In mondheller Nacht

Als die Arbeiter des Dorfes zur späten Nachmittagsstunde mit den ersten mit Bohnen schwerbeladenen Wagen vom Felde heimgekehrt waren, trat gleich der gerade in der Scheune anwesende Aufseher, ein junger Blondin von niedriger Statur, von Jugend auf mit der Landwirtschaft vertraut und seinem Beruf ganz hingegeben, zu einem der Wagen, holte aus demselben eine Handvoll brauner Stengel hervor und unterzog sie einer sorgfältigen Prüfung. Da er sich überzeugte, dass die Hülsen zum größten Teil trocken und gespalten waren, so dass sie während der Fahrt infolge des Umhergeschleudertwerdens ihres Inhalts beraubt wurden und die Frucht verloren ging, befahl er, die Arbeit während der heißen Tageszeit zu unterbrechen und sie erst nach Mitternacht bei hellem Mondschein wieder aufzunehmen, wenn die Garben vom Nachttau angefeuchtet und durchweicht sein würden.

Die Arbeiter nahmen den Befehl wohlwollend auf, machten sich fleißig an das Abladen der Wagen und begaben sich darauf in langer Reihe hintereinander nach ihren Wohnungen.


Und zur Abendzeit, nahe vor Sonnenuntergang, fehlte diesmal das so fröhliche und geschäftige Leben, das an jedem Abend nach der Heimkehr vom Felde den Hofraum erfüllte. Diesmal sah alles feiertäglich aus. Vernachlässigt standen die Leiterwagen in der Mitte des Hofes, die Pfähle schräg heruntergelassen, und daheim lagen die Arbeiter auf ihren Betten ausgestreckt in tiefem Schlaf, schnarchend und tief atmend, um sich durch die genossene Ruhe für die bevorstehende Nachtarbeit vorzubereiten.

Die zuerst erwachte, war — Esther. Leise und heimlich schlüpfte sie aus ihrer Kammer, während ihre drei Freundinnen noch schliefen, ging mit leichten Schritten sachte zur Stalltür und klopfte heftig an.

Der Stallwächter, der in einer der leeren Krippen schlief, drehte sich einigemal auf dem Strohbündel um, das ihm zugleich auch als Decke diente. Als nach einigen Minuten das Klopfen sich wiederholte, stand er plötzlich auf, schob geräuschvoll den Riegel beiseite, zog mit aller Kraft die Tür nach innen und, Esther gewahrend, starrte er sie verblüfft mit seinen blauen, wässerigen Augen an.

Über Esthers Lippen flog ein Lächeln, hinter dem sie ihre Verwirrung verbarg. Dieses Lächeln galt dem Wächter zugleich als Mahnung, dass es Zeit sei, die Ochsen anzuspannen, und sein Gesicht erheiterte sich. Mit einem Satz war er bei der Ochsenreihe, die an der langen, dunklen Stallwand sich hinzog, suchte sich ein bundscheckiges Paar heraus und führte es ins Freie. Esther folgte ihm auf dem Fuße und beide schickten sich stillschweigend an, die Hälse der Ochsen in das an der Wagendeichsel befestigte Joch hineinzubringen. Als sie damit zu Ende waren und das Ochsenpaar vor dem Wagen gespannt stand, demütig und mit zur Erde gesenkten Köpfen, da das Joch ihnen auf die grauen, kerbigen Nacken drückte, verließ Esther den Stall, die Tür hinter sich offen lassend, und leise und heimlich, wie sie gekommen, kehrte sie nach dem Hofe zurück.

An einer schattigen Stelle in der Nähe des Wohnhauses blieb sie stehen. Dort lag auf einer breiten Matte ein junger Mensch und schnarchte laut. Er war ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, brünett, von wohlgebildetem Äußern, mittlerem Wuchs und stählernen Muskeln. Er hielt beide Hände über der entblößten, sonnenverbrannten, fast bronzefarbenen Brust verschränkt. Vom Halse fiel ihm ein blaues Bändchen herab, das vom vielen Schweiß und Schmutz wie Pechdraht aussah, daran hing ein kleines Medaillon von der Form eines Herzens, das ein Mädchenbildnis enthielt. Das war das einzige Andenken, das ihm seine vor zwei Jahren verstorbene Braut hinterlassen hatte, und er bewahrte es wie ein Kleinod. In diesem Augenblick hielt er es fest zwischen seinen Fingern, während unter seinem langen krausen Schnurrbart ein leises Lächeln hervorquoll.

Esther kniete vor ihm hin, als wäre sie von einer mächtigen Kraft niedergedrückt worden. Einige Augenblicke betrachtete sie sein offenes, breites Gesicht. Sie betrachtete es mit ihren kleinen, scharfen Augen, aus denen List und unbeugsamer Wille leuchteten, mit jenen tiefblickenden, bis ins Innere der Seele dringenden Augen, die nur Frauen eigen sind, wenn sie ihren Herzensgeliebten ohne Zeugen mustern. Esther hatte den jungen Arbeiter liebgewonnen, das war ein offenkundiges Geheimnis. Und als ihre Liebe in Izchaks Herzen keinen Widerhall fand, artete dieses Gefühl in Eifersucht aus, wurde heißer, unbezwinglicher und zum Mittelpunkt ihres Lebens, ihres Sinnens und Trachtens. Ohne dass sie es wusste, neigte sich ihr Haupt immer tiefer zum Antlitz des jungen Mannes herab, neben dem sie kniete. Ihre Lippen bebten und murmelten unverständliche Worte. Sie fühlte, dass sein warmer, feuchter Atem die vereinzelten Haare, welche sich über ihre Stirn verirrt hatten, berührte und leise bewegte. Doch plötzlich prallte sie, wie mit Gewalt fortgeschleudert, zurück und geriet in namenlose Verwirrung: ihr Blick war auf das blaue Bändchen gefallen und das daran gleich einem Amulett am Herzen des jungen Mannes hängende Bild. Ihr Mund verzog sich schmerzlich und nach einigen Augenblicken trüben und quälenden Sinnens fasste sie ihn an der Schulter und begann ihn vorsichtig zu rütteln.

— Izchak, Izchak! Steh' doch auf! . . . 's ist ein Uhr!

Er fuhr empor und blieb in halbliegender Stellung sitzen, nur den Oberkörper aufgerichtet, während die Füße auf der Matte ausgestreckt lagen. Darauf erhob er beide Hände und ohne sich durch die Anwesenheit eines Frauenzimmers stören zu lassen, fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch das krause Haar und fing an, sich weidlich zu kratzen. Dann erst rieb er sich den Schlaf aus den Augen und murmelte im Halbschlummer:

— Gut . . . gut! . . . Ich bin gleich fertig. Eine Weile später stand er auf, knöpfte

sich mit einer raschen Bewegung das Hemd zu, faltete die Matte zusammen und trug sie ins Zimmer, weckte die Kameraden und schickte sich an, nach dem Stall zu gehen.

Unterwegs erzählte ihm Esther, die mit ihm zusammen arbeitete, dass sein Wagen zum Abfahren bereit sei. Sie gingen beide am Stalle vorbei, direkt nach dem Hofe. Esther bestieg hurtig den Wagen und Izchak blieb in der Nähe stehen, zaudernd und überlegend.

— Warten wir vielleicht auf die andern, nicht?

Sie lehnte ab.

— Steig ein! Wir warten lieber dort an der Quelle.

Izchak gehorchte, kletterte in den Wagen, fuhr durch das Tor und fing lässig und unwillig an, die Ochsen anzutreiben und sie mit dem Ochsenstecken nach rechts und nach links zu lenken.

Es war Vollmond. Kaltes, eisiges Licht ergoss sich über Berg und Tal. Der Horizont schien weit und tief und all die glänzenden Sterne, mit denen er in früheren Nächten in so wirrem Durcheinander besät war, waren wie verwischt und unscheinbar gegenüber dem Silberglanz des Mondes. In der Ferne schimmerten die Pfade und Stege, welche sich kreuz und quer in einem Halbkreise schlängelten und wie weiße Gürtel die Bergrücken umspannten.

Izchak und Esther standen im Wagen, auf die Leiter gestützt, schweigend und in Gedanken vertieft, einander gegenüber. Im fahlen Mondlicht lagerte sich auf alles in der Runde eine milde Ruhe und auch das Rädergerassel schien diesmal bescheiden und bedächtig und störte die Stille nicht. Nur Izchak brachte ab und zu einen Missklang in die feierliche Stille hinein durch die ihm im verhaltenen Unmut entschlüpfenden Rufe „rechts!" „links!", mit welchen er die Tiere anspornte.

Plötzlich schnellte Esther, wie aus dem Schlafe erwachend, empor und frug:

— Izchak, weshalb bist Du so kleinlaut und einsilbig?

Ihre Frage befremdete Izchak, der inzwischen wieder eingenickt war und sich über die Störung ärgerte. Er sah nur schlaftrunken zu ihr auf und erwiderte nichts.

Sie war nicht unschön. Ihre Züge waren lieblich und einnehmend und verrieten Mut und Unerschrockenheit. Ihr Haar fiel pechschwarz und samtartig auf die Schultern herab und aus ihrem kleinen, geschlossenen und zusammengekniffenen Mund sprachen Eigenwille und Trotz. Nur ihr Wuchs war höher als gewöhnlich und ihre breiten, starkknochigen Schultern verliehen ihrer Erscheinung etwas Unsymmetrisches, ja etwas Männliches, so dass ihr kleiner, schöner und ovaler Kopf nicht am rechten Platze zu sein schien.

Esther wiederholte ihre Frage:

— Hörst Du denn nicht? Izchak flüsterte:

— Lass mich! Fällt mir gar nicht ein, missmutig zu sein.

Doch Esther fuhr fort, und diesmal bebte ihre Stimme und klang giftig und voll stiller Eifersucht:

— Aber ich weiß . . . weiß . . . Und Du bemühst Dich vergeblich, es vor mir zu verbergen!

Ihre letzten Worte riefen bei Izchak eine Menge Erinnerungen wach. Die letzten schweren Augenblicke seiner Braut zogen an ihm vorüber, ein Bild, das in seinem Innern immer von neuem auflebte und ihm eine geheimnisvolle Furcht einjagte. Seine Hand langte nach dem an seinem Halse hängenden Bilde, als wollte er sich vergewissern, dass er es noch über dem Herzen trage. Eine unwiderstehliche Lust überkam ihn, es unter dem Hemde hervorzuholen und beim Mondschein zu betrachten, allein er hielt sich zurück: es war ihm unangenehm, sein Geheimnis vor Esther zu enthüllen.

Und Esther stand stillschweigend und in tiefes Sinnen versunken. Sie hatte ihren kleinen Mund fest zusammengezogen und den Kopf tief zwischen die breiten Schultern gedrückt. Von Zeit zu Zeit warf sie verstohlen einen Blick nach Izchaks Hand, die sich hinter seinem Hemde bewegte. Eine unbändige Eifersucht entbrannte in ihrem Herzen und sie schien ihr ganzes Denkvermögen anzustrengen, um die Gedanken zu erraten, welche sich in diesem Augenblicke in Izchaks Hirn regten, der wie ein Mondsüchtiger dastand, ganz seinen Gedanken hingegeben. Auch seine Aufmunterungsrufe waren verstummt und die Ochsen zogen den Wagen, mit gemessenen Schritten vorwärts schreitend. Nur dann und wann schwang Izchak unbewusst den Ochsenstecken, wie von ungefähr drohend, und ließ ihn bald wieder sinken.

Endlich kamen sie an Ort und Stelle an. Vor ihnen lag ein viereckiges weißes Feld von Garben und von allen Seiten von hohen Bergen umringt, die zu dieser Tagesstunde einen blassen Schatten auf sich selbst warfen. Hart am Wege trennten sich die Bergabhänge und ließen eine Öffnung in Gestalt einer Tür frei, und es kam eine Quelle zum Vorschein, die in den Bergen ihren Ursprung nahm. Einiges Schilf und üppig wucherndes Gras bedeckten die Quelle, deren Wasser leise rieselte und ein verstecktes, kaum hörbares Gemurmel ertönen ließ.

Sie stiegen beide aus dem Wagen. Izchak trat an die Quelle, beugte sich zwischen dem Gras herab und trank in langen Zügen von dem kristallhellen Wasser. Dann streckte er sich seiner ganzen Länge nach rücklings auf dem Rasen hin, gähnte und sagte lässig, während er sich die Wassertropfen vom krausen Schnurrbart wischte:

— Nun wollen wir die anderen abwarten.

Einen Augenblick später fuhr er fort und diesmal mit etwas weicherer Stimme:

— Esther, komm, setze Dich zu mir!

Sie sah ihn durchdringend an, kam langsamen Schrittes näher, ließ sich dicht neben ihm auf die taugetränkte Erde nieder .und sagte:

— Und Du lege Deinen Kopf in meinen Schoß, das Gras ist feucht.

Izchak hob den Oberkörper empor, schob sich näher an sie heran, legte seinen Kopf auf ihre Knie und schloss die Augen, um wieder einzuschlummern.

Die Ruhe rings herum dauerte fort. Die Ochsen standen und knusperten an den feuchten Stoppeln. Sie ließen sich dieselben gut schmecken, ihre Kauwerke arbeiteten fleißig, während die Strohhalme zwischen ihren Zähnen hindurch nach außen ragten und aus ihren Mäulern ein grüner schaumiger Speichel als Zeichen ihres gewaltigen Appetits tropfenweise herabsickerte.

Hinter Esthers und Izchaks Rücken sprudelte die Quelle mit einem weichen, dem Ohr wohltuenden Geräusch. Langsam troff das Wasser in kurzen Intervallen und in rhythmisch gleichmäßigem Tempo, so dass es den Anschein hatte, als läge unten in der Tiefe ein lebendes Herz, das unablässig pochte und pochte . . .

Eine angenehme Wärme durchströmte Izchaks Glieder. Sein Kopf lag machtlos auf Esthers Knien und er schmiegte sich im Wonnegefühl seiner Schwäche fester an sie. Und alles — die silberweißen kalten Mondstrahlen, die Ruhe weithin in der Runde, das stilltönende Quellengelispel, das anhaltende Kauen der Tiere und diese kosende Wärme, die sein Körper gierig einsaugte — alles das machte ihn müde und wiegte ihn in einen süßen Schlaf, so dass schon nach wenigen Augenblicken sein abgebrochenes, ersticktes Schnarchen die Luft erschütterte.

Esther saß unbeweglich, düster und sorgenvoll. Und wiederum bemächtigte sich ihrer dasselbe schmerzliche Gefühl, das kurz zuvor ihr ganzes Wesen beherrscht hatte, als sie zu Izchaks Häupten niedergekniet war, um ihn aus dem Schlafe zu wecken . . .

Plötzlich fuhr sie wie aufgescheucht in die Höhe. Sie erhob den Kopf, streckte den Hals aus und begann mit unruhigen, stieren Blicken um sich zu schauen. Das waren Blicke, böse und arglistige, wie die einer wilden Katze, scharf wie Wurfspieße und voll Tücke und Raubgier; dabei strahlten ihre Augen einen Schimmer aus, als ob ein Goldstaub über sie verstreut wäre. Einen Moment lang ließ sie die Blicke wie spähend über die weite Umgebung schweifen, dann senkte sich ihr schönes Haupt über Izchaks Antlitz herab, haschte mit einer flinken Bewegung nach seinem Hemd und begann es mit zitternden Händen aufzuknöpfen.

Seine breite, haarige Brust entblößte sich. Unter den Haaren, in der Grube zwischen beiden Brusthälften, lag das Bild, in dessen Glasdeckel die Mondscheibe verkleinert sich abspiegelte. Das Katzenartige ihrer Blicke kam jetzt noch schärfer zum Ausdruck, als das Bild sichtbar wurde. Ängstlich irrten sie in der Luft umher und blieben abwechselnd bald auf Izchaks Brust, bald auf dessen Antlitz haften, das ruhig auf ihren Knien lag.

Da beugte sie jählings ihr Haupt bis nahe an Izchaks Hals herab, erfasste mit den Zähnen das fettglänzende, schmutzige Band und fing an, es zu zerbeißen. Sie fühlte im Munde einen bittersalzigen Geschmack, während das vom Alter morsch gewordene Band zwischen ihren Lippen sich auflöste und ohne besondere Mühe entzweiging.

Blitzschnell, wie ein rasend gewordenes Tier, löste sie das Bild zusammen mit dem Bande vom Halse los und versteckte es tief in ihrem Gürtel . . . dann begann sie ebenso hastig das Hemd wieder zuzuknöpfen. Nun holte sie tief Atem, fiel mit einem Seufzer in die frühere Stellung zurück und blieb einige Augenblicke wie versteinert sitzen.

Izchak schlief weiter, er wurde nur ein wenig unruhig, als verspürte er etwas, wandte sich einigemal um und gab abgebrochene, unartikulierte Laute von sich. Doch beruhigte er sich bald und versank wieder in tiefen Schlaf.

Esther zog leise das Bild hinter dem Gürtel hervor und begann es mit erschrockenen Augen zu betrachten. Wiederum erschien ein kleiner Mond auf dem Glasdeckel und da ihre Hände zitterten, schien er auf einem kleinen Weiher zu schwimmen. Esther wusste nicht, was mit dem Bilde anzufangen. Sie blieb eine Zeitlang unentschlossen und überlegte, ob sie es behalten oder sich seiner entledigen solle.

Als nun ihr Blick von neuem auf das Bild fiel, zuckte sie erschrocken zusammen. Es kam ihr vor, als bewege es sich, winke und lächle ihr höhnisch zu . . . Sie schloss die Augen, hob den Arm und — schleuderte das Bild von sich weit, weit zwischen die Felsenklüfte fort . . .

Eine geraume Weile saß sie mit verschlossenen Augen da. Doch kehrte ihre Ruhe nach und nach wieder zurück. Sie fühlte, dass ein schwerer Stein von ihrer Brust gefallen war, der sie lange Zeit bedrückt und ihr einen unsäglichen Schmerz verursacht hatte, und es wurde ihr leichter ums Herz. Ihre Augen trafen wieder Izchaks vom Mondlicht beschienenes, blass gewordenes Gesicht. Er kam ihr jetzt wie neugeboren, wie ein naher Verwandter vor und es wollte sie bedünken, als wäre die Mauer, die zwischen ihnen stand, eingestürzt bis auf den Grund.

Esther neigte ihr Haupt zu ihm und ihre geschlossenen, zusammengepressten Lippen umspielte ein halb triumphierendes, halb wonniges Lächeln. Ihr Blick wurde ruhiger und ihr von Liebe und Sehnsucht überströmtes Herz pochte unablässig. Dann schob sie sachte und vorsichtig ihre beiden Hände unter sein Haupt, hob es in die Höhe und drückte es stürmisch an ihre wogende Brust. Sie wiederholte dies mehrere Male nacheinander, ohne sich über ihre Tat Rechenschaft abzulegen, wie berauscht und betäubt von einem ungeahnten, grenzenlosen Glücke und ihre Lippen flüsterten leise, mit bebender Stimme:

— Izchak . . . Izchak ... Du mein Izchak!

Rädergerassel, Lärm und Gesang weckten sie aus ihrer Trunkenheit und sie blickte auf. Sie erhob sich spornstreichs, rüttelte Izchak aus seinem Schlaf und drängte ihn aufzustehen. Er erschrak und wurde wach. Beide sprangen sie wie aufgescheuchtes Wild von ihren Plätzen empor. Izchak reckte sich seiner ganzen Länge nach, während Esther ihr zerknittertes Kleid glättete. Beide eilten zu ihrem Wagen und machten sich frisch an die Arbeit. Da die Garben feucht und schwer waren, wechselten sie diesmal die Rollen: Esther stand oben im Wagen und legte die Bohnen ein, indes Izchak sie ihr von unten mit der Gabel hinauf langte.

Das Dorfgesinde kam auf vier Wagen herangefahren. Sie waren alle guter Dinge, lärmten, sangen und knallten mit den Peitschen. An der Quelle standen sie still, ein jeder stieg ab, trank sich satt, kehrte zu seinem Wagen zurück und fuhr querfeldein zu den Garben.

Ein Bursche, der an Izchak vorbeikam, schrie laut:

— Weshalb hast Du Dich so beeilt, Freundchen?

Izchak entgegnete arglos:

— Haben wir nicht auf Euch gewartet? Alle brachen in ein schallendes Gelächter

aus und der Bursche fuhr fort:

— Ja, gewiss habt Ihr gewartet, gewiss . . . Aber, Bruder, nicht das war meine Absicht!

Und abermals erscholl ein allgemeines Gelächter und diesmal noch stärker als zuvor. Izchak, der noch mitten darin begriffen war, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, war ganz verblüfft.

Esther, der von ihrem hohen Sitz beim hellen Mondschein der spöttische Ausdruck im Gesicht des Burschen nicht entgangen war, verstand den geheimen Sinn seiner Worte.

Sie stand hoch aufgerichtet im Wagen und empfing mit gewohntem Eifer die frischduftenden Garben, die Izchak ihr heraufreichte. In ihrem Innern wechselte jetzt stürmische Freude mit geheimnisvoller Furcht, die aus einem verborgenen Winkel ihres Herzens sie fratzenhaft angrinste. Und ein Schauer durchzuckte ihre Glieder bei der Erinnerung an ihr großes Geheimnis, dessen Zeugen nur diese Berge waren und der bleiche Mond da oben . . .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Bauern