Jüdische Renaissance

Aus: Die jüdische Bewegung. Erste Folge 1900-1914
Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph und Bibelübersetzer, Erscheinungsjahr: 1900
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze,
Wir leben in einer Zeit, die eine Epoche der Kulturkeime*) einzuleiten scheint. Wir sehen die nationalen Gruppen sich um neue Fahnen scharen. Es ist nicht mehr der elementare Selbsterhaltungstrieb, der sie bewegt; nicht die äußere Abwehr feindlichen Völkeransturms ist der Grundzug dieser Erscheinung. Nicht der Besitzdrang und die territoriale Expansionskraft der Nationen will sich nun ausleben, sondern ihre individuelle Nuance. Es ist eine Selbstbesinnung der Völkerseelen. Man will die unbewusste Entwicklung der nationalen Psyche bewusst machen; man will die spezifischen Eigenschaften eines Blutstammes gleichsam verdichten und schöpferisch verwerten; man will die Volksinstinkte dadurch produktiver machen, dass man ihre Art verkündet. Goethes Traum einer Weltliteratur nimmt neue Formen an: nur wenn jedes Volk aus seinem Wesen heraus spricht, mehrt es den gemeinsamen Schatz.

*) „Die Frage, ob diese oder jene Zeit Kultur habe, darf niemals bedingungslos verneint werden. Doch gibt es Zeiten der Kulturreife und Zeiten der Kulturkeime. Die ersten tragen ein fest ausgebildetes Gepräge, das oft schon die starren Formen annimmt, welche den nahen Tod verkünden; das zu Lebenserhöhung Erzeugte dient nun der Aufhebung des Lebens. Die andern sind von überströmendem Feuer erfüllt, das in Kampf und Sehnsucht wogt und alle Formen sprengt; die Harmonisierung bereitet sich erst vor, noch glüht und webt die hohe Fruchtbarkeit der Gegensätze. Aber Ernteland und Ackerland begegnen sich in der Zeit; und überall sehen wir jene Epochen der Gärung und des Überganges, zu denen auch unsere gehört. ,Die alten Stämme des Waldes zerbrachen, aber immer wuchs ein neuer Wald wieder: zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.'
In dem Wirrwarr unserer Tage kündigt sich eine Epoche der Kulturkeime immer stärker und farbenreicher an. Unter uns sind Menschen erstanden, die zur Zeit, da die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt ist und neues Leben aus der Erde bricht, den Geist und das lebendige Feuer verkünden und der werdenden Zukunft den Weg bereiten. In ihrem Werk offenbaren sich uns neue Kräfte, neue Arten zu sehen und zu schaffen, neue Geburten, neue Entwicklungen."
(Aus einem Aufsatz „Kultur und Zivilisation" [„Kunetwart", 1. Maiheft I901])


So sehen wir in der tiefen Einheit des Werdens allgemeine und nationale Kultur verschmelzen. Was den besten Geistern unserer Zeit vorleuchtet, ist ein von Schönheit und gütiger Kraft durchtränktes Menschheitsleben, in dem jeder Einzelne und jedes Volk mitschafft und mitgenießt, ein jedes in seiner Art und nach seinem Werte.

Jener Teil des jüdischen Stammes, der sich als jüdisches Volk fühlt, ist in diese neue Entwicklung hineingestellt und wird von ihr durchglüht wie die anderen Gruppen. Aber seine nationale Teilnahme an ihr hat einen ganz eigenen Charakter: den der Muskelanspannung, des Aufschauens, der Erhebung. Das Wort „Auferstehung" drängt sich auf die Lippen: ein Erwachen, das ein Wunder ist. Freilich, die Geschichte will keine Wunder kennen. Doch sie kennt Ströme des Volkslebens, die zu versiegen scheinen, aber unter der Erde weiterfließen, um nach Jahrtausenden hervorzubrechen; und sie kennt Samenkörner des Volkstums, die sich Jahrtausendelang in dumpfen Königsgräbern ihre Keimkraft bewahren. Dem jüdischen Volke steht eine Auferstehung von halbem Leben zu ganzem bevor. Darum dürfen wir seine Teilnahme an der modernen nationalinternationalen Kulturbewegung eine Renaissance nennen.

Es scheint zum Wesen der Schlagworte zu gehören, dass sie missverstanden werden. Das kommt wohl daher, dass sie immer nur einer Seite des Geschehens abgelauscht werden, was gleichsam die Rache der anderen Seiten herausfordert. So ging es auch der „jüdischen Renaissance".

Wenn man von Renaissance spricht, denkt man zunächst an die große Zeit des Quattrocento. Auch diese hat man eine Zeitlang missverstanden: man hat sie als Rückkehr zu den Denk- und Sprach

formen des Altertums, als Erneuerung des klassischen Lebensstils aufgefasst. Aber als man tiefer in ihre Geschichte eindrang, erkannte man, dass Renaissance nicht Rückkehr, sondern Wiedergeburt bedeutet: eine Wiedergeburt, eine Erneuerung des ganzen Menschen, den Weg aus der dialektischen Enge der Scholastik zu einer weiten seelenvollen Naturanschauung, aus mittelalterlicher Askese zu warmem, flutendem Lebensgefühl, aus dem Zwange engsinniger Gemeinschaften zur Freiheit der Persönlichkeit. Das Geheimnis des Neuen, der reiche Sinn des Entdeckers, das freie Leben der Wagnisse und der überströmenden Schaffenslust beherrschen diese Zeit, und die Zeitpsyche ist es, die (wie Dilthey in seiner schönen Analyse jener Epoche gezeigt hat) aus Marlowes Helden, Mortimer, spricht, wenn er im Augenblick vor seiner Hinrichtung sagt:

„Beweint mich nicht.
Der, diese Welt verachtend, wie ein Wandrer
Nun neue Länder zu entdecken geht."


Jene Zeit steht im Zeichen der „neuen Länder“.

Nein, keine Rückkehr — aber auch kein „Fortschritt" in dem Gebrauchssinn dieses Wortes. In der Seele des einzelnen Menschen, in der Struktur, der gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, in der künstlerischen Geburt von Werken und Werten, in den ewigen Kreisen des Kosmos, in den letzten Rätseln alles Seins — überall werden neue Länder entdeckt, überall tauchen schlummernde Welten wie grüne Inseln aus Meeres tiefen auf, alle Dinge sind erneut, in jungem Lichte gebadet, aus frischen Augen blickt die alte Erde — und die Wiedergeburt feiert ihre stillen Sonnenfeste.

„Jüdische Renaissance" . . . Man hat darunter eine Rückkehr zu den alten, im Volkstum wurzelnden Gefühlstraditionen und zu deren sprachlichem, sittlichem, gedanklichem Ausdruck verstanden. Man braucht diese Vorstellung nur an der Quattrocento-Renaissance zu messen, um ihre Kleinheit und Unzulänglichkeit einzusehen. Eine solche Rückkehr würde den edlen Namen „Renaissance", diese Krone der Geschichtszeiten, in keiner Weise verdienen. Wir müssen schon tiefer graben, wenn wir die Zukunft unseres Volkes verstehen wollen.

Zahlreicher als in irgendeiner anderen Zeit sind in der unseren jene Menschen, die den Sinn für das Kommende besitzen, jene Johannesnaturen, die an den eigenen Schmerzen die werdende Gestaltung eines neuen Menschheitslebens erkennen. Diesen Hellsichtigen ist es heute vergönnt, die Boten einer neuen Menschheits-Renaissance mit Augen zu schauen. Aus dem Gären einer Kulturbewegung, das ich zu schildern versucht habe, sehen sie schon die künftigen Formen emportauchen. Sie leiden, wie einst die Propheten litten: weil sie wissend und einsam sind; und weil sie in der Zukunft schönere, glücklichere Entwicklungsbedingungen erblicken, die sie nicht erreichen sollen. Ihrer aus Leiden geborenen Prophetie müssen wir uns anvertrauen. Sie zeigt uns das Nahen einer Wiedergeburt, an der jeder Einzelne und jedes Volk teilnimmt, ein jedes in seiner Art und nach seinem Werte. Einer Wiedergeburt des Menschentums. Einer Herrschaft der „neuen Länder".

Schwieriger als jedem anderen Volke wird es dem jüdischen werden, in diese Wiedergeburt einzutreten. Ghetto und Golus, nicht die äußeren, sondern die inneren Feindesmächte dieses Namens halten es mit eisernen Fesseln zurück: Ghetto, die unfreie Geistigkeit und der Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition, und Golus, die Sklaverei einer unproduktiven Geldwirtschaft und die hohläugige Heimatlosigkeit, die allen einheitlichen Willen zersetzt. Nur durch einen Kampf gegen diese Mächte kann das jüdische Volk wiedergeboren werden. Der äußeren Erlösung von Ghetto und Golus, die nur durch eine weit über das heute Gewährte hinausgreifende Umwälzung geschehen kann, muss eine innere vorausgehen. Den Kampf gegen die armselige Episode „Assimilation", der zuletzt in ein wortreiches und inhaltsarmes Geplänkel ausgeartet ist, soll ein Kampf gegen tiefere und mächtigere Zerstörungskräfte ablösen. Dieser soll latente Energien in tätige umsetzen, Eigenschaften unseres Stammes, die sich in einer Selbständigkeitsgeschichte geäußert haben, um in den Qualen der Diaspora zu verstummen, unserem modernen Leben in dessen Form wiederschenken. Auch hier keine Rückkehr; ein Neuschaffen aus uraltem Material.

Ich kann hier nur die allgemeinsten Gesichtspunkte andeuten; aus stiller Zusammenarbeit der Mitstrebenden wird mit der Zeit, so hoffe ich, ein positives, festgefügtes Aktionsprogramm hervorgehen. Nicht das Programm einer Partei, sondern das ungeschriebene Programm einer Bewegung.

Diese Bewegung wird vor allem das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden wieder auf den Thron setzen. Das ist ein Losungswort gegen die reine Geistigkeit. Als wir noch das kleine weltbewegende Volk jenes seltsam gesegneten Erdenwinkels waren, da schufen wir Geistiges, aber wir waren voll starken expansiven Lebensgefühls, das oft genug überschäumte und sich, wenn das eigene Gesetz keinen Raum dafür ließ, in den fremdartigen Orgien der unproduktiven Nachbar-Völker auszuleben versuchte; und in Wahrheit blühten gerade aus diesem Lebensgefühl, lose in ihm ruhend wie Seerosen auf den Fluten, unsere großen Geistesschöpfungen auf. Das Exil wirkte wie eine Folterschraube: das Lebensgefühl wurde verrenkt. Die äußere Knechtung der Wirts Völker und die innere Zwingherrschaft des Gesetzes trugen in gleichem Maße dazu bei, das Lebensgefühl von seinem natürlichen Ausdruck, dem freien Schaffen in Wirklichkeit und Kunst, abzulenken. Die Bewegung, die in unserer Zeit anhebt, wird den Juden wieder dazu bringen, sich als Organismus zu fühlen und nach harmonischer Entfaltung seiner Kräfte zu streben, ins Gehen, Singen und Arbeiten so viel Seele zu legen wie in die Behandlung intellektueller Probleme, und eine gesunden und vollkommenen Leibes in Stolz und Liebe froh zu werden. Sie wird den Zwiespalt zwischen Denken und Tun, die Inkongruenz von Enthusiasmus und Energie, von Sehnsucht und Opfermut aufheben und die einheitliche Persönlichkeit, die aus einer Willensglut heraus schafft, wiederherstellen. Sie wird Staub und Spinnweben des inneren Ghettos von unserer Volksseele abkehren und dem Juden den Blick ins Herz der Natur verleihen, ihn lehren, Bäume, Vögel und Sterne seine Geschwister zu nennen und an der Individualität aller Wesen seine eigene zu messen. Sie wird durch Erziehung eines lebendigen Schauens und durch Sammlung der schöpferischen Kräfte die Gabe jüdischen Malens und Meißelns entfalten und vor dem dunklen Tasten jungjüdischer Dichter die Feuersäule der Auferstehung einherwandeln lassen. Den Festen der Tradition wird sie eine zweite Jugend schenken: wir werden lernen, das Werdende zu feiern, das künftige Erringen, die geahnte Wiedergeburt; von starren Denkmälern schützender Tradition wird sie uns zu jungen Weihegärten eines jungen Volkes führen. Sie wird uns die Schlichtheit und Wahrhaftigkeit eines freitätigen Lebens zuteilen. Sie wird uns vor einer äußeren eine innere Heimat schaffen : dadurch, dass sie das Judentum zu neuer Einheit zusammenschließt und uns so das Ruhen im Brudertum der Herzen gewährt; dadurch, dass sie uns im Neuhebräischen eine moderne Sprache schenkt, in der wir die wahren Worte für Lust und Weh unserer Seele finden können; dadurch, dass wir in eine Lebensgemeinschaft eintreten, welche die alte angestammte und doch wieder eine neue ist. Über unsere Tage wird der Glanz einer neuen Schönheit ausgegossen.

Diese nationale Bewegung ist die Form, in der sich die neue menschheitliche Kultur für unser Volk ankündigt. Uns liegt ein innerer Kampf ob, ehe wir ihres Segens teilhaftig werden können. Manchen Krankheitsstoff müssen wir entfernen, manches Hemmnis niederzwingen, bevor wir reif werden zur Wiedergeburt des Judenvolkes, welche nur ein Teilstrom ist der neuen Menschheits-Renaissance.

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph

Alter Jude

Alter Jude

Jüdischer Mädchenkopf

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Jüdin des Ostens

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Ostjüdin mit Kopftuch

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Bärtiger Jude mit Pelzmütze

Bärtiger Jude mit Pelzmütze

Judenjunge

Judenjunge

Judenkind

Judenkind