Max Grünbaum

Vorwort zu „Gesammelte Aufsätze zur Sprach- und Sagenkunde“ von Max Grünbaum. Herausgegeben von Felix Perles. Berlin (S. Calvary & Co.) 1901.

Die vorliegende Publikation ist nicht bloß ein Ehrendenkmal für den vielseitigen, geistvollen Forscher, dessen zerstreute Abhandlungen hier zu einem Ganzen vereint erscheinen, sondern ebenso für seinen großen Freund Ludwig Bamberger, der durch seine Munifizenz die Herausgabe ermöglichte und bald darauf selber heimgegangen ist.


Wenn Verschiedenheit der Natur Freundschaft begründen kann, so muss es hier der Fall gewesen sein. Denn man kann sich keine größeren Gegensätze denken, als den berühmten Parlamentarier, der mitten im Getriebe des öffentlichen Lebens stehend als Politiker und Schriftsteller auf weite Kreise mächtig einwirkte, und den weitscheuen Gelehrten, der das Leben nicht verstand, der von der Welt ungekannt und unbeachtet dahinlebte und seine Tage fast nur im Verkehre mit den großen Geistern der Vergangenheit verbrachte.

Und diese in früher Jugend geschlossene Freundschaft erkaltete auch mit den Jahren nicht. Trotz der langen Trennung, trotz der Verschiedenheit ihrer Lebensinteressen bewahrten sich die Freunde ein teilnahmsvolles Verständnis für alle Fragen, die sie näher berührten. Als Zeugnis dafür sei aus einem Briefe Bambergers vom 13. XII. 98, den er auf die Nachricht vom Hinscheiden seines Freundes an mich richtete, folgende Äußerung angeführt: „Soeben erhalte ich Ihre g. Zuschrift, deren Inhalt mich aufs Tiefste berührt. Mit dem Verstorbenen ist einer meiner ältesten Jugendfreunde, der in den Anfängen meiner Entwicklung sehr stark in meine Gedankenwelt eingriff, dahingegangen.“

Wenige Wochen darauf suchte ich Bamberger in Berlin auf und berichtete ihm über die letzten Lebensjahre Grünbaums. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er denselben „als ein merkwürdiges Produkt der jüdischen Rasse“. In der Tat ist damit die Eigenart Grünbaums treffend gezeichnet, seine Geistesrichtung wie seine Schicksale stimmen überraschend zu dem, was er selbst in der Einleitung zu seiner Jüdisch-deutschen Chrestomathie vom ganzen jüdischen Volke und seiner Literatur aussagt. Sein Leben gleicht einer Irrfahrt durch die verschiedenen Länder der alten und neuen Welt. Bei jedem' Volke sucht er eine Heimat, lernt Sprache und Sitte kennen, aber immer wieder stößt ihn ein widriges Geschick fort, dass er sich nirgends zu Hause fühlen darf. Aber nicht nur der Umstand, dass er Jude war, sondern auch das von ihm erwählte Forschungsgebiet war es, wodurch ihm eine entsprechende Betätigung seines Könnens und Wissens unmöglich wurde. Denn, wenngleich er auf zahlreichen, zum Teil entlegenen Gebieten ein selten vereintes Wissen besaß, wenngleich er die orientalischen wie die klassischen Sprachen und ihre Literaturen durchforschte, wenngleich er die meisten modernen Sprachen sprach und ihre Dichter noch im hohen Alter auswendig wusste, wenngleich er als Sagenforscher wie als Philologe nach verschiedenen Richtungen hin erfolgreich arbeitete, ein Gebiet stand immer im Mittelpunkt seiner Studien: die jüdische Literatur, die bis in ihre weitesten Verzweigungen und entferntesten Ausläufer einen Verständnis- und liebevollen Pfleger an ihm hatte, und zwar nicht nur vom philologischen und literarhistorischen, sondern ebenso vom ästhetischen Standpunkte aus. Diese Literatur, die zeitlich und räumlich so auseinander liegende Gebiete verbindet, die für den Sprachforscher wie für den Kulturhistoriker so weite Perspektiven öffnet, diese Literatur ist, wenigstens in Deutschland, an den öffentlichen Hochschulen noch nicht als Lehrgegenstand zugelassen. Den Vertretern der jüdischen Wissenschaft, d. h. der Wissenschaft vom Judentum, von seiner Lehre, Geschichte und Literatur in der Diaspora steht keine Universitätskanzel offen, nur wenige von ihnen sind Lehrer an Rabbinerseminaren, die meisten amtieren fern von den Zentralen der Wissenschaft als Rabbiner oder fristen als Privatgelehrte ohne jede Stellung ein kümmerliches Dasein. Man denke nur an Zunz und Steinschneider, die nie an der ihnen gebührenden Stelle gestanden, und man wird begreifen, dass auch Grünbaum sich zu keiner angemessenen Lebensstellung emporarbeiten konnte. Sein Lebenslauf ist wie der seiner meisten Fachgenossen eine fortgesetzte Reihe von Enttäuschungen und Entsagungen. Er musste seine Befriedigung in sich selbst und sein einziges Glück in seinen Studien finden.

Geboren zu Seligenstadt (Hessen) am 15. Juli 1817, studierte er unter mannigfachen Hindernissen Philologie und Philosophie an den Universitäten Bonn und Gießen und musste dann, der Not der Verhältnisse gehorchend, die besten Jahre seines Lebens als Hauslehrer abwechselnd in Wien, Triest und einer kleinen ungarischen Stadt, dann in Amsterdam und London verbringen, bis er endlich 1858 Inspektor eines jüdischen Waisenhauses in New-York wurde. Der dringendsten materiellen Sorgen enthoben, konnte er seine Studien wieder aufnehmen und trat mit verschiedenen kleineren Arbeiten an die Öffentlichkeit. Erst mit dem Jahre 1870, als er nach München übersiedelte und die Schätze der dortigen Staatsbibliothek zur Verfügung hatte, durfte er sich ganz und ungeteilt seinen wissenschaftlichen Neigungen hingeben und hier begann er, die Resultate seiner Forschungen in verschiedenen selbständigen Werken, größeren und kleineren Aufsätzen und gelegentlich auch in anmutigen Feuilletons darzubieten.

Grünbaum besaß eine nicht gewöhnliche Darstellungsgabe, was seinen streng wissenschaftlichen Werken ebenso zustatten kam wie seinen zahlreichen mehr populären Arbeiten. So gehört gleich der Anfang des ersten hier abgedruckten Aufsatzes zu dem Schönsten, was je über Halacha und Haggada geschrieben wurde. Nicht selten zeigt er eine poetische Ader, manchmal wieder schreibt er in angenehmem Plauderton, und man geht wohl nicht fehl, wenn man hier den Einfluss Bambergers annimmt. Es ist allerdings ein Stil, der längst nicht mehr modern ist. Die behagliche Breite macht den heutigen Leser manchmal ungeduldig; aber im ganzen hilft die Schreibart doch über manche Eigentümlichkeiten seiner Arbeitsweise hinweg, die sonst das Verständnis erschweren würden. Die umfassende Gelehrsamkeit wirkt oft störend, ja erdrückend: bald verliert er sich in nebensächliche Einzelheiten, bald gerät er auf abliegende Materien, sodass der geschlossene Gang der Untersuchung naturgemäß dadurch gestört wird. Obschon wenigstens den ersten beiden Aufsätzen reichliche Anmerkungen am Schlüsse beigegeben sind, ist die Ökonomie der Stoffverteilung nicht immer glücklich eingehalten.*) So ist es auch bezeichnend für den unpraktischen Sinn Grünbaums, dass er die Quellennachweise, die hier in Fußnoten gesetzt sind, regelmäßig im Texte gab, was oft den Zusammenhang in unangenehmster Weise unterbrach.

Aber über all diese Schwächen und Mängel sieht man angesichts der vielseitigen Belehrung und Anregung, die man aus seinen Schriften zieht, leicht hinweg. Es gibt wahrscheinlich nicht viele Gelehrte, die Grünbaum auf allen Gebieten folgen können, die er nicht bloß dilettantisch umfasst, sondern als selbständiger Forscher angebaut hat. Drei Hauptgebiete kommen vor allem in Betracht: die vergleichende Sagenkunde, die jüdisch-deutsche und die jüdischspanische Literatur.

Das erste dieser Gebiete ist vertreten in den vorliegenden „Gesammelten Aufsätzen“**) und in dem 1893 erschienenen Buche „Neue Beiträge zur semitischen Sagenkunde“. Des Verfassers tiefe Quellenkenntnisse in allen einschlägigen Literaturen befähigen ihn besonders zu derartigen Arbeiten, und ein so kompetenter Beurteiler wie Bacher sagt in seiner Besprechung des letztgenannten Werkes:***) „Wir bewundern, wie in den früheren Arbeiten Grünbaums, eine gediegene Kenntnis der semitischen sowie anderer Sprachen und Literaturen, die es ihm gestattet, stets nur aus den Quellen zu schöpfen und die Früchte einer ungewöhnlichen Belesenheit in der zuverlässigsten Form zu bieten. Diese neuen Beiträge werden im Vereine mit den früheren Arbeiten Grünbaums stets ein reiches Repertorium der Sagenkunde bilden, besonders was die auf die Agada zurückführenden Stoffe betrifft; und auch sonst kann die Kenntnis der unendlichen Mannigfaltigkeit der in der Agada behandelten Gegenstände sowie ihrer sprachlichen und sachlichen Eigentümlichkeiten durch des Verfassers interessante und vielseitig belehrende Darstellung in hervorragendem Maße gefördert werden.“

Während aber Grünbaum auf diesem Felde naturgemäß mehr durch die Vergleichung oder Deutung schon früher bekannter, nur auf ihre gegenseitigen Beziehungen noch nicht geprüfter Tatsachen die Wissenschaft bereicherte, hat er auf den beiden anderen Gebieten sehr viel wichtiges bisher ungekanntes Material der Forschung erschlossen. Es ist kein bloßer Zufall, wenn er sich gerade in zwei Literaturen vertiefte, die aus einer Vermählung des jüdischen Geistes mit dem Geiste einer abendländischen Sprache und Kultur hervorgegangen sind. Denn in ihm selbst zeigte sich eine so merkwürdige westöstliche Mischung, dass man glauben könnte, eine Art Wahlverwandtschaft müsse ihn zu den Geistesprodukten hingezogen haben, die er hier aus dem Staube der Bibliotheken zog.

Die jüdisch-deutsche Chrestomathie ist Grünbaums umfangreichstes Werk und war ursprünglich auf zwei Bände geplant. Da er jedoch keine Verleger fand, erklärte er, „das Buch sei zwar sein rechtmäßiges Kind; nichtsdestoweniger sage er: Schneidet es in zwei Teile!“ So erschien damals nur die Hälfte und blieb der zweite Band bis heute ungedruckt.****)

*) Hoffentlich werden die beigegebenen Indices diesem Mangel abhelfen und die Benutzung des reichen Materials erleichtern.

**) Verschiedene kleinere hierher gehörige Arbeiten aus Zeitschriften konnten in die Sammlung nicht aufgenommen werden und sind in der Bibliographie von Grünbaum's Schriften verzeichnet.

***) ZDMG XLVIII 134—135.

****) Derselbe befindet sich jetzt im Besitze des Geh. Kommerzienrats und Generalkonsuls Herrn Maximilian von Wilmersdoerffer in München, dem auch der erste Band gewidmet ist. [Seit dessen Tode im Besitze von Grünbaums Neffen, Herrn N. A. Grünbaum in Hanau.


Um ein gerechtes Urteil über die Chrestomathie zu fällen, muss man sich vor Augen halten, dass es das erste Werk seiner Art war, und daher in Ermangelung geeigneter Vorarbeiten notwendig nach manchen Seiten hin unvollständig und unvollkommen sein musste. Ich muss das hier besonders hervorheben, da es in der jüngsten Zeit einem Kritiker*) beliebt hat, Grünbaums Werk in wegwerfendstem Tone zu behandeln und ihm jedes Verdienst abzusprechen. Ich stehe nicht an, die Chrestomathie als eine hervorragende Leistung zu bezeichnen: Die Fülle wertvoller Auszüge aus den verschiedenartigsten bis dahin größtenteils unbekannten Schriften, die hier nach seltenen Drucken und vor allem nach Münchener Handschriften geboten werden, die genaue Transskription der Texte, die sich früher im fremden Gewande der hebräischen Schrift den Blicken der meisten Germanisten und Folkloristen entzogen, die gewandte und treffende Charakterisierung der behandelten Schriften mit der schönen Einleitung des Buches, die vielen wichtigen und interessanten Worterklärungen und vor allem die Untersuchungen über die Stoffe der jüdisch-deutschen Literatur machen das Werk noch heute zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel für das Eindringen in dieses .schwerzugängliche Schrifttum und rechtfertigen in vollem Umfang das Urteil, das mein Vater in einer ausführlichen Besprechung gefällt hat:**) „Es ist ein gelehrtes und interessantes Buch, das wissenschaftliche Leser durch den mit wahrem Bienenfleiß aufgehäuften Reichtum sprachlichen und kulturhistorischen Materials erfreut, und dessen einzelne Partien auch weitere Leserkreise anzuregen und zu interessieren wohl geeignet sind.“ Dessen unbeschadet kann zugegeben werden, dass das Werk auch an manchen Mängeln leidet. Die dargebotene Auswahl von Literaturproben ist einseitig, indem sie sich willkürlich nur auf Übersetzungen aus dem Hebräischen beschränkt,***) ferner ist die Anordnung des Stoffes vielfach unübersichtlich, sodass durch das Fehlen eines Index die Benutzung des voluminösen Werkes sehr erschwert ist, und endlich findet sich darin auch eine Reihe falscher Worterklärungen. Wenn man jedoch erwägt, dass Grünbaum im Gegensatz zu Wiener niemals in einem Milieu gelebt hat, wo die jüdisch-deutsche Sprache noch lebt, und daher seine Kenntnisse lediglich aus Büchern schöpfen musste, wird man namentlich den letzterwähnten Mangel sehr milde beurteilen und auch aus der Tatsache, dass er die belletristische Literatur unseres Jahrhunderts unberücksichtigt ließ****), nicht die Berechtigung ableiten, den Stab über sein ganzes Werk zu brechen. Wieners neues Buch, das an sich verdienstvoll ist, kann als wertvolle Ergänzung zu Grünbaums Chrestomathie gelten, darf jedoch keineswegs den Anspruch erheben, dieselbe ersetzt oder auch nur überholt zu haben.*****)

*) Leo Wiener, The History of Yiddish Literature in the 19th Century (New York 1899) p. IX. 9. 13.

**) Monatsschrift für Gesch. und Wissensch. d. Judent. 1882, 128 f.

***) Vgl. Steinschneider, Monatsschrift f. G. u. W. d. Jud. XLII 78.

****) Dieser Vorwurf richtet sich allerdings zunächst gegen die kleine Schrift „Die jüdisch-deutsche Literatur in Deutschland, Polen und Amerika“, Trier 1894 (Sonderabdruck aus Winter-Wünsches „Jüdischer Literatur seit Abschluß des Kanons“). Hier hätte in der Tat gerade den belletristischen Werken ein hervorragender Platz gebührt.

*****) Beiläufig sei hier bemerkt, dass der strenge Kritiker Wiener nicht einmal die wertvollen Studien meines Vaters zur jüdisch-deutschen Sprache und Literatur („Beiträge zur Geschichte der hebr. und aram. Studien“, München 1884. „Die Berner Handschrift des kleinen Aruch“ in der Grätz-Jubelschrift S. 1 — 38) kennt.


Wenn schon die jüdisch-deutsche Literatur vor dem Erscheinen von Grünbaums Werk westeuropäischen Gelehrten vielfach nicht einmal dem Namen nach bekannt war, so gilt das noch in erhöhtem Maße von der jüdisch-spanischen Literatur. Bis zum Jahre 1896 wussten die Romanisten überhaupt kaum von der Existenz eines solchen Schrifttums, geschweige denn von der hohen Bedeutung, die dasselbe für ihr Fach nach der literarhistorischen wie nach der grammatischen und lexikalischen Seite hatte.*) Die rührende Treue, mit der die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden ihrem Stiefvaterlande anhingen, mit der sie in fremden Landen das Spanische nicht nur als Umgangssprache bis auf den heutigen Tag bewahrt, sondern auch literarisch nach vielen Seiten hin angebaut haben und noch anbauen, ist eine kulturhistorisch so merkwürdige Erscheinung, dass jeder Gebildete dafür Interesse und Bewunderung haben sollte. Und doch haben selbst Fachmänner bis in die jüngsten Jahre nicht einmal Notiz davon genommen. Der Grund dafür ist unschwer zu finden, er ist der gleiche wie bei der jüdisch-deutschen Literatur. Die spanischen Juden schreiben bis auf den heutigen Tag ihr „Ladino“ mit hebräischen Buchstaben, und so mussten auch hier ihre Schriften erst den Fesseln einer fremden Transskription entwunden werden, bis der auf ihnen ruhende Bann gelöst werden konnte. Und Grünbaum hat in seiner, wenn auch kleinen, so doch gehaltreichen Chrestomathie eine Reihe interessanter und wertvoller jüdisch-spanischer Texte in lateinischen Buchstaben mit literarhistorischen und sprachlichen Erläuterungen vorgelegt und damit der Romanistik ein weites und reiches Arbeitsfeld erschlossen. Freilich kann das Werk schon wegen seines geringen Umfanges, und da es nur aus gedruckten Quellen schöpft, nur als erster aber vielverheißender Spatenstich auf diesem bisher unbeackerten Boden gelten und wird hoffentlich anregend wirken und den Ausgangspunkt für weitere und tiefere Forschungen bilden.**)

Die hier aufgezählten und gewürdigten Werke sind das Einzige, was die Welt von ihm erfuhr, und auch das Einzige, was ihm in seinem entsagungs- und enttäuschungsreichen Leben Freude und Befriedigung gewährte ; und doch wäre es ein Unrecht gegen ihn, wenn man bloß von seinen Schriften und nicht auch von seiner Persönlichkeit sprechen wollte. Obgleich ich Grünbaum nur im letzten Jahrzehnt seines Lebens, der Zeit zunehmenden körperlichen und zuletzt auch geistigen Verfalls, mit Verständnis näher stand, hat mich seine Persönlichkeit bei all ihrer Eigenart und Sonderbarkeit immer mit Rührung und Verehrung erfüllt: mit Verehrung, nicht bloß durch seinen Geist und sein Wissen, sondern vor allem durch seine wahrhaft antike Bedürfnislosigkeit, und mit Rührung, denn der unbeholfene und unerfahrene Greis wusste und verstand von dem, was außerhalb der vier Wände seiner Gelehrtenklause lag, weniger als ein Kind, und glich auch in seiner Harmlosigkeit und Gutmütigkeit einem Kinde. Eine mit den Jahren gesteigerte religiöse Wärme und ein liebevolles Verständnis für das Judentum, die auch in seinen meisten Schriften an den Tag treten, verlieh seinen Worten oft etwas Weihevolles. Man darf sich auch Grünbaum trotz seiner traurigen Lebensschicksale nicht etwa als einen mürrischen, verbitterten Greis vorstellen: ein milder Humor würzte all seine Äußerungen über Welt und Menschen. Bis in die letzten Jahre seines Lebens war er voll Geist und Witz, was nicht nur seine Feuilletons bezeugten, sondern fast noch mehr seine Briefe und Gespräche, die er mit Zitaten aus allen Sprachen interessant zu machen wusste. Mit besonderer Vorliebe zitierte er Byron, dessen weltschmerzselige Dichtungen manche verwandte Saiten in seiner Brust anschlugen. Aus seinem Leben erzählte er nur selten; er verweilte offenbar ungern bei den Erinnerungen seiner schmerzensreichen Vergangenheit, und meine Versuche, ihn zum Schreiben einer Autobiographie zu bewegen, schlugen immer fehl. Bei einer solchen Gelegenheit gebrauchte er von sich selbst das Wort aus Childe Harold:

Whose bark drives oii
And anchored ne'er will be.

Mit diesen wenigen Worten, die er an einer anderen Stelle auf das ganze jüdische Volk anwendet, ist die ganze Tragödie seines Lebens gezeichnet. Obwohl er fast ein Menschenalter in München lebte, war er auch dort nicht anchored; er lebte, wie mein Vater einmal treffend bemerkte, nicht in München, sondern auf der Staatsbibliothek in München; und seitdem er ans Zimmer gefesselt war, kamen nur noch wenige Freunde nach seiner abgelegenen Wohnung in der Schleißheimerstraße, wo er unter der aufopfernden Pflege seiner treuen Gattin wie ein Einsiedler dahinlebte, wo seine einzige Abwechslung die Besuche waren, die ihm in seinem Leiden Trost brachten, und denen er immer als Gegengabe reiche Früchte aus dem Schatze seines Wissens und Denkens mitteilte. Am 11. Dezember 1898 schloss er seine müden Augen und zwei Tage darauf wurde er von dem kleinen Häuflein seiner Verehrer und Freunde zur letzten Ruhe geleitet.***) Seine reichhaltige, in ihrer eigenartigen Zusammenstellung interessante Bibliothek vermachte er letztwillig dem Münchener „Verein für jüdische Geschichte und Literatur“.

Sein letzter Wunsch war die Herausgabe seiner zerstreuten Arbeiten zur orientalischen Sprach- und Sagenkunde. Ich unterzog mich gern der Aufgabe, die Herausgabe zu leiten, und erwirkte von Ludwig Bamberger die Zusage eines bedeutenden Betrags zur Drucklegung. Kurze Zeit darauf starb Bamberger, und da es sich herausstellte, dass die von ihm ausgesetzte Summe die Kosten nicht decken werde, wandte ich mich nach München und erhielt den fehlenden Betrag von dem langjährigen Freunde Grünbaums, Herrn Geh. Kommerzienrat und Generalkonsul Maximilian von Wilmersdoerffer und von der verehrlichen Verwaltung der Israelitischen Kultusgemeinde München aus der Bernhard Frankel sehen Stiftung. Beiden, wie auch den Bambergerschen Erben für ihr bereitwilliges Entgegenkommen, sei an dieser Stelle der gebührende Dank ausgesprochen.

*) Kayserlings 1888 erschienene reichhaltige „Bibliotheca“ ist lediglich eine Inventaraufnahme der bis dahin bibliographisch noch nirgends im Zusammenhang behandelten jüdisch-spanischen und jüdisch-portugiesischen Schriften, gibt aber keine genügende Anschauung von der literarhistorischen und noch weniger der sprachwissenschaftlichen Bedeutung derselben.

**) Vgl. meine Besprechung in „Zeitschrift für romanische Philologie XXI (1897) p. 137—139 und meine Ausführungen in der „Orientalistischen Literatur-Zeitung“ III (1900) col. 222 f. (= Jüd. Skizzen 239 ff.)

***) Nachrufe auf Grünbaum erschienen in der „Beilage zur Allgemeinen Zeitung“ 1898 Nr. 285 S. 5 f. (von Felix Perles), in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ 1898 Nr. 591 S. 4 (von Prof. Fr. Hommel) und im „Biographischen Jahrbuch und Deutschen Nekrolog“ III (1898) Berlin G. Reimer 1900 S. 235—236 (von Reallehrer Dr. Ludwig Fränkel). Im Jahrbuch des Achiasaf III 381 steht ein kurzer Nekrolog, in dem jedoch irrig Grünfeld statt Grünbaum als Name angegeben ist. [Inzwischen erschien auch in der Allgemeinen Deutschen Biographie Band XLIX (1904) S. 589—594 ein Artikel über Grünbaum von L. Frankel.]

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen