentlicht hat, in der er einem jüdischen Eiferer entgegentritt und eine mildere Beurteilung jener erzwungenen Scheinübertritte verlangt. Diese Schrift zeigt einerseits seine innige Liebe zum Judentum, andererseits seine Toleranz und Milde, durch die er viele der Übergetretenen in ihrem Gewissen beruhigt und zum Ausharren ermutigt hat, bis sie wieder offen zum Judentum zurückkehren konnten. Er rät nur, möglichst andere Gegenden aufzusuchen, wo man die Maske wieder abwerfen könne. Auch Moses verließ mit den Seinen Fez und fuhr 1165 nach dem heiligen Lande. Nach einmonatlicher, sehr stürmischer Fahrt landete das Schiff in Acco. Dort blieben sie ein halbes Jahr, besuchten Jerusalem und Hebron und wandten sich dann nach Ägypten, wo wenige Monate später der Vater Maimun starb. Moses betrieb, um sein Leben zu erhalten, zusammen mit seinem Bruder David einen Juwelenhandel, aber während David alle Reisen und sonstigen Geschäfte allein besorgte, ergab sich Moses eifrig seinen Studien. Als aber der Bruder auf dem indischen Ozean mit dem Schiffe unterging, das beider Vermögen trug, musste sich Moses nach einem Erwerb umsehen, um sich sowie Witwe und Tochter seines Bruders zu erhalten, und so widmete er sich dem ärztlichen Beruf, während er bis dahin bloß aus wissenschaftlichem Interesse die Heilkunde studiert hatte. Gleichzeitig mit der Ausübung der Heilkunde, in der er sich bald auszeichnen sollte, arbeitete er an der Vollendung seines ersten großen Werkes, des 1168 erschienenen arabischen Kommentars zur Mischna. Die Mischna war bis dahin noch niemals wissenschaftlich erklärt worden, und Moses begnügte sich nicht damit, kurze Wort- und Sacherklärungen zu geben, sondern wollte aus den Diskussionen, die der Talmud über jeden Satz der Mischna enthält, ein Resultat für die Praxis herausschälen und die Gründe jeder Halacha feststellen. Dem ganzen Werk schickte er eine ausführliche Einleitung voraus, in der er das Wesen der Prophetie und der Überlieferung beleuchtete und dadurch zum ersten Kritiker des Talmuds wurde. Besonders wichtig ist aus dem Werke der Kommentar zu den Sprüchen der Väter, in dem er bei der Darstellung der jüdischen Sittenlehre schon seine ganze Ethik entwickelt und auf die Übereinstimmung zwischen Aristoteles und der jüdischen Lehre hinweist. Während bis dahin die haggadischen Teile der Mischna wenig Beachtung gefunden hatten, hebt er ihre hohe religiöse Bedeutung hervor, zeigt, wie die darin enthaltene Sittenlehre unübertrefflich sei, und wie die Tannaim, die Träger und Sammler der Überlieferungen der Mischna, durchaus wissenschaftsfreundlich und teilweise sogar tiefe Gelehrte auf verschiedenen Gebieten gewesen seien. Er sucht alles zu einem Gegenstand gehörige, das in der Mischna sich zerstreut findet, übersichtlich zu ordnen und zu systematisieren, und so unternahm er es auch, die Hauptwahrheiten des Judentums in Form von Glaubenssätzen zu formulieren, die er als allgemein verbindlich für jeden Juden hinstellte. Er übersah dabei, dass das Judentum durch eine derartige Einschnürung eines Hauptvorzugs verlustig geht, den es vor dem in Dogmen erstarrten Christentum voraus hat, nämlich die Freiheit der religiösen Lehrmeinung, die je nach Individualität und Zeitalter eine verschiedene Fassung und Ausprägung gefunden hat. Nur das religiöse Tun, die Erfüllung aller sittlichen Pflichten und überlieferten Gebote, galt bis dahin als verbindlich für alle Juden, während die religiösen Meinungen in manchen Punkten weit auseinander gingen. Moses selbst hat später am Ende seines großen philosophischen Werkes es als ein besonderes Verdienst der Propheten anerkannt, dass sie die Gotteserkenntnis nicht in metaphysischen Aussagen über das Wesen Gottes suchten, sondern sich nur mit Gottes sichtbaren Wirkungen beschäftigten, dass nämlich Gott selbst Recht und Liebe auf Erden übe und gleiches von den Menschen verlange. Und trotzdem, trotz dieser klaren Erkenntnis vom Wesen des Judentums, suchte es Maimonides in Dogmen einzuengen. Der Widerspruch blieb denn auch nicht aus, er wurde dafür aufs schärfste angegriffen, und wenngleich sein Ansehen bewirkte, dass seine dreizehn Glaubenssätze vielfach sogar in die Gebetbücher Aufnahme fanden, wurden sie doch niemals beim Gottesdienst angewandt oder sonst als bindend erklärt und hatten immer nur die Bedeutung eines persönlichen Glaubensbekenntnisses des großen Meisters.

Bei Lebzeiten des Verfassers wurde nur ein kleiner Teil des Werkes ins Hebräische übersetzt, und erst ein Jahrhundert nach seinem Tode war das ganze Werk von verschiedenen Übersetzern ins Hebräische übertragen. Nun erst war es den gelehrten Talmudisten aller Länder zugänglich und wurde in seinem ganzen Werte erkannt, es blieb durch die Jahrhunderte ein unübertroffenes Hilfsmittel zum Verständnis der Mischna und ist dann seit Erfindung der Buchdruckerkunst allen Talmudausgaben beigedruckt worden.

Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Werkes sollte es sich zeigen, welches Ansehen und Vertrauen der noch junge, mit keiner offiziellen Würde bekleidete Maimonides auch außerhalb Ägyptens genoss. In Jemen war eine schwere Religionsverfolgung über die Juden hereingebrochen, und wie früher im äußersten Westen in Fez, so mussten sie jetzt im äußersten Osten, um ihr Leben zu retten, sich äußerlich zum Islam bekennen. Die Gemeinden wandten sich nun durch ihren gelehrtesten Vertreter an Moses um Rat in ihrer traurigen Lage. Maimonides antwortete in einem Trostschreiben, in dem er sie zum Ausharren ermutigt und sie besonders darauf hinweist, dass die Feindschaft aller Völker gegen Israel gerade der beste Beweis für die Göttlichkeit seiner Lehre sei, denn sie kämpften eben gegen das Göttliche in ihm. Dieser Kampf müsse aber immer mit dem schließlichen Siege des Göttlichen enden. Sie sollten daher die Leiden nur als eine vorübergehende Prüfung betrachten und nicht an ihrer Aufgabe irre werden. Seit jener Zeit wurden immer häufiger Anfragen aus den verschiedensten Gegenden an ihn gerichtet, die er alle gewissenhaft beantwortete. Durch einen glücklichen Zufall besitzen wir sogar noch mehrere seiner Gutachten, die in der Genisa der Synagoge in Kairo aufbewahrt wurden und jetzt in Oxford liegen, in Urschrift.

Im Jahre 1177 wurde Maimonides offiziell als Rabbiner von Kairo anerkannt. Gleichzeitig übte er weiter seinen ärztlichen Beruf aus. Denn damals war das Rabbinat noch unbesoldetes Ehrenamt, und der Rabbiner musste darum, wenn er nicht gerade reich war, durch eine andere Tätigkeit sich seinen Unterhalt verschaffen. Kein Beruf erschien würdiger und besser damit vereinbar als die Ausübung der Heilkunde, und so sehen wir eine große Anzahl der bedeutendsten Rabbiner des Mittelalters gleichzeitig als Ärzte teilweise am Hofe von Kaisern und Päpsten oder auf Kathedern von Hochschulen.

Im Jahre 1180 vollendete er sein zweites großes Werk, an dem er nicht weniger als zehn Jahre gearbeitet hat, seinen in hebräischer Sprache verfassten Religionskodex Mischne Thora oder Jadhachazaka. In diesem mächtigen, aus 14 Büchern bestehenden Werke unternimmt es Maimonides, den gesamten Inhalt des Judentums, seine Lehren und seine Gebote, in übersichtlicher Ordnung darzustellen und mit philosophischem Geiste zu durchtränken. Was in Bibel, Talmud und Schriften der Geonim an tausend Stellen zerstreut stand, ist hier systematisch gruppiert, unter allgemeine Gesichtspunkte gebracht, mit passenden Überschriften versehen, und so aus dem chaotisch durcheinander gewirbelten, kaum übersehbaren Material ein abgerundetes Bild gewonnen. Was in ermüdenden, seitenlangen Diskussionen erörtert worden war, ohne dass ein Resultat für die Praxis sich ergeben hatte, ist hier in wenigen Sätzen zusammengefasst und durch eine endgültige Entscheidung geklärt. Was durch eine gewaltsame Verrenkung des ursprünglichen Sinnes eines Bibelwortes abgeleitet worden war, wurde jetzt nicht mehr durch Anlehnung an irgend einen weithergeholten Vers, sondern durch logische Schlussfolgerung als richtig erwiesen. Was sonst als Halacha und Haggada ohne inneren Zusammenhang und scheinbar voneinander losgerissen war, wurde jetzt organisch miteinander verbunden: das Gebot der Gotteserkenntnis wie die Lehren des Rechts und der Sittlichkeit wie die Zukunftshoffnungen des Judentums sind in seinem Werk aufs innigste mit den Zeremonialgesetzen, mit den Vorschriften über Gottesdienst, Sabbat- und Festfeier, erlaubte und verbotene Genüsse verknüpft, und das Ganze vom Geiste ernster und echter Wissenschaftlichkeit erfüllt. Wo er nur Gelegenheit findet, streut er Bemerkungen über die Berechtigung und Notwendigkeit wissenschaftlichen Studiums ein: wo er vom Festkalender spricht, gibt er einen Abriss der Astronomie, wo er die hygienischen Vorschriften behandelt, verherrlicht er die Heilkunde, und wo er die Erkenntnis Gottes als oberste Pflicht des Menschen erklärt, bezeichnet er die Beschäftigung mit der Philosophie als wahren Gottesdienst und als gleichwertig mit dem Talmudstudium. Und aus diesem wissenschaftlichen Sinne heraus erklärt es sich, dass er den Aberglauben, in welcher Form er auch immer auftrat, sei es Mystik oder Magik oder Astrologie, als Götzendienst verdammte. So bildete sein Werk gleichsam einen Abschluss der ganzen gewaltigen Geistesarbeit, die jüdische Denker und Gelehrte seit dem Altertum auf die Aufhellung des Judentums und die Reinhaltung seiner Lehre verwandt hatten.

Kaum war das große Werk vollendet und der Öffentlichkeit übergeben, da wurde es auch schon in Abschriften vervielfältigt und drang sofort in alle Länder, wo Juden lebten, so dass Maimonides zehn Jahre später selbst sagte, es sei bis ans Ende der bewohnten Welt gedrungen. Wir besitzen noch heute eine Reihe mit verschwenderischer Pracht ausgestatteter Handschriften des Werkes, und, abgesehen von liturgischen Büchern, ist überhaupt kein jüdisches Werk im Mittelalter so häufig Gegenstand künstlerischer Ausschmückung geworden. Von allen Seiten erntete der Verfasser begeisterte Zustimmung und Bewunderung, die sich in den überschwänglichsten auf ihn gehäuften Ehrentiteln kundgab, man nannte ihn „den Einzigen des Zeitalters“, „die Fahne der Rabbiner“, „den Moses seiner Zeit“, „den Erleuchter der Augen Israels“. Das Werk war eben einem allgemeinen, tiefempfundenen Bedürfnis entgegengekommen, und Maimonides hatte sich in so vollkommener Weise seiner schweren Aufgabe entledigt, sein Leben stimmte auch so harmonisch mit seiner Lehre überein, dass in weiten Kreisen der Wunsch rege wurde, sein Werk zur alleinigen Richtschnur für das ganze religiöse Leben zu erheben.

Es darf nicht verschwiegen werden, dass in diesem gewaltigen Werke, das dazu bestimmt war, das Judentum zu festigen, doch auch eine gewisse Gefahr für das Judentum verborgen lag. Gerade weil es an Stelle des Hin und Wider der Meinungen, wie wir es im Talmud antreffen, etwas Abschließendes stellen, weil es endgültige Entscheidungen fällen wollte, drohte es die freie Weiterentwickelung der Lehre und des Lebens abzuschneiden. Während wir in der Bibel und dem Talmud das Werden und Entstehen der religiösen Anschauungen und Formen noch vielfach verfolgen und die geschichtlichen Zusammenhänge aufdecken können, ist in Maimonides Werk alles Individuelle und Zeitgeschichtliche verwischt, ist nicht angegeben, wann, wo, von wem und unter welchen Umständen dies oder jenes gelehrt oder befohlen wurde. Ohne Rücksicht auf den Ursprung wird jedes Gebot und jede Meinung mit dem Stempel ewiger Gültigkeit versehen, als ob der Machtspruch eines einzelnen, wenn auch noch so hoch stehenden Menschen über das Denken und Wollen aller kommenden Zeiten entscheiden dürfte. Zum Glück aber wurde das Werk nie als verbindliches Gesetzbuch, sondern nur als wissenschaftliche Darstellung des Traditionsstoffes und Lehrinhaltes des Judentums anerkannt, sodass es nicht zur Hemmung, sondern gerade zur Belebung, Anregung und Weiterbildung des wissenschaftlichen Geistes beitrug.

Die Gegnerschaft gegen ein so umwälzendes Werk ließ auch nicht lange auf sich warten, und in die Stimme der Bewunderer mischte sich bald laut und überlaut die Stimme der Gegner, die teils aus kleinlichem Neid oder Fanatismus, teils auch aus ernsten Motiven das Werk aufs schärfste angriffen, dem Verfasser vorwarfen, er wolle den Talmud abschaffen und seine persönliche Entscheidung in allen noch offenen Streitfragen dem Gesamtjudentum aufdrängen. Maimonides indessen, in seiner vornehmen und friedfertigen Art, ließ sich nicht bewegen, auf irgend einen dieser Angriffe zu antworten.

Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Werkes vereinigten sich verschiedene Ereignisse, um sein bis dahin durch vielfaches Missgeschick getrübtes Leben freundlicher zu gestalten. Er wurde Leibarzt in der Familie Saladins und erfreute sich besonderer Gunst bei dem edlen und gelehrten Minister Al-Fâdhil, der ihm ein Jahresgehalt aussetzte und ihn auch sonst so auszeichnete, dass die mohammedanischen Großen der Stadt Kairo seinen ärztlichen Rat suchten. Seine Praxis nahm dadurch einen solchen Umfang an, dass er seine gelehrten Studien einschränken musste. Gleichzeitig wurde ihm, dem schon Fünfzigjährigen, ein Sohn geboren, daneben gewann er in Joseph ibn Aknin einen verständnisvollen Schüler, dem er später sein bedeutendstes Werk widmen sollte, und endlich wurde er durch seinen Gönner Al-Fâdhil zum Oberhaupt aller jüdischen Gemeinden Ägyptens ernannt, welche Würde sich auf seinen Sohn und dann seinen Enkel vererbte. Diese hohe Stellung benützte er auch, um eine schwere Verfolgung der Juden in Jemen abzuwenden. Es ist auch wahrscheinlich auf seinen Einfluss bei Saladin zurückzuführen, dass den Juden damals wieder die Ansiedelung in Jerusalem gestattet wurde.

All diese Verdienste als Arzt und Gelehrter, als Rabbiner und Anwalt der Juden würden schon genügen, um Maimonides einen Platz unter den ersten Juden aller Zeiten zu sichern, und doch treten sie alle zurück, ja verschwinden beinahe vor der Leistung, die ihm weit über den Kreis des Judentums hinaus für alle Zeiten einen ehrenvollen Platz in der Geschichte des menschlichen Denkens sichert. Es ist sein 1190 vollendetes, in arabischer Sprache abgefasstes religionsphilosophisches Werk Dalâlat al-Châïrin, bekannter unter dem hebräischen Titel More Nebuchim, d. h. „Führer der Verirrten“. In seinem Werke, das er zunächst nur für seinen Lieblingsschüler Joseph ibn Aknîn geschrieben hat, stellt er sich die Aufgabe, das Judentum, wie es sich seinem Geiste darstellte, philosophisch zu begründen und seine völlige Übereinstimmung mit der Vernunft zu erweisen. Wohl hatten schon vor ihm im Altertum Philo und im Mittelalter die verschiedenen Religionsphilosophen von Saadia bis Abraham ibn Daud sich die gleiche Aufgabe gestellt, aber alle ihre Werke zusammen konnten nicht entfernt einen ähnlichen Einfluss auf die geistige Entwicklung des Judentums gewinnen. Keiner von ihnen umspannte in seinem Geiste ein solches Wissensgebiet, noch besaß er die gleiche schöpferische Geisteskraft und logische Schärfe, noch die strenge Konsequenz im Durchdenken und die wohltuende Offenheit im Bekennen seiner Anschauungen. Die Wahrheit der Thora stand ihm so unverbrüchlich fest, wie die Wahrheit der Einsichten, zu denen der menschliche Geist durch logisches Denken gelangt, und vor allem die Wahrheit dessen, was Aristoteles gelehrt hat. Aristoteles und die Thora sind ihm zwei gleich wertvolle und gültige Quellen der Offenbarung und können darum nichts Widersprechendes lehren. Zwischen dem richtig verstandenen Bibelwort und der wissenschaftlichen Erkenntnis kann kein Widerspruch bestehen. Wo ein solcher scheinbar doch besteht, daliegt es an unserem mangelhaften Verständnis des Bibelwortes, das wir zu buchstäblich auffassen, und in dessen tieferen Sinn wir nicht eingedrungen sind. Er bringt also nicht die Vernunft vor den Richterstuhl des Bibelbuchstabens, sondern den Bibelbuchstaben vor den Richterstuhl der Vernunft und hat dadurch eine Freiheit des Geistes selbst gezeigt und anderen gewiesen, wie sie das Mittelalter bis dahin nicht gekannt hat. Maimonides machte vollen Ernst mit der schon biblischen Lehre, dass die höchste religiöse Pflicht im Streben nach Gotteserkenntnis liege, und dass daher die geistige Vervollkommnung des Menschen Zweck und Ziel der Religion sei.

Charakteristisch für seinen Wahrheitsmut ist die Stelle: „Überhaupt bin ich der Mann, der, wenn es ihn drängt und er nicht anders kann, als eine sicher erwiesene Wahrheit derart auszusprechen, dass sie einem ausgezeichneten Menschen zusagt, während sie zehntausend Unwissenden missfällt, es vorzieht, sie diesem Einen mitzuteilen, ungeachtet des Tadels dieses großen Haufens.“ (ed. Munk I, 9b unt.)

Das große Werk, dessen arabisches Original erst seit 1866 durch Salomon Munk herausgegeben ist, zerfällt in drei Teile. Im ersten Teile des Werkes sucht Maimonides die sogenannten Anthropromorphismen als bildliche Ausdrucksweisen zu erklären. So wie schon der Talmud den Grundsatz aufgestellt hat, „die Thora redet in menschlicher Sprache“, um dadurch manche Auffälligkeiten des Bibelwortes zu beheben, so erweitert Maimonides diesen Grundsatz und erklärt, dass überall, wo von Gottes Sehen, Hören, Sprechen, Gehen, Sitzen, Ruhen u. a. gesprochen wird, die buchstäbliche Auffassung unzulässig sei, da sie im Widerspruch mit der jüdischen Auffassung vom Wesen Gottes stehe. Vielmehr seien diese Ausdrücke nur gewählt, um dem Verständnis der Menge entgegenzukommen, die nicht imstande sei, in abstrakten Begriffen zu denken. Im Zusammenhang damit erklärt er es als überhaupt unzulässig und unmöglich, Gott irgend ein positives Attribut beizulegen, das sein Wesen und seine Eigenschaften ausdrücken solle, denn jedes Attribut, das wir aus unserer beschränkten Erfahrung heraus Gott beilegen, schmälere seine Einheit und Vollkommenheit. Wir dürfen daher ihm nur solche Attribute beilegen, die uns sein Wirken auf Erden darstellen, ohne jedoch sein eigentliches Wesen zu berühren, also beispielsweise gnädig, gerecht, barmherzig, gütig.

Der zweite Teil des Werkes sucht, vom Standpunkt der damaligen Naturwissenschaft aus. Beweise für die Schöpfung aus dem Nichts und für die Existenz und Einheit des Schöpfers zu bringen. Wichtiger noch und folgenschwerer ist aber seine Auffassung von der Prophet i e , die er nicht als ein überirdisches Wunder, sondern als eine jedem Menschen durch stetige innere Vervollkommnung erreichbare und darum zu erstrebende geistige Stufe erklärt. Der Gesetzgeber Moses habe diese höhere Stufe nur dadurch erreicht, dass er sich ganz von den Banden der Sinnlichkeit und der Phantasie freigemacht habe. Die den verschiedenen Propheten zuteil gewordenen Erscheinungen seien nicht als wirkliche Tatsachen, sondern als innere Vorgänge, als Produkt ihres lebhaften Vorstellungsvermögens zu betrachten. Nicht Wunderwirkungen seien ein Beweis für die Untrüglichkeit eines Propheten, sondern der Inhalt seiner Lehre.

Der dritte Teil des Buches „More“ hat zum Hauptinhalt eine Untersuchung über die Gründe der biblischen Gebote. Die Gesetze der Thora haben sämtlich einen höheren Zweck, der bei manchen direkt angegeben, bei anderen leicht zu erkennen, bei anderen wiederum erst zu suchen und aus genauer Kenntnis der Zeitverhältnisse, unter denen sie gegeben wurden, zu ermitteln sei. Er teilt darum die biblischen Gebote in 14 Gruppen, denen er alle Einzelvorschriften einzuordnen unternimmt. Manche Gebote seien mit Rücksicht auf die einst herrschenden Zustände und Meinungen erlassen, sie enthielten einen Protest gegen das Heidentum, dem sie auf die verschiedenste Weise entgegenwirken sollten. So seien die Opfervorschriften der Thora nur aus dem Bestreben zu erklären, dem unsittlichen und unmenschlichen heidnischen Opferwesen ein Ende zu bereiten, da das Volk ganz ohne Opfer auf der damaligen Stufe noch nicht imstande gewesen wäre, Gott zu verehren. Maimonides zeigt in diesem Abschnitt eine erstaunliche Kenntnis der heidnischen Religionen und des heidnischen Aberglaubens, die ihm aus den ins Arabische übersetzten Schriften der Ssabier zugeflossen ist. Andere Gebote wieder hätten den Zweck, unsern Sinn auf höhere Gedanken zu lenken oder gewisse Lehren uns besonders eindringlich einzuschärfen. Andere sollten uns wieder nur zu gewissen Tugenden, wie zur Enthaltsamkeit, Wohltätigkeit und Hilfsbereitschaft gegen Mensch und Tier erziehen, andere wiederum unsere Gesundheit fördern. Speziell die Speisegesetze erklärt er ganz vom hygienischen Standpunkte aus. Den Schluss des Werkes bildet ein Abriss der Ethik, der auch seine stark angreifbare Theorie von der Vorsehung enthält. Die Vorsehung Gottes walte über jedem Menschen nach Maßgabe seiner geistigen Vollkommenheit. Wer im reinen Äther der Gottesnähe sich bewege, seine Gedanken ganz auf die Erkenntnis Gottes konzentriere und gleichsam in einer ewigen Andachtsstimmung lebe, könne von keinem Missgeschick heimgesucht werden. Die sittlichen Anforderungen, die an den Menschen zu stellen sind, ergeben sich aus der Erkenntnis Gottes und gipfeln in dem Bestreben, Recht und Liebe zu üben, wie es schon der Prophet als die Grundforderung der Religion hingestellt hat. Das Werk klingt in die Hoffnung aus, dass in absehbarer Zeit alle Juden sich zur Höhe dieser Erkenntnis emporringen werden und schließt mit einem Worte aus Jesajas: „Das Volk, das im Dunkeln wandelt, schaut ein großes Licht. Über denen, die im Lande der Düsternis wohnen, erstrahlt das Licht.“

Maimonides war viel zu bescheiden, um zu ahnen, dass er selbst durch sein Werk diese Prophezeiung zur Wahrheit gemacht habe. Er wurde dadurch nicht nur der „Führer der Irrenden“, d. h. er gewann dadurch nicht nur die durch ihre philosophische Bildung der Religion Entfremdeten wieder für das Judentum, sondern er wurde auch der „Erleuchter der Blinden“, der den damals noch zahlreichen Verächtern von Vernunft und Wissenschaft die Berechtigung, ja Notwendigkeit der Philosophie in der Religion und neben der Religion aufzeigte, und so dem mittelalterlichen blinden Autoritätsglauben einen Stoß versetzte, dessen Wirkung sich selbst die Einsterlinge nicht ganz entziehen konnten. Es war daher nur natürlich, dass das Werk gleich einem wohltuenden Gewitter wirkte und die schwüle Atmosphäre, die niederdrückend auf dem ganzen Geistesleben lag, für lange Zeit reinigte. Doch begann diese tiefe Einwirkung auf das ganze Judentum nicht mehr bei seinen Lebzeiten. Das Werk war nämlich, wie schon hervorgehoben, in arabischer Sprache verfasst, also einem großen Teil der damaligen Judenheit unzugänglich. Es ist nun kulturhistorisch von großer Bedeutung, dass erst durch die Übersetzung des Werkes ins Hebräische sein eigentlicher Siegeszug durch das Judentum begann. Schon neun Jahre nach dem Erscheinen des Originals, also 1199, wandte sich Samuel ibn Tibbon aus Lunel an Maimonides und äußerte die Absicht, das Werk ins Hebräische zu übersetzen. Maimonides war hoch erfreut darüber, gab dem Übersetzer verschiedene Winke und sah auch noch den ersten Teil der Übersetzung vollendet. Die Fertigstellung des Ganzen erfolgte aber erst wenige Wochen vor seinem Tode 1204, sodass er nicht mehr die Freude hatte, das Werk in der Form vollendet vor sich zu sehen, in der es seinen Namen unsterblich machen sollte.

Die letzten Lebensjahre des Meisters waren durch Krankheit, Zeichen des zunehmenden Alters, sowie durch verschiedene Anfeindungen getrübt, und er war daher nicht in der Lage, neben seiner angestrengten ärztlichen Tätigkeit noch an größere wissenschaftliche Arbeiten zu gehen. In diese Zeit fällt auch seine als Leibarzt für Al-Afdhal, den Sohn und zweiten Nachfolger Saladins, ausgearbeitete Hygiene, in der er dem Sultan, der früher ein wüstes Genussleben geführt hatte, in rühmenswerter Offenheit eine sittliche Lebensführung und geistige Tätigkeit als notwendige Vorbedingungen für die Erhaltung der Gesundheit bezeichnete. Seine sonstigen medizinischen Schriften sind streng wissenschaftlich und sind von dem bedeutendsten Kenner derselben, Moritz Steinschneider, auf Anregung Virchows in dessen Archiv für pathologische Anatomie teils bearbeitet, teils übersetzt worden. Nach dem Urteil von Prof. Pagel auf der letzten Versammlung deutscher Naturforscher zeigt sich in derselben Maimonides als der erste Kritiker auf medizinischem Gebiet im ganzen Mittelalter.*) Welchen Ruf als Arzt er schon bei Lebzeiten genoss, zeigt sich in noch vorhandenen Urteilen arabischer Gelehrter und vor allem in der Tatsache, dass ein christlicher Fürst in Askalon (angeblich Richard Löwenherz, der König von England) ihn als Leibarzt an seinen Hof ziehen wollte, welchen Ruf er indessen abgelehnt hat.

Maimonides starb am 20. Tebet = 13. Dezember 1204 im 70. Lebensjahre, von Juden und Mohammedanern gleich betrauert. Seine sterblichen Überreste wurden nach Tiberias überführt und in Jerusalem eine außerordentliche Leichenfeier um ihn gehalten. Aber nur wenige Juden ahnten damals, dass der Name des großen Toten länger als ein Jahrhundert das Losungswort eines wahren Kulturkampfes werden sollte, wie ihn das Judentum in dieser Erbitterung und langen Dauer weder früher noch später erlebt hat. Durch die hebräischen Übersetzungen des Samuel ibn Tibbon und des Dichters Al-Charisi wurde der More Nebuchim, der Führer der Verirrten, bald zu den Juden aller Länder getragen und entzündete auf der einen Seite einen wahren Taumel der Begeisterung, auf der anderen Seite einen geradezu panischen Schrecken. Die denkfähigen und gebildeten Juden erkannten, dass die Ideen des Judentums noch niemals so rein dargestellt und so tief aufgefasst worden seien, dass Wissenschaft und Philosophie von nun an im Judentum immer Bürgerrecht behalten würden. Die starren Anhänger der Tradition dagegen erblickten in dem Werke die gefährlichste Ketzerei und begnügten sich nicht mit der literarischen Bekämpfung des Werkes, sondern entlehnten von den ihnen geistesverwandten christlichen Eiferern die schlimmsten Waffen des Fanatismus: sie sprachen einen Bann aus gegen alle Anhänger der maimonidischen Lehren und schämten sich nicht, die ärgsten Feinde des Judentums, die Dominikaner, zu Bundesgenossen zu nehmen und bei ihnen zu erwirken, dass die Schriften des Maimonides in Montpellier öffentlich verbrannt wurden. Allmählich aber kamen auch die Gegner zur Erkenntnis von der geistigen und sittlichen Größe, von der Gelehrsamkeit und -tiefen Religiosität des von ihnen noch im Grabe Verfolgten, und der More Nebuchim wurde mit der Zeit ein klassisches Werk für alle Juden. Es gehörte einfach zur religiösen Bildung, mit diesem Werke sich vertraut gemacht zu haben; alle jüdischen Denker haben daraus denken gelernt und ihre erste Erkenntnis geschöpft und sind dadurch, selbst wo sie in ihren Ansichten abwichen, angeregt worden. So ist es auch bezeichnend, dass der More Nebuchim zu den aller ersten gedruckten hebräischen Büchern gehörte und schon vor 1480 in Italien erschien. Durch ihn wurde der jüdische Geist selbst in den Zeiten schwersten äußeren Leids vor Versumpfung bewahrt, und es ist kein bloßer Zufall, dass die zwei größten jüdischen Denker der neueren Zeit, Spinoza und Moses Mendelssohn, durch ihn nicht nur die erste philosophische Schulung erhalten haben, sondern auch in ihrer ganzen Geistesrichtung wesentlich beeinflusst worden sind. So verschieden auch die Denkresultate wie das Leben und Wirken dieser drei Philosophen des Judentums sind, in einem Hauptpunkte sind sie alle drei einander gleich: sie verwerfen alle das Gaukelspiel der Phantasie und stellen an ihre Stelle die logische Erkenntnis, die Beobachtung der sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen; und doch ist keiner von ihnen ein kalter Rationalist, ein seelenloser Vernünftler gewesen, vielmehr zeigen alle drei das gleiche reiche und tiefe Gemüt als schönstes Erbteil des jüdischen Geistes.

Noch bleibt ein Wort zu sagen über die Einwirkungen des Maimonidischen Geistes auf die Mohammedaner und auf die Christen. Die Mohammedaner, denen das Werk im arabischen Original zugänglich war, studierten es eifrig, rühmten es teilweise über alle Maßen, während sie namentlich seine Auffassung des Prophetentums scharf bekämpften. Ungleich tiefer sind noch die Wirkungen, die das Buch bei den Scholastikern, den christlichen Denkern des Mittelalters, zurückgelassen hat. Bald nach dem Tode des Maimonides ließ vermutlich kein Geringerer als Kaiser Friedrich II. das Buch aus dem Hebräischen mit Hilfe eines jüdischen Gelehrten ins Lateinische übersetzen, und aus dieser Übersetzung haben die größten christlichen Philosophen des Mittelalters, Albertus Magnus und Thomas von Aquino, teilweise mit und noch häufiger ohne Nennung der Quelle geschöpft. Denn die im More Nebuchim behandelten Fragen, der Ausgleich der Bibel mit der Philosophie, waren im Christentum ebenso brennend wie im Judentum, und die von Maimonides gebotene Lösung konnte dort teilweise unverändert, teilweise in entsprechender Modifizierung gebraucht werden. Diese auch von sonstigen mittelalterlichen Denkern häufig zitierte lateinische Übersetzung war seit Jahrhunderten verschollen, bis im Jahre 1875 mein Vater sie in einer unerkannten Handschrift der Münchener Staatsbibliothek wiederentdeckte. Auch im Renaissancealter wurde der More Nebuchim von christlichen Denkern hochgeschätzt.**) Auch im letzten Jahrhundert, da durch jüdische Gelehrte, vor allem Munk, Joël, Guttmann, Hermann Cohen die Philosophie des Maimonides nach den verschiedensten Richtungen hin dargestellt und ihre Nachwirkungen bei Juden wie bei Christen aufgedeckt worden sind, haben christliche Forscher die Bedeutung des großen Philosophen anerkannt; so nennt ihn Schleiden den größten Geist, den dieses Jahrhundert überhaupt in Europa aufzuweisen hat.

Wohl sind durch die Fortschritte der naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Erkenntnis manche Hauptstützen seines Systems umgestoßen, wohl verlangen neue Fragen neue Lösungen, aber ungeschmälert bleibt sein Verdienst, dass er für alle Zeiten den Einklang des Judentums mit der Wissenschaft im Prinzip festgestellt hat. Wir alle zehren noch von seinem geistigen Gute und schreiten auf dem Wege weiter, den er uns gewiesen hat. So dürfen wir hoffen, dass der Geist des Maimonides auch in der kommenden Zeit uns voranleuchten und wie einst in der Nacht des Mittelalters in alle jüdischen Wohnstätten das Licht tragen wird, das Licht der Religion, immer von neuem entzündet und genährt vom Lichte der Wissenschaft.

*) Vgl. Pagels Aufsatz „Maimuni als medizinischer Schriftsteller“ im Gedenkbuch Moses ben Maimon I 231 ff.

**) Siehe die reichen Nachweise bei Guttmann im genannten Gedenkbuch I 212 ff.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen