Abraham Geiger

Bericht über den Religionsunterricht der Synagogengemeinde Königsberg i. Pr. Auch separat Frankfurt a. AI. (J. Kauffmann) 1910.

Als vor kurzem in ganz Deutschland der 150. Geburtstag Schillers gefeiert wurde, da klang durch die Begeisterung der Festreden und Festartikel immer ein leiser elegischer Unterton angesichts der nicht wegzuleugnenden Tatsache, dass der edelste deutsche Dichter bei der heutigen Generation nicht mehr den Enthusiasmus wecken könne, der sich vor fünfzig Jahren bei Gelegenheit des 100. Geburtstages gezeigt habe, und man klagte über unsere schnelllebende Zeit, die in ihrem atemlosen Vorwärtsdrängen keine Dankbarkeit und keine Pietät auch für das herrlichste Erbe der Vergangenheit kenne. Die gleiche niederdrückende Beobachtung können wir täglich auf allen Gebieten des Lebens machen, und sie drängt sich uns auch am heutigen Tage auf, da wir eines großen Toten gedenken, zu dem unser Geschlecht nicht mehr das richtige Verhältnis finden kann, da wir Abraham Geiger feiern wollen, der eine der markantesten Persönlichkeiten im Judentum des letzten Jahrhunderts war, während die Jüngeren unter uns kaum noch eine Vorstellung von seiner Bedeutung und seinen Leistungen haben. Die Erklärung dieser auffälligen Erscheinung ist sehr einfach: Die großen Errungenschaften, die wir Geiger verdanken, haben wir längst als etwas Selbstverständliches anzusehen uns gewöhnt, so dass wir gar nicht mehr ahnen, wie es vor 100 Jahren im Judentum aussah, und welcher Kämpfe es bedurfte, um das durchzusetzen, was heute von niemand mehr als Fortschritt empfunden wird. Und andererseits hat die Zeit bezüglich mancher Ideen und Anschauungen, die Geiger leidenschaftlich verfochten hatte, unzweideutig gegen ihn entschieden.


Vergegenwärtigen wir uns daher vor allem, welches Bild das deutsche Judentum bot, als Geiger am 24. Mai 1810 in der Judengasse zu Frankfurt a. M. das Licht der Welt erblickte. In den beiden größten Staaten Deutschlands, in Preußen und Bayern, waren die Juden damals noch nicht einmal Staatsbürger, und wenngleich die Not der Zeit beide Staaten zwang, noch kurz vor den Befreiungskriegen ihre jüdischen Untertanen zu emanzipieren, trat nach dem Wiener Kongress 1815 in ganz Europa und speziell in Deutschland die Reaktion ein, die den Juden ihr wohlerworbenes Recht noch ein volles halbes Jahrhundert vorenthielt. Ebenso traurig wie die politische Lage war der kulturelle Zustand des deutschen Judentums. Wohl hatte Moses Mendelssohn schon mehr als ein Menschenalter früher Judentum und höchste geistige Kultur in sich vereinigt, aber er war zu früh gestorben, um eine Form zu finden, in der nicht nur einzelne bevorzugte Geister, sondern die ganze Gemeinschaft ihre überlieferte Religion mit der Bildung der Zeit verbinden konnte. So erstanden innerhalb des Judentums zwei Richtungen, von denen die eine nur ängstlich bemüht war, die Religion in ihrer bisherigen Form unverändert zu erhalten und darum völlig verständnislos und ablehnend der neuen Kultur gegenüber sich verhielt, während die andere ihren Kampf für Bildung und Gleichstellung meist in völliger Gleichgültigkeit, ja manchmal in offener Feindschaft gegen die Religion der Väter führte. Es erfolgten aus diesem Kreise Massenübertritte zum Christentum. Aber auch diejenigen, die die alte jüdische Fahne nicht verleugneten, standen der Religion innerlich kühl gegenüber. War doch die Form, in der ihnen das Judentum in Gottesdienst und Unterricht entgegentrat, unschön, ja häufig direkt abstoßend, und war ihnen dasselbe niemals in schönerer, veredelterer Form gezeigt worden. Die Rabbiner der alten Richtung waren zwar meistens durch ihren Charakter und ihre talmudische Gelehrsamkeit achtunggebietend, konnten aber infolge ihrer Einseitigkeit keinen Einfluss auf die immer größer werdende Zahl der von der neuen Bildung erfüllten Juden ausüben. In einzelnen Gemeinden traten wohl Männer auf, die sich in geflissentlichem Gegensatze zu den Rabbinern nach christlichem Vorbild Prediger nannten und die sich zur Aufgabe stellten, von der Kanzel aus wie im Jugendunterricht die neuen Ideen zu verbreiten, aber es fehlte ihnen meist die tiefere Kenntnis des alten Judentums, sodass die Vertreter des Herkommens ihnen kein Vertrauen schenkten und in ihnen Zerstörer des Glaubens erblickten. So standen sich in unversöhnlichem Gegensatze zwei Weltanschauungen gegenüber, zwischen denen — so glaubte man — eine Brücke sich niemals schlagen lasse: hier altes Judentum, hier Bildung; hier Rabbiner, hier Prediger.

Es war also zugleich ein Kulturkampf und ein Kampf ums Recht, den das damalige Judentum zu führen hatte, und in diesem doppelten Kampfe drohte es zerrieben zu werden. Da traten ziemlich gleichzeitig eine Reihe von Männern auf, die in richtiger Erkenntnis der Gefahren eines solchen Zustandes eine Verbindung von Judentum und moderner Kultur anstrebten. Auf verschiedenen, ja oft entgegengesetzten Wegen suchten sie dieses gemeinsame Ziel zu erreichen, und ihrer Tätigkeit verdanken die noch heute erkennbaren drei Hauptrichtungen im religiösen Leben der deutschen Juden ihre Begründung: es waren, um nur die drei Bedeutsamsten zu nennen, Zacharias Frankel, Samson Raphael Hirsch und Abraham Geiger.

Abraham Geiger wurde durch seinen Vater, Rabbi Michael Lazarus Geiger, und seinen älteren Bruder Salomo schon von frühester Jugend an in die hebräische Sprache und in das Studium der Bibel wie des Talmuds eingeführt. Wie bei den meisten Mitgliedern der Frankfurter Gemeinde herrschte auch in Geigers Elternhaus die strengste Orthodoxie, jedoch gepaart mit Bildungsstreben, sodass der durch seine Begabung schon früh auffallende Knabe von seinem 12. Jahre an auf Kosten der Herren von Rothschild auch Unterricht im Deutschen, Lateinischen und Griechischen erhielt. Trotz bald erwachender Zweifel an manchen Anschauungen des überlieferten Judentums entschloss er sich, Rabbiner zu werden, und bezog darum 1829 die Universität Heidelberg, wo er klassische und orientalische Sprachen sowie Philosophie studierte. Nach einem Semester ging er nach Bonn, wo er neben den begonnenen Studien sich auch wieder mehr mit dem Talmud beschäftigte und in freundschaftliche Beziehungen zu Samson Raphael Hirsch trat, der sich dort ebenfalls für den rabbinischen Beruf vorbereitete und später als Wortführer der Orthodoxie sein Antipode in religiösen Anschauungen werden sollte. Schon damals reiften in Geiger die Gedanken, die später für seine Wirksamkeit maßgebend wurden. So schreibt er als Zwanzigjähriger am 22. August 1830 in sein Tagebuch:*) „Es ist traurig, wie die jetzige Jugend gott- und sittenlos in bloßem Sinnenrausche dahinlebt, und vorzüglich an solchen Orten, wo die Liebe zu den Wissenschaften nicht Wurzel fasst. Kein Religionsunterricht, keine guten Beispiele, bloß Verspottung alles Guten und vollkommene Ignoranz. Dürften wir nur von freudiger Hoffnung beseelt auf Israels jetzige und künftige Lehrer hoffen; aber bei diesen findet sich bald strenges Halten am Buchstaben, bald der Gedanke an eine gute Versorgung, bald die bilderstürmerische Wut, die das Gemüt leer und den Verstand unaufgeklärt lässt. ... Wenn doch einst ein jüdisches Seminar an einer Universität errichtet würde, wo Exegese, Homiletik und für jetzt noch Talmud und jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste vorgetragen würde; es wäre die fruchtbarste und belehrendste Anstalt!“

Als 22jähriger Student errang Geiger 1832 den Preis der philosophischen Fakultät an der Bonner Universität mit seiner Arbeit „Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen?“, die dann 1833 in Bonn erschien und seinen Namen in der Wissenschaft bekannt machte. Noch bevor er seine Universitätsstudien äußerlich abgeschlossen hatte, trat er seine Stelle als Rabbiner der Gemeinde Wiesbaden an, in der er 1832 — 38 verblieb. Dort wirkte er erfolgreich für Veredelung des Gottesdienstes durch regelmäßige Predigten wie für Erziehung der Jugend durch einen zeitgemäßen Religionsunterricht. Zugleich gab er seit 1835 eine „Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie“ heraus, in der er für eine fortschrittliche Ausgestaltung aller Institutionen des Judentums wie für eine wissenschaftliche Darstellung seines Gedankengehalts mit Geist und Wärme eintrat. Durch diese Zeitschrift, die die erste ihrer Art war, und die er zum großen Teil allein schrieb, begründete er sein noch heute lesens- und beherzigenswert sind, und von denen nur Ansehen in den Kreisen der aufgeklärten Juden, während er andererseits mit den Starrgläubigen notwendig in einen immer schärferen Gegensatz geriet, vor allem mit seinem früheren Freunde Hirsch, der trotz hoher Begabung und ernsten Strebens sich immer mehr in eine mystisch-fanatische Richtung verbohrte, und dessen Schriften „Neunzehn Briefe über Judentum“ und „Versuche über Jissroels Pflichten in der Zerstreuung“ Geiger einer unerbittlichen Kritik unterzog . In einer Reihe von ausgezeichnet geschriebenen Artikeln, die ein Teil Aufnahme in seine Nachgelassenen Schriften gefunden hat, legt er die traurige äußere und innere Lage des damaligen Judentums klar und kämpft darin mit ebenso wohltuender Schärfe gegen den geistlosen verknöcherten Formglauben wie gegen die seichte Aufklärung der „flachen Rationahsten“, die das Judentum zu einer bloßen Idee verflüchtigen wollten. Überhaupt hat Geiger im Gegensätze zu vielen damaligen Wortführern des religiösen Fortschritts das Judentum niemals mit irgend einer gerade herrschenden Modephilosophie in Verbindung zu bringen gesucht. Ebensowenig hat er auch die oft sehr äußerlichen Nötigungen des Lebens als entscheidenden Maßstab für die religiöse Erneuerung betrachtet. Denn, wenngleich er klarer als irgend einer erkannte, dass die völlig veränderten Verhältnisse tiefgreifende Änderungen in Synagoge, Schule und Haus erforderten, verfolgte er doch mit seinen Reformen einen unendlich höheren Zweck, als etwa bloß den Bekennern des Judentums das religiöse Leben möglichst bequem zu machen. Diese bei vielen Reformern vorherrschende Tendenz, die eine auffallende Ähnlichkeit mit der von Paulus zur Bekehrung der Heiden verkündeten Lehre von der Abschaffung des Gesetzes zeigte, lag Geigers innerstem Wesen fern. Wollte er doch nicht ein Flickwerk von Reformen, die nach Geschmack oder Bedürfnis eines bestimmten Kreises oder einer bestimmten Zeit erfolgten, sondern eine Reformation des ganzen Judentums, d. h. eine Neugestaltung, die es zu einer geistigen und sittlichen Macht in der Gegenwart erheben sollte, an Stelle der Deformation, der Verunstaltung, die es durch das Elend der Jahrhunderte schon so lange aufwies. Die Richtlinien für diese Neugestaltung des Judentums in der Gegenwart sucht er aus seiner Geschichte zu holen. Auf Grund seiner tiefen Forschungen konstruiert er sich ein ideales Bild des Judentums, wie es seinem geistigen Auge vorschwebt, wie es freilich niemals existiert hatte und auch niemals existieren kann. Durch kritische Analyse der Hauptquellen der jüdischen Religion, der Bibel und des Talmuds, will er das eigentliche Wesen des Judentums ergründen, will aufzeigen, wie zu verschiedenen Zeiten und in verschiedener Umgebung seine Form sich organisch verändert hat, und wie darum auch die Gegenwart sowohl das Recht wie die Pflicht hat, das Judentum in seiner äußeren Gestalt weiter zu entwickeln. So fruchtbar diese Anwendung der historischen Kritik auf das Judentum in wissenschaftlicher Beziehung war, muss doch anerkannt werden, dass sie in praktischer Beziehung zu manchen Fehlschlüssen führte. Denn so wenig die Anatomie allein imstande ist, die physiologischen Vorgänge im menschlichen Körper zu erklären, so wenig reicht eine kritische Analyse aller geschichtlichen Quellen zum Verständnis der Existenzbedingungen eines lebenden Volksorganismus aus. Geiger übersah oder unterschätzte zum mindesten die im Judentum liegenden Lebenskräfte, deren Summe man als die Volkspsyche bezeichnen kann, die nicht aus einer geschichtlichen Überlieferung, sondern aus der Seele der lebenden Träger des jüdischen Gedankens herauszulesen und als Imponderabilien mit in Rechnung zu ziehen sind. In dieser Beziehung ist Geiger gewissermaßen mit Döllinger zu vergleichen, der mit „der erdrückenden Wucht geschichtlicher Tatsachen das stolze Gebäude des Papsttums zu stürzen unternahm, jedoch in der Welt der Tatsachen nicht das erreichte, was er bei seiner überragenden geistigen und seelischen Größe zu verheißen schien. So sind auch manche theoretisch anscheinend unanfechtbaren Reformpläne Geigers an der rauen Wirklichkeit gescheitert; doch bleibt ihm das Verdienst ungeschmälert, eine wissenschaftliche Erkenntnis des Judentums angebahnt zu haben. Dadurch, dass ihm die Geschichte im Mittelpunkt des Interesses stand, konnte er als erster die Sekten des Judentums in ihrem tieferen Wesen verstehen und darstellen, konnte er nicht nur die eigentliche Differenz zwischen Pharisäern und Sadduzäern entdecken, sondern auch das Entstehen des Christentums erklären, konnte er die Eigenart der Karäer und Samaritaner schärfer erkennen und endlich auch die Beziehungen zwischen Judentum und Islam, wie schon seine Erstlingsschrift zeigt, in größerem Umfange aufdecken.

Doch auch noch nach einer anderen Richtung hin hat Geiger durch sein Betonen der Geschichte nachhaltig gewirkt. Als Historiker ist ihm eine genaue Kenntnis und methodische Erforschung der Urkunden des Judentums, vor allem der Bibel und des Talmuds, die unerlässliche Vorbedingung für eine ersprießliche Tätigkeit des Rabbiners. Darum will er auch den vielgeschmähten Namen des Rabbiners wieder zu Ehren bringen, und indem er auch von den modernen Trägern des Judentums eine tiefe Vertrautheit mit seinen Geistesschätzen verlangt, will er den verhängnisvollen Dualismus von Prediger und Rabbiner aus der Welt schaffen und in einer höheren Einheit verbinden. Eben darum erscheint ihm die Gründung einer Bildungsanstalt für moderne Rabbiner als erste Forderung der Zeit. Sein Wunsch, dieselbe als jüdisch-theologische Fakultät einer deutschen Universität angegliedert zu sehen, ist zwar — vielleicht zum Glück für eine freie Wissenschaft des Judentums — nicht in Erfüllung gegangen, doch verdankt seiner Anregung das später in Breslau gegründete erste deutsche Rabbinerseminar seine Entstehung.

Geben wir für eine Weile Geiger selbst das Wort, um zu verstehen, wie er sich eine Weiterbildung des Judentums auf geschichtlicher Grundlage vorstellte:**) „Diese Betrachtungsweise der Geschichte lehrt, wie nicht im gewaltsamen, rücksichtslosen Abschneiden aller aus der Vergangenheit uns gewordenen Überlieferung das Heil liege, sondern im sorgsamen Aufsuchen ihrer tieferen Sprüche und in dem Bestreben,. das, was geschichtlich sich gebildet, auch nun, da wir Organ der Geschichte geworden sind, geschichtlich fortzubilden, hier hemmend, dort fördernd, hier dem Rade der Zeit folgend, dort eingreifend in seinen Umschwung und mit starker Hand ihn beschleunigend. Dies ist die Geschichte in ihrem erhaltenden Streben.“

„Die***) neueste Zeit hat noch ein neues Moment in die Waagschale des übereilten, allen Glauben erschütternden Zerstörens gelegt, es ist das edle Streben nach bürgerlicher Gleichberechtigung. Sie soll und muss erkämpft werden, aber nicht mit der Gefahr der religiösen Selbständigkeit; wollt ihr dieses, so wäre ja das leichteste Mittel gefunden. Da fürchtet man sich nun, ein Wörtlein zu sprechen, das dem oder jenem Christen missfallen könnte, da möchte man gern aus jedem Herzen die Anhänglichkeit an irgend einen Gebrauch, der als gefährlich für dieses Ziel erscheint, herausreißen, da möchte man gern Alles aufgeben, um nur einen Gewinn zu haben. Hierdurch und auch durch die Sucht, aufgeklärt zu scheinen, ist in manchen Kreisen ein Christeln hervorgetreten, das, man weiß nicht, ob mehr lächerlich, ob mehr traurig ist.“

„Wir****) bedürfen der Männer, die da nachweisen, wie allmählich das Judentum zu dem geworden, was es ist, die sich nicht scheuen, gegen den befangenen Glauben mit Gründen darzutun, dass gar Vieles nicht Überlieferung, nicht durch richtige Exegese Eruiertes ist, sondern in der Zeit Entstandenes, was auch die Zeit wieder aufzuheben vermag; wir bedürfen der Männer, die den Anmaßungen unwissender Reformer, wie böswilligem Spotte Andersglaubender entgegenzutreten wissen.“

„Nicht*****) also blindes reformatorisches Treiben, durch welches das Äußere vielleicht aufgestutzt wird, das Innere kalt und leer bleibt, sondern das Bemühen, aus dem Judentum heraus die Judenheit neu und frisch belebt zu gestalten, dünkt mich für den Juden als solchen ehrende Wirksamkeit.“

*) Nachg. Sehr. V, 27.

**) Wiss. Zeitschr. I, 2—3. = Nachg. Schr. I, 448.

***) ibid. I, 9. = Nachg. Schr. I, 453.

****) Wiss. Zeitschr. I, 11. = Nachg. Sehr. I, 455.

*****) Nachg. Schr. I, 306 (in einem Briefe an Zunz, 1831).


Die angeführten Stellen genügen zur Charakterisierung seiner Geistesrichtung und erklären den Sturm, der sich von rechts wie von links gegen ihn erhob. Man fühlte, dass man es hier mit einem schwer zu bekämpfenden Gegner zu tun hatte, erkannte aber noch nicht klar, worin seine Überlegenheit bestand, nämlich in der Verlegung des Kampfplatzes auf das Gebiet der Geschichte, wohin ihm zu folgen nur wenigen gegeben war. Man begnügte sich daher auf der einen Seite, ihn als einen gefährlichen Umstürzler zu brandmarken und auf der anderen Seite, ihn als reaktionär zu verschreien. Wirklich verstanden wurde er nur von wenigen, wie es denn überhaupt das Los der Großen ist, nicht nur von Gegnern, sondern auch von Anhängern gründlich missverstanden zu werden. Und gar bei einer Persönlichkeit wie Geiger, die scheinbar unausgeglichene Gegensätze in sich barg: echte Religiosität und kühne Kritik, scharfen Verstand und weiches Gemüt, tiefe Gelehrsamkeit und freien Blick fürs Leben, pietätvolles Festhalten an der Tradition in seiner Lebensführung und unermüdlicher Kampf für Fortschritte und Reformen im Judentum.

Um besseres Verständnis für seine Anschauungen und Bestrebungen zu wecken, berief Geiger 1837 eine Anzahl von befreundeten oder gleichgesinnten Rabbinern nach Wiesbaden. Diese Rabbinerversammlung verlief zwar ohne greifbares Resultat, hat aber historische Bedeutung als die erste ihrer Art und als Vorläuferin der 1844 — 46 abgehaltenen denkwürdigen Versammlungen.

Im Jahre 1838 wurde Geiger auf die neugeschaffene Stelle eines modern gebildeten Rabbinatsassessors in Breslau berufen. Bis dahin hatte der jeder modernen Bildung entbehrende Rabbiner Salomon A. Tiktin die Gemeinde in allen ihren Institutionen vollkommen auf dem Standpunkt der alten Orthodoxie erhalten, während ein beträchtlicher Teil der Gemeinde schon auf einer hohen Kulturstufe stand und der religiösen Führung ganz entbehrte. Eine erschreckende Indifferenz und Unkenntnis in allen das Judentum betreffenden Fragen war die natürliche Folge, und ohne jedes gegenseitige Verständnis klafften in der Gemeinde die alte und neue Weltanschauung auseinander. Kern Wunder darum, dass die orthodoxe Partei mit allen Mitteln, auch mit Denunziationen bei der Staatsbehörde und mit Verleumdung, die Bestätigung von Geigers Wahl zu hintertreiben suchte. Schließlich erreichte Geiger doch seine Naturalisation — denn als geborener Frankfurter war er damals in Preußen noch Ausländer — und die Bestätigung. Im Januar 1840 trat er sein Amt an, und trotz aller Gegnerschaft der orthodoxen Partei, deren Vorgehen er in mehreren Schriften aktenmäßig darlegte, gelang es ihm in kürzester Zeit, einen geradezu beispiellosen Enthusiasmus bei allen fortschrittsfreundlichen Elementen zu erwecken. Mit einem Male erkannten auch die dem religiösen Gedanken schon ganz entfremdeten Kreise, was ihnen das Judentum auch in der Gegenwart bieten könne, und lauschten mit Entzücken seinen Predigten, die er allsabbatlich in der Storchsynagoge hielt. Es leben noch heute unter der älteren Generation verschiedene Zeugen der hinreißenden Kraft seiner Rede, der alles bezwingenden Glut seiner religiösen Begeisterung, aber auch des wilden ohnmächtigen Hasses, mit dem seine Gegner ihn betrachteten. Es entspannen sich nun lange unerfreuliche Kämpfe in der Gemeinde, die erst 1856 ihr Ende fanden, als Gedalja Tiktin, der Sohn des schon 1843 gestorbenen Salomo Tiktin, neben Geiger zum Rabbiner für die konservativen Gemeindemitglieder gewählt wurde. Die Einzelheiten dieser Kämpfe haben das höchste kulturhistorische Interesse, können aber im Rahmen des heutigen Vortrags nicht berührt werden. Nur das eine sei als besonders charakteristisch hervorgehoben, dass Geiger von Anfang an, auch noch bei Lebzeiten des alten Rabbiners Tiktin, den Anspruch erhob, Rabbiner und nicht bloß Prediger der Gemeinde zu sein und zu heißen. So kam der seit Jahrzehnten bei den gebildeten Juden in Misskredit geratene Name und Stand des Rabbiners wieder zu Ehren, und wurde nicht nur gezeigt, dass das ..., die alte jüdische Gelehrsamkeit, auch in unsere Zeit und Kultur hineinpasse, sondern auch, dass zur religiösen Führung in der Gegenwart nur solche Männer berufen seien, die beide Bildungselemente harmonisch in sich vereinigen. In dieser Beziehung schuldet ihm das gesamte Judentum noch heute Dank, und wenn z. B. schon seit Jahrzehnten auch die orthodoxesten Gemeinden nur noch Rabbiner anstellen, die ihre Universitätsstudien abgeschlossen haben und in ihrer allgemeinen Bildung hinter den christlichen Geistlichen nicht zurückbleiben, und wenn in diesen Gemeinden die einst so bekämpfte Predigt in der Landessprache längst zum ehernen Bestand des Gottesdienstes gehört, so wirkt hier, ihnen unbewusst, Geiger nach.

Auch in einer anderen wichtigen Einrichtung ist Geiger vorbildlich für alle Gemeinden geworden, ich meine durch die Gründung der Breslauer Religionsschule. Wohl hatte schon Ludwig Philippson 1833 eine Religionsschule in Magdeburg gegründet und damit der Erkenntnis Ausdruck gegeben, dass die dringendste Reform in einer zeitgemäßen Umgestaltung des Jugendunterrichts zu leisten sei. Doch hat erst das Beispiel einer so großen Gemeinde wie Breslau aufrüttelnd auf weitere Kreise gewirkt. Die theoretische Begründung seiner Erziehungsideale legte Geiger in mehreren Programmschriften nieder, die auch in seinen Nachgelassenen Schriften (I, 309 ff.) abgedruckt sind. Er spricht sich darin nicht nur über Methode und Ziel des Religionsunterrichts aus, sondern fordert auch, was etwas ganz Neues war, dass neben der biblischen Geschichte auch die ganze jüdische Geschichte der späteren Zeit gelehrt, und so das Judentum als ein durch die Jahrtausende sich weiterbildender und immer verjüngender Organismus gezeigt werde. Mit Recht verlangt Geiger ferner vom Religionsunterricht,*) „dass er das Kind nicht nur zur Religion, sondern auch für die Religionsgesellschaft erziehe“, eine Forderung, die bis heute leider von mancher Seite nicht beachtet wird.

Doch nicht nur in Synagoge und Schule wirkte Geiger für eine Vertiefung und Läuterung des Judentums und für ein besseres Verständnis seines Wesens, sondern er hielt auch besondere Vorlesungen für Erwachsene, namentlich jüdische Theologiestudierende, und gründete zu diesem Zweck einen eigenen „Lehr- und Leseverein“, der neben Unterhaltung einer Bibliothek einzelne Vorträge und Vorlesungskurse über das ganze Gebiet der jüdischen Geschichte und Literatur veranstaltete, also das Urbild der heute in Deutschland existierenden 220 Vereine für jüdische Geschichte und Literatur darstellt. Aus diesen Vorlesungen ging dann auch unter anderem sein wertvolles „Lehr- und Lesebuch zur Sprache der Mischna“ hervor.

Wir sehen also aus all dem, dass Geiger nicht der Zerstörer war, als den seine Feinde ihn hinstellten, sondern, dass er im besten Sinne konservativ d. h. erhaltend wirkte, indem er nach allen Richtungen jüdisches Wissen verbreitete und das neue Geschlecht zu treuem, begeistertem Festhalten am Judentum erzog. So ist es z. B. auch wenig bekannt, dass gerade er die Beseitigung des bis dahin gegen jüdische Schüler geübten Zwanges, am Sonnabend zu schreiben, erwirkt hat, während die meisten orthodoxen Rabbiner seiner Zeit sich damit begnügten, gegen den Besuch der öffentlichen Schulen überhaupt ihre Stimme zu erheben, weil ihnen schon die Aneignung moderner Bildung als halber Abfall erschien.

Der Hauptvorwurf, den Geigers Gegner gegen ihn erhoben und bis auf den heutigen Tag erheben, ja man kann sagen, das einzige, was viele von ihm wissen, das ist sein in Wort und Schrift unermüdlich geführter Kampf gegen den Formglauben und für weitgehende Reformen im Gottesdienste. Sein Kampf gegen den Formglauben wurde von seinen Anklägern meist so hingestellt, als sei er ein Gegner der Formen überhaupt. Hören wir darum, wie er sich selbst zu diesem Punkte äußert:**) „Meine Gegner führen Stellen an, in welchen ich mich gegen „Formglauben“ und „Formenstarrheit“ ausgesprochen und meinen, darauf die Anklage begründen zu können, ich spräche gegen die Formen des Judentums. Nun aber habe ich mich nicht gegen die Formen an sich ausgesprochen, ohne welche ich mir gar keine Religion denken kann, am wenigsten aber das Judentum, in welchem dieselben notwendig sind, sowohl als Träger und Ausflüsse, wie als Bekräftiger des Geistes, sondern bloß gegen deren Verkennung. ... Unter Formglauben verstehe ich die Sinnesweise, nach welcher die Religion lediglich besteht in der Ausübung äußerlicher Formen, ohne dass mit ihnen sich irgend eine Gesinnung verbinde. Unter Formenstarrheit verstehe ich die Zähigkeit des Beharrens bei untergeordneten Einzelheiten einer Zeremonie, welche zu irgend einer Zeit von selbst sich so gemacht haben, zu einer anderen wieder anders sind ... Der Formglaube untergräbt die Sittlichkeit des Volkes, indem dadurch eine völlige Gesinnungslosigkeit Platz greift und man sich mit ganz gleichgültigen Dingen abfindet, das Wesentliche aber vernachlässigt. Die Formenstarrheit entziehet den Formen ihre religiöse und belebende Kraft, ihre Weihe. Beides aber haben Propheten und Rabbiner zu jeder Zeit verworfen und gesagt, eine solche Denkweise und ein solches Verfahren „beflecke“ das Judentum, und in unserer Zeit hielt und halte ich es um so mehr für Pflicht, dieselbe fernzuhalten, damit das religiöse Leben und der positive Gehalt des Judentums nicht schwinde.“

Diese klaren Ausführungen Geigers dürften für jeden genügen, um zu zeigen, wie haltlos der bis heute immer wieder erhobene Vorwurf ist, als sei er gegen die Formen überhaupt gewesen. Ein Mann, der wie er die geschichtlichen Grundlagen des Judentums so genau kannte, der außerdem in seinem Vaterhause die Formen des alten Judentums von edelstem religiösem Inhalt erfüllt gesehen und ihre erhebende Wirkung an sich selbst verspürt hatte, dass er ihnen bis zu seinem Lebensende treu blieb, der konnte unmöglich gegen die Formen an sich sein, vielmehr nur, wie er es selbst sagt, gegen ihre Verkennung, gegen die Meinung, als seien sie allein schon die ganze Religion.

Wir sehen also, dass die eine gegen ihn gerichtete Hauptanklage der tatsächlichen Grundlage entbehrt und einem bedauerlichen Missverständnis, wenn nicht böswilliger Verkennung entspringt. Wie aber steht es mit der anderen Hauptanklage, dass er im Gottesdienste radikale Reformen aufs entschiedenste empfohlen und auch wirklich eingeführt hat? Geiger hat in der Tat nicht nur, was auch viele konservative Rabbiner billigten, die meisten Piutim aus dem Gebetbuch entfernt und an ihre Stelle eine Reihe von deutschen Gebeten gesetzt, sowie die Begleitung des Gottesdienstes durch Chor und Orgel eingeführt, sondern er hat auch zahlreiche Stammgebete, namentlich solche, die sich auf die nationalen Hoffnungen des Judentums beziehen, teils ganz gestrichen, teils abgeändert, und, was wohl die einschneidendste Neuerung war, die zweiten Feiertage zwar nicht direkt abgeschafft, so doch in ihrer gottesdienstlichen Bedeutung eingeschränkt. Diese Reformen, die er auch theoretisch wiederholt begründet hat, entsprachen seiner innersten Überzeugung und machen somit seinem Wahrheitsmut alle Ehre. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass sowohl in Breslau als auch in verschiedenen andern fortschrittsfreundlichen Gemeinden manche dieser Reformen (besonders die Degradierung der zweiten Feiertage) sich nicht behaupten konnten, und dass mit seinem wie mit ähnlichen Gebetbüchern die Erfahrung gemacht wurde, dass eine inhaltliche Korrektur der Gebete, selbst wo sie anfechtbar sind, wie z. B. die Bitte um Wiederherstellung des Tempels mit seinem Opferdienst, sich keinen Eingang in die Herzen der Beter verschafft, während die Indifferenten doch nicht dadurch herangezogen werden. Vor allem aber wird eine solche Reform unwirksam bleiben, wenn sie von einzelnen ausgeht und sich nicht wenigstens auf die Übereinstimmung einer größeren Anzahl der maßgebenden Autoritäten stützt.

Geiger selbst vertrat übrigens am entschiedensten den Standpunkt, dass nur durch das Zusammengehen vieler Rabbiner Fortschritte auf den verschiedenen Gebieten des religiösen Lebens sich erzielen lassen, und so wie er schon in Wiesbaden eine Rabbinerversammlung veranstaltet hatte, so begrüßte er es mit Freuden, als 1844 auf Anregung Philippsons die erste große Versammlung deutscher Rabbiner in Braunschweig zusammentrat. Sowohl dort, wie auf den 1845 in Frankfurt und 1846 in Breslau stattfindenden Versammlungen griff Geiger entscheidend in die Verhandlungen ein und kämpfte nach zwei Fronten: gegen die Starrorthodoxen wie gegen die allzu weit gehenden Reformer, und seinem Einflüsse ist es vor allem zuzuschreiben, dass der Sabbath in seiner vollen und alleinigen Geltung nicht nur damals unangetastet blieb, sondern bis heute in sämtlichen Synagogengemeinden Deutschlands als einziger Tag der Woche gottesdienstlich gefeiert wird. Überhaupt verdient es besonders hervorgehoben zu werden, dass er die Bestrebungen der Berliner Reformgemeinde und ihres ersten Predigers Holdheim missbilligte, dass er ihr Verfahren als „unhistorisch“ kennzeichnete und***) eine zweimalige Berufung dorthin 1846 wie 1860 ablehnte, und zwar mit der Begründung, „dass er erstens den Sabbath nicht abrogiere“ und dann „seine Stellung innerhalb der Gesamtheit auch für sein Privatleben nie aufgeben würde“.

Wenn Geiger, wie wir eben hörten, das Verfahren der Reformgemeinde als „unhistorisch“ bezeichnete, so zeigt sich darin eben wieder wie in seinem Auftreten gegen die verknöcherte Orthodoxie, dass er die Geschichte des Judentums als Wegweiser für die Weiterentwicklung betrachtete und darum ein Fortschreiten im Judentum aber nicht ein Fortschreiten aus dem Judentum als höchstes Ziel erstrebte.

Die oben erwähnten Rabbinerversammlungen trugen fruchtbare Anregungen in alle deutschen Gemeinden, hatten aber unmittelbar keine praktische Wirkung, da das Jahr 1847 mit seinem endlich zustande gekommenen Judengesetz und das Jahr 1848 mit seinen großen politischen Ereignissen kein Interesse für Fragen des Kultus bei den Juden aufkommen ließ. Doch nach einer ganz anderen Richtung hin sollte Geiger einen für das ganze Judentum wichtigen Erfolg erzielen.

Schon in seiner Zeitschrift hatte Geiger die Errichtung einer modernen Bildungsanstalt für Rabbiner gefordert. Auf den Rabbinerversammlungen hatte er die Forderung wiederholt und es erreicht, dass der hochherzige Breslauer Kommerzienrat Jonas Franke! eine bedeutende Summe dafür in seinem Testament bestimmte. 1846 starb Frankel, doch die Testamentsexekutoren wählten nicht, was zweifellos die Absicht des Stifters gewesen war, Geiger zum Direktor, sondern gründeten vielmehr eine auf wesentlich konservativer Grundlage stehende Anstalt unter dem Namen „jüdisch-theologisches Seminar“, zu dessen Leiter Zacharias Frankel, der bisherige Dresdner Rabbiner, ernannt wurde. Es war gewiss eine geschichtliche Notwendigkeit, dass die erste derartige Anstalt in Deutschland einem Manne unterstellt wurde, der zwischen der unentwegten Orthodoxie und der entschiedenen Reform einen vermittelnden Standpunkt einnahm, und es muss auch unbedingt anerkannt werden, dass Frankel durch seine hervorragenden Eigenschaften sich als prädestiniert für die Seminarleitung erwiesen hat. Geiger aber betrachtete ganz abgesehen von der ihm damit widerfahrenen persönlichen Zurücksetzung die Gründung des Seminars unter solchen Voraussetzungen als eine schwere Gefahr für die Entwickelung einer unabhängigen Wissenschaft des Judentums, und wie die Zukunft lehrte, war diese Besorgnis nicht ganz unbegründet, indem bis heute die wissenschaftliche Bibelkritik dort keine Stätte gefunden hat.

Die Gründung des Seminars war geradezu das tragische Moment in Geigers Leben. Im Laufe der Jahre steigerten sich noch die Kränkungen, die ihm aus demselben erwuchsen. Stellten sich doch der Direktor und all die hervorragenden Männer, die er um sich zu scharen verstanden hatte, unter ihnen namentlich Grätz, aufs feindseligste ihm gegenüber und raubten ihm die Freude an seiner Wirksamkeit in Breslau.

Außer seiner vielseitigen amtlichen Tätigkeit leistete Geiger auch auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten Bedeutendes während seiner Breslauer Zeit. Von seinen kleineren Schriften sei hier nur die Monographie über Jehuda Hallevi genannt, die zahlreiche formvollendete Übersetzungen seiner schönsten Gedichte enthält. Die bedeutendste wissenschaftliche Veröffentlichung Geigers sowohl nach Umfang wie nach Inhalt erschien 1857 unter dem Titel „Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judentums“. Dieses mit ebensoviel Gelehrsamkeit wie Scharfsinn gearbeitete 500 Seiten starke Werk, zu dessen bloßem Verständnis schon ungewöhnliche Kenntnisse gehören,****) beschwor einen wahren Sturm im gegnerischen Lager herauf, da Geiger darin voll Freimut das Prinzip der freien Forschung auf Bibel und Talmud anwendet und zu Resultaten gelangt, die ebenso bahnbrechend für die Kritik des Bibeltextes wie für die Religionsgeschichte sind. Die dort gegebene Darstellung des Wesens der Pharisäer und Sadduzäer ist heute Gemeingut der Wissenschaft und hat auch in den Kreisen der christlichen Theologen sich Anerkennung errungen. Von 1862 bis zu seinem Tode gab dann Geiger auch wieder eine „Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben“ heraus, die aber trotz einzelner wertvoller Artikel nicht die Frische und Unmittelbarkeit seiner früheren Zeitschrift zeigt.

Die mit der Gründung des Seminars verbundenen schmerzlichen Erfahrungen waren wohl die Hauptursache, dass Geiger 1863 eine Berufung nach seiner Vaterstadt Frankfurt annahm, trotzdem die Breslauer Gemeinde alle Opfer brachte, um ihn zu halten. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass er nunmehr an einem Orte mit Samson Raphael Hirsch wirkte, der inzwischen längst der Führer der ganzen Orthodoxie geworden war und jede Reform auf das leidenschaftlichste bekämpfte, mit dem er indes in keinerlei äußere Berührung kam. Geiger blieb in Frankfurt bis 1870 und nahm von dort aus an der Kasseler Rabbinerversammlung 1868 und an der Leipziger Synode 1869 teil, die indes beide resultatlos verliefen. Besonders wichtig aus dieser Periode sind außer einer Schrift über Salomo Gabirol seine Vorlesungen über „das Judentum und seine Geschichte“ in drei Bänden, von denen der letzte freilich erst seiner Berliner Zeit angehört. Diese 1910 in Neuauflage erschienenen Vorlesungen wurden vor einem Laienpublikum gehalten, sind aber trotz ihrer gemeinverständlichen Form von selbständigem wissenschaftlichem Werte und geben ein überaus anregendes Bild von der Entwicklung des Judentums bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Er behandelt darin auch in drei Vorlesungen die Entstehung und Verbreitung des Christentums, dem gegenüber er die fortdauernde Berechtigung des Judentums auch in Gegenwart und Zukunft nachdrücklich betont. In einem besonderen Anhang setzt er sich mit David Friedrich Strauß und Renan auseinander. Die freimütige Kritik, die Geiger dort am Christentum und seinen bekanntesten wissenschaftlichen Darstellungen übt, führte zu einer interessanten Polemik mit Heinrich Holtzmann und Franz Delitzsch, in der der aufrechte Charakter und die jüdische Gesinnung Geigers uns ebenso leuchtend entgegentreten wie seine überlegene Gelehrsamkeit.

Im ganzen bot die Frankfurter Zeit Geiger wenig Befriedigung. So folgte er denn 1870 freudig einem Rufe als Rabbiner der Gemeinde Berlin. Hier schien sich ihm endlich der richtige Wirkungskreis zu bieten, zumal an der 1872 neu gegründeten „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, wo er die langersehnte Gelegenheit zu einer wissenschaftlichen Lehrtätigkeit fand. Im gleichen Jahre nahm er auch an der Augsburger Synode teil, die wichtige Beschlüsse fasste, welche allerdings bis heute in keiner Gemeinde Aufnahme fanden. Die an seine Berufung nach Berlin von vielen Seiten geknüpften Hoffnungen für die Belebung des jüdischen Geistes und den Ausbau der jüdischen Wissenschaft wurden jäh zerstört durch seinen am 22. Oktober 1874 erfolgten unerwarteten Heimgang.

Geigers Tod blieb ein für das fortschrittliche Judentum wie für die jüdische Wissenschaft bis heute unersetzlicher Verlust. Seine Nachgelassenen Schriften, darunter auch die an der Hochschule gehaltenen Vorlesungen, sind von seinem Sohne Ludwig, seine hebräischen Schriften von seinem Frankfurter Freund Raph. Kirchheim herausgegeben worden. Der V. Band, der Geigers Briefe enthält, lässt uns auch einen tiefen Blick in die schönen rein menschlichen Seiten seines Wesens tun und bringt ihn ebenso als Rabbiner und als Gelehrten wie als Familienvater und Freund unserm Herzen näher.

Geiger war zweifellos die geistig bedeutendste Persönlichkeit unter den deutschen Rabbinern des XIX. Jahrhunderts: seine durch unablässige, eindringende Forschung immer mehr vertiefte Kenntnis des Judentums in all seinen geschichtlichen und literarischen Erscheinungsformen, sein scharfer Blick und seine glänzende Darstellungsgabe stehen unerreicht da und hätten ihn, wenn er seine Lebensarbeit ausschließlich der Wissenschaft geweiht hätte, zu den höchsten Leistungen befähigt. Sein Jugendfreund Josef Dernburg aus Mainz (ein Verwandter des gleichnamigen Staatssekretärs), der nicht entfernt die Begabung Geigers besaß, widmete sich dem Studium der orientalischen Sprachen. Da er aber als Jude in Deutschland keine Aussicht auf Anstellung hatte, wanderte er nach Paris aus, wo er Professor des Arabischen und Neuhebräischen und Mitglied der Akademie wurde. Solche Ehren wurden freilich Geiger nicht zuteil. Aber während Dernburgs Name nur in den Kreisen der engsten Fachgenossen fortlebt, hat Geiger einen höheren und schönern Lorbeer errungen, den Ruhm, seine Gemeinschaft auf eine höhere Stufe geführt zu haben, sie innerlich gehoben und veredelt wie nach außen zu höherem Ansehen gebracht zu haben.

Merkwürdigerweise wurde Geiger schon bei Lebzeiten außerhalb Deutschlands vielfach besser verstanden und gewürdigt selbst in Kreisen, die seine Anschauungen nicht teilten-, als in seinem Vaterlande. Seine große Liebe zum Judentum, seine tiefe Kenntnis der Bibel und des Talmuds wie vor allem seine innige Vertrautheit mit der hebräischen Sprache, die sich auch in seinem hervorragend schönen hebräischen Stil zeigt, fanden in den Ländern des Ostens, in Russland und Galizien, wo das jüdische Wissen noch zu Hause ist, viel enthusiastische Bewunderer. Auch der bedeutendste jüdische Gelehrte Italiens, Samuel David Luzzatto, der ein strenggläubiger Jude vom alten Schlage war und den religiösen Standpunkt Geigers durchaus missbilligte, blickte doch verehrungsvoll zu seiner Gelehrsamkeit auf und blieb bis zu seinem Lebensende nicht nur in regem Briefwechsel sondern auch in aufrichtiger Freundschaft mit ihm verbunden. Auch der hervorragendste und gelehrteste Gesinnungsgenosse, den Geiger während seines ganzen Lebens fand, war nicht etwa ein Deutscher, sondern der ungarische Rabbiner Leopold Löw. Dass Geiger in Deutschland so viele Gegner hatte, das lag in seinem unbeugsamen, scharf ausgeprägten Charakter begründet, der nach keiner Richtung hin Konzessionen machte, weder den Mächten der Gewohnheit, noch den Mächten der Mode. Er spricht es einmal selbst treffend aus:*****) „Den Orthodoxen und Konservativen ein Stein des Anstoßes, den schleichend Fortschreitenden zu stürmisch, denen, welche den geschichtlichen Entwicklungsgang ganz überspringen wollen, zu vorsichtig, den Männern des praktischen Lebens zu sehr mit literarhistorischen Studien beschäftigt, den Literarhistorikern zu tendenziös, d. h. zu wenig gleichgültig gegen die in der Geschichte sich fortbildende Idee — so war ich von allen angegriffen, mit misstrauischem Auge betrachtet, und mir, der ich ein volles Herz zu Studium wie Leben brachte, tat es nicht selten weh, dass nirgends ein Wort echten Wohlwollens, begeisternder Ermunterung sich hören lassen wollte.“

Nach diesen Worten Geigers werden wir leicht verstehen, wieso er bei Lebzeiten nur einen verhältnismäßig kleinen Kreis von verständnisvollen Anhängern um sich scharte. Doch auch heute, nach einem Menschenalter fehlt es an Männern sowohl im Amte wie in der Wissenschaft, die das Recht haben, sich die wahren Erben seines Geistes zu nennen. Wie könnte es auch anders sein! Während es Geiger nur in den letzten beiden Jahren seines Lebens vergönnt war, an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums sich der Heranbildung von Rabbinern zu widmen, konnte Frankel, der Mann der Vermittlung, in zwanzigjähriger fruchtbarer Tätigkeit am Breslauer Seminar eine beträchtliche Anzahl von Rabbinern ausbilden, die in den meisten größeren Gemeinden erfolgreich wirkten und zum Teil noch wirken, und damit einem großen Teil des deutschen Judentums den Stempel seines Geistes aufdrücken.

Doch noch andere tiefer liegende Gründe haben mitgewirkt, um das Durchdringen von Geigers Richtung zu erschweren und fast unmöglich zu machen. Die fast gleichzeitig erfolgte Einigung des Deutschen Reiches und Vollendung der Judenemanzipation drängte das Interesse für alles Jüdische gerade bei den Intelligenteren völlig in den Hintergrund. Dazu kam, dass der religiöse Gedanke überhaupt in ganz Deutschland durch den herrschenden Liberalismus geschwächt war, was sich im Judentum am stärksten fühlbar machte. Als dann der Antisemitismus einsetzte und die eben erworbene Gleichberechtigung in Frage stellte, da konzentrierten die Juden ihre Kraft auf die Abwehr, und wenngleich die Stoßkraft dieses unerwarteten Angriffs eine aufrüttelnde Macht auf die Indifferenten ausübte, konnte die fortschrittliche Richtung keine rechten Erfolge erzielen, da man nach außen hin als geschlossene Einheit auftreten und daher alle inneren Streitigkeiten vermeiden wollte. Auch der sich immer stärker bemerkbar machende Zug nach rechts in Staat und Kirche wirkte im Judentum hemmend und lähmend auf den religiösen Fortschritt. Endlich ist noch ein Punkt von nicht zu unterschätzender Bedeutung anzuführen. Die große Not der Juden des Ostens stellte das gesamte Judentum vor ganz neue Probleme, an die Geiger noch gar nicht denken konnte. Die treibende Kraft im heutigen Judentum liegt zweifellos im sozialen Moment und ist besonders, wenn auch durchaus nicht allein, im Zionismus verkörpert, der die religiöse Frage aus seinem Programm ganz ausgeschaltet hat.

Alle diese Momente kamen zusammen und brachten es mit sich, dass die großen Gedanken, denen Geigers Lebensarbeit galt, noch keine volle Verkörperung finden konnten. Ein von der Wissenschaft befruchtetes und von wirklich religiösem Inhalt erfülltes positives Judentum müssen wir heute noch für ein Ideal der Zukunft halten. Doch schon mehren sich die Zeichen, dass die leeren Herzen der modernen Juden von einer tiefen religiösen Sehnsucht erfasst werden, und wem es gelingen soll, den großen Moment wahrzunehmen und diese Sehnsucht zu stillen, der wird, ohne sich mit allen Anschauungen Geigers zu identifizieren, doch an seine Ideen anknüpfen müssen, der wird gleich ihm aus dem tiefen Schacht des Judentums die Schätze des Geistes und Gemütes herausschürfen, die unserer Generation verloren gegangen sind, der wird die alte Fahne des Judentums wieder stolz wehen lassen in der Luft der Wahrheit und der Freiheit, und ein spätes Geschlecht wird dankbar nennen den einst so geschmähten Namen Abraham Geiger.

*) Nachg. Schr. II, 31.

**) Nachg. Schr. I, 14—15.

***) Nachg. Schr. V, 246—247.

****) S. den unten S. 77 ff. abgedruckten Aufsatz aus dem Geiger-Gedenkbuch, der eine Analyse und Würdigung des Werkes enthält.

*****) Nachg. Schr. V, 224.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen