Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums

Die vorliegende Festschrift ist eine Leidensgeschichte, und zwar nicht nur der Anstalt, der sie zunächst gilt, sondern zugleich auch der ganzen Wissenschaft, die dort gepflegt wird. Die Wissenschaft des Judentums — oder, wie der Ausdruck korrekter lauten müsste, die Wissenschaft vom Judentum — will die Sprache, die Geschichte, die Literatur und die Lehre des Judentums vom Altertum bis zur Gegenwart mit den Methoden moderner Forschung behandeln und zur Darstellung bringen. Als ihr eigentlicher Schöpfer ist Leopold Zunz zu betrachten, der mit seinem 1832 erschienenen klassischen Werke „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden“ zum erstenmal ein wichtiges und umfangreiches Gebiet der nachbiblischen Religions- und Literaturgeschichte kritisch bearbeitete und damit gleichzeitig den Weg für künftige Arbeiten wies. Da in Deutschland keine Anstalt existierte, an der ähnliche Studien gepflegt wurden, erhob schon 1836 Abraham Geiger den Ruf nach Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät. Dieser Ruf verhallte indessen ebenso wirkungslos wie die 1848 von Zunz in einem Schreiben an das preußische Ministerium erhobene Bitte um Errichtung einer ordentlichen Professur für jüdische Literatur und Geschichte an der philosophischen Fakultät der Berliner Universität. Erst 1854 konnte in Breslau ein „jüdisch-theologisches Seminar“ eröffnet werden mit Zacharias Frankel als Direktor, Heinrich Grätz, Jakob Bernays, Manuel Joel als Dozenten. Trotz dieser hervorragenden Lehrkräfte, die bald eine ansehnliche Zahl wissenschaftlich tüchtiger, teilweise bedeutender Schüler ausbildeten, war die Anstalt durch ihren theologischen Charakter verhindert, reine Wissenschaft zu pflegen, und musste als ihr Hauptziel die Heranbildung praktischer Rabbiner betrachten. Da wurde endlich 1872 in Berlin die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ errichtet und Abraham Geiger wenn auch nicht als Direktor so doch als geistigem Leiter unterstellt. Leider war jedoch die Anstalt vom ersten Augenblick an vom Missgeschick verfolgt und erfüllte keine der Hoffnungen, die man auf sie gesetzt hatte. Die deutschen Juden, die 1869 ihre völlige Emanzipation errungen und an der Einigung des Reiches begeistert Anteil genommen hatten, zeigten eine bedauerliche Verständnislosigkeit gegenüber ihrer eigenen Wissenschaft. Sie waren so erfüllt von der großen Gegenwart, in der sie lebten, und der noch größeren Zukunft, der sie entgegengingen, dass ihnen ihre Vergangenheit dagegen wert- und glanzlos erschien. Sie verstanden nicht, dass ihre Existenzberechtigung im Staate als gleichberechtigte Bürger durch nichts besser erwiesen werden könne, als durch eine wissenschaftliche Darstellung dessen, was sie früher waren, und was sie bisher für die Kultur geleistet hatten. Die Reichen unter ihnen verschlossen mit wenigen rühmlichen Ausnahmen ihre sonst so freigebige Hand, und die Intelligenten unter ihnen interessierten sich für alles mehr als für die eigenen geistigen Güter, die ihnen schon ganz fremdgeworden waren. Statt ihren Stolz darin zu suchen, gleich ihren Vorfahren etwas zur allgemeinen Kultur beizutragen, was sie und nur sie leisten könnten, zerschnitten sie jedes Band mit ihrer Vergangenheit. So verkümmerte auch die Lehranstalt durch den Mangel an materieller und moralischer Unterstützung, fand nicht einmal ein eigenes Haus und erlitt 1874 durch den Tod Geigers den schwersten Schlag. Der Not der Verhältnisse gehorchend musste sie, gleich der Breslauer Anstalt, zu einem bloßen Rabbinerseminar sich entwickeln, und auch der Glanz, den ihr der Name Steinthals als Dozent gab, konnte nicht den Niedergang aufhalten. Die einzelnen Stadien dieser unerfreulichen Entwicklung hat Elbogen anschaulich geschildert und damit einen wertvollen Beitrag zur Kulturgeschichte der deutschen Juden im letzten Menschenalter geliefert.

*) Deutsche Literaturzeitung 1909 Nr. 2 Sp. 84 ff.


Als mit dem Ende der 70er Jahre der Antisemitismus erstarkte und oft mit Hilfe von unerhörten Geschichtslügen das schwärzeste Bild von der jüdischen Vergangenheit entwarf, um damit den Kampf gegen das moderne Judentum zu rechtfertigen, besannen sich viele Juden auf ihre Vergangenheit. Aber das neu erwachte Interesse für Geschichte und Literatur des Judentums kam auch nicht unserer Anstalt zugute, sondern führte zur Gründung der zahlreichen „Vereine für jüdische Geschichte und Literatur“, die zwar weitere Kreise aufrüttelten, aber im ganzen doch mehr apologetischen Zwecken dienten und auch mehr verflachend als den geschichtlichen Sinn fördernd wirkten. Erst in den allerletzten Jahren ist man daran gegangen, eine „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ zu gründen. Diese hat zwar bisher auch überwiegend apologetische Werke veröffentlicht,**) hat aber zweifellos den Anstoß gegeben, sich ernster mit der jüdischen Wissenschaft zu beschäftigen, und hat indirekt dazu beigetragen, dass die „Lehranstalt f. d. Wiss. d. Jud.“ in den Stand gesetzt wurde, ein eigenes Heim zu beziehen. So erfreulich diese Besserung an sich ist, kann sie nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Lehranstalt noch lange nicht in der Lage ist, ihre Aufgabe ganz zu erfüllen. Die vier***) Dozenten, aus denen ihr Lehrkörper zurzeit besteht, sind unmöglich imstande, die ganze Wissenschaft des Judentums zu lehren und fortzuentwickeln, ganz abgesehen davon, dass die ungenügende Besoldung dieselben zwingt, zeit- und kraftraubende Nebenämter zu übernehmen. Aber selbst wenn in dieser Beziehung mit der Zeit Wandel eintreten wird, kann die Wirksamkeit der Lehranstalt immer nur eine beschränkte bleiben. Erst die Erfüllung der von Z u n z vor zwei Menschenaltern gestellten Forderung, die Wissenschaft vom Judentum in den Lehrbetrieb der deutschen Universitäten aufzunehmen, kann die genügende Anzahl von unabhängigen und tüchtigen Mitarbeitern schaffen und von keinerlei Tendenzen beeinflusste, auf der Höhe stehende Leistungen erzielen. Aus welchen Gründen die Universitäten in Deutschland — im Gegensatz zu England, Frankreich und Amerika — sich dieser Forderung verschließen, und wie die orientalische Philologie nicht minder wie die Altertumswissenschaft, die Religions- und Literaturgeschichte reichen Ertrag daraus ziehen würden, ist vom Referenten vor kurzem an anderer Stelle**) ausführlich behandelt worden.

*) Trifft erfreulicherweise auf die seitdem erschienenen Veröffentlichungen nicht mehr zu.

**) Die Wissenschaft vom Judentum an den deutschen Universitäten (Königsberger Hartungsche Zeitung, 1908, Nr. 277) s. oben S. 60 ff.

***) Jetzt (1920) fünf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Skizzen