Geisteskrank

Die ganzen Morgenstunden war ich damit beschäftigt, den Rest des Strohs aus der Dreschtenne in die Strohscheune zu schaffen, und damit schloss die Erntearbeit ab.

Da es nachmittags wenig zu tun gab, befahl mir mein Brotherr, den Dünger aus der Mistgrube hinter dem Kuhstalle zum Zwecke der Düngung ins Feld hinauszuführen.


Ich arbeitete damals als vertragsmäßiger Löhner in einem der Dörfer, die sich nahe am Ephraimgebirge befinden, bei Michael Karmelli. Er war ein Mann in den Vierzigern, von sonderbarem und verdächtigem Äußern, wie einer, bei dem es nicht ganz richtig im Kopfe ist, hoch, schweigsam, mürrisch, und seine blonden Augenbrauen waren zottig und wirr und beschatteten stark seine dunklen, blauen Augen. Besonders auffällig war seine Stirn, die mit zahllosen, dicht beisammen liegenden und einander durchkreuzenden Falten bedeckt war. Und jedesmal, wenn er seine dichten Brauen in die Höhe zog, hob sich seine Stirn mit solcher Schnelligkeit, dass die Haut seines Schädels zugleich mit dem Goldhaar, von welchem er umrahmt war, zu zittern, sich gleichsam fortzuschieben und die Schramme hinter seinem Ohr sich zu röten und anzuschwellen begann.

Im Dorfe erzählte man sich heimlich, es sei in seinen Jugendjahren, gelegentlich eines Scharmützels mit den Nachbarn, sein Pferd unter ihm gefallen; er habe vor Schreck und infolge der erhaltenen Kopfwunde den Verstand verloren, so dass man ihn unter ärztliche Aufsicht stellen musste. Später sei er wieder gesund geworden, in sein Dorf zurückgekehrt, habe seinen früheren Beruf wieder aufgenommen, geheiratet, Kinder gezeugt und wieder ein normales Leben geführt. Nur sei ihm von da ab eine Melancholie verblieben, die fortwährend sein Herz bedrückt. Dies sei die Ursache, dass er stets schweigsam und in sich gekehrt und sein Aussehen düster und grämlich ist.

Es war die Zeit nach dem Laubhüttenfest, der Sommer war zu Ende gegangen. Die Sonnenstrahlen fingen schon an, schwach und lau zu werden. Vor Sonnenuntergang lag auf dem Dorfe goldiges Licht, weich wie Seide, das eine nervenberuhigende, angenehme Wärme verbreitete. Am Himmel begannen bereits einige düstere Wolken heraufzuziehen, die das Herannahen des Herbstes verkündeten. Ab und zu trat unter ihnen die Sonne hervor, tauchte auf und verschwand bald wieder, nachts gab es reichlichen Tau und die Kälte begann empfindlich zu werden.

Im Dorfe herrschte feiertägliche Ruhe. Der Boden der großen viereckigen Tenne, aus dem das Getreide bereits weggeräumt war, schimmerte jetzt weiß von den Stroh- und Stoppelresten, die auf ihm verstreut lagen; und er war ganz besät mit beweglichen Flecken und Schatten, die von dem Vieh herrührten, das dort, grasend, mit gesenkten Köpfen, wie nach etwas spähend, herumspazierte und im Gehen die Scharen Hühner, Sperlinge und sonstigen Federviehs aufstöberte, die um diese Zeit hier ihre gemeinschaftlichen Mahlzeiten abhielten.

Zum fünften Male war ich mit dem Wagen vom Felde zurückgekehrt. Die Mistgrube war fast bis auf den Grund ausgeleert. Die letzte Schicht war kein Viehmist mehr. Papierreste, Lumpen, Holzsplitter, verschimmelte Schuhe und Lederriemen und sonstiger unbrauchbarer Plunder, der offenbar vor vielen Jahren hineingeworfen worden war — das alles lag hier wirr durcheinandergemengt und zu einem modrigen Wust zusammengeballt.

Als ich die Mistgabel in den vollbeladenen Wagen steckte, fühlte ich, dass sie gegen etwas Hartes stieß, und ohne zu wissen warum, überkam mich eine unbändige Lust, nach der Ursache zu forschen. Vorsichtig zog ich die Gabel wieder heraus und gewahrte an einem ihrer Zähne ein zusammengerolltes, mit einer Flachschnur fest verbundenes Papierheft. Meine Verwunderung und Neugier wuchsen. Ich streifte die Hülle ab und versuchte die Blätter auseinanderzunehmen. Sie waren gelb vom Alter, verwest und zerfielen bei der leisesten Berührung in feinen Staub, den der Wind mit sich forttrug.

Gleich auf den ersten Blick, wie nur die kleinen, verschnörkelten Schriftzüge der aufgeschlagenen Rolle mir entgegendämmerten, erkannte ich darin ein geheimes Schriftstück, alte Notizen, eine Art Tagebuch, und unwillkürlich tauchte vor mir die Gestalt des Michael Karmelli, meines Brotherrn, auf. Sofort sammelte ich die Blätter und versteckte sie sorgsam in meiner Hosentasche, mich ängstlich nach allen Seiten umsehend, ob nicht ein dreister Blick aus einer verborgenen Ecke nach mir schiele, und fuhr davon. An Ort und Stelle angelangt, lud ich rasch den Inhalt des Wagens ab, fügte die Bretter wieder ein und trat den Rückweg an. Ich hielt mein Pferd an, um es langsam gehen zu lassen, als ob es einen schwer beladenen Wagen zu ziehen hätte. Kaum hatte ich die Fahrstraße erreicht, als ich mich auf den Bock schwang, die Lenkseile nachließ, die Blätter aus der Tasche hervorholte und zu lesen begann.

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Januar 1893, Dorf N.

Ein fünfjähriges Einsiedlerleben. So vergeht meine Jugend ohne einen einzigen Lichtstrahl. Die Pfrieme, die ich vor drei Monaten aus der Kiste gezogen habe, um eine beschädigte Halfter auszubessern, liegt jetzt noch auf dem Tische, die blanke Spitze frech nach oben gekehrt; und das vor längerer Zeit mit Tran gefüllte Glas steht noch schimmelnd auf dem Fenster, so wie ich es dazumal hingestellt habe. Der Tran ist längst vertrocknet, einige Fliegen haben darin ihr frühzeitiges Grab gefunden; eine kleine, junge Spinne hat darüber ihr feines Gewebe ausgespannt — und das Glas steht ruhig da. Dort in der Ecke liegt Mais verstreut. Vergangenen Sommer hatte ich ihn für meine Hühner gesät. Die Hühner sind schon lange tot und hier faulen die Körner am Boden, von den Mücken und Fliegen halb zerfressen.

Himmel, welche Einsamkeit, welche Verödung! Kälte rieselt durch alle meine Glieder. . . Man rät mir, diesem Elend durch Heiraten ein Ende zu machen. Ja, ja, 's ist leicht gesagt. Und wer erteilt mir diesen Rat? Kein anderer als Reb Joakew. Reb Joakew mit seinen dicklippigen Töchtern, die er gern jemandem anhängen möchte. Ich habe es schon längst bemerkt, dass eine von seinen Töchtern, nämlich die jüngste — die noch voriges Jahr die Dreißig zurückgelegt hat, mir gegenüber gar zu freundlich und schön tut. Jeden Tag vor Sonnenuntergang kommt sie, festtäglich herausgeputzt, an meinem Fenster vorbei und blinzelt mich mit ihren boshaften Augen an. Und wenn ihr Blick von ungefähr dem meinigen begegnet, schreckt sie nicht zurück, sondern lächelt mir vielsagend zu. Hölle und Teufel, dreißig Jahre sind allerdings nicht ein Tag. Mit jeder im Gesicht neu hinzugekommenen Falte nimmt die Frivolität zu und die Unschuld schwindet mit der Jugendfrische. Soeben schlenderte sie wieder vorüber. Aber weshalb bog sie plötzlich ab? Ich höre Schritte. Wo will sie hin? Ich vernehme das Rascheln eines Weiberrocks. Ja, das sind ihre Schritte. Es pocht an meiner Tür, Hölle und Teufel!

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Januar 1893, Dorf N.

Gestern hatte ich Besuch. Reb Joakews jüngste Tochter kam, mir Gesellschaft zu leisten. Kaum hatte sie die Schwelle meiner Wohnung überschritten, als sie mich schon mit einer Flut von Worten übergoss.

— Welch eine Luft, welche Unordnung! . . Wie kann ein Mensch in so einem Chaos leben? Das kann doch nicht so bis in alle Ewigkeit dauern, Herr Karmelli!

Ich saß zitternd und aufgeregt. Solange sie mit ihrer vom Alter dick gewordenen Stimme auf mich einsprach, blieben meine Augen unverwandt an der Spitze der Ahle kleben, die mit ihrem faszinierenden Glanz gleichsam einschläfernd wirkte. Was wollte diese alte Jungfer von mir? Kann sie denn den leisesten Schatten von einem Gedanken aufkommen lassen, dass ich, der ich um sieben Jahre jünger bin, in dessen Adern das Blut wie junger Wein gärt und tobt — dass ich mich in ihre hässliche Fratze vergaffen werde?

Und als die Dunkelheit sich im Zimmer eingeschlichen hatte, wollte ich ein Licht anstecken. Im finstern Zimmer allein zu bleiben mit dieser erbärmlichen Kreatur — das war schrecklich. Aber sie wehrte ab. — Nicht nötig . . . — sagte sie — nicht nötig . . .

Ich sah, wie ihre dicken Lippen bebend auseinandergingen, dass der Mund aufgesperrt blieb. Ihr Herz schlug heftig.

Allein das waren nicht jene samtweichen Herzschläge, die wie das Sickern von Quellwasser tönen, das einem Felsen entspringt, war nicht jenes leise, gedämpfte, für das Ohr so angenehm klingende Pochen, das hinter einer zarten, jugendlich frischen Brust pulsiert, wonach ich mich so sehr sehnte. Nein, ihr Herz klopfte dumpf, wie wenn man auf ein leeres Fass schlägt. Diese Schläge kamen aus einer Brust, dürr und vertrocknet, wie ein Olivenbrett.

Plötzlich war sie ganz nahe an mich herangetreten und ich empfand, dass eine Hand nach der meinigen griff, eine feuchte, schleimige Hand, die sich wie ein eben aus dem Wasser gezogener Fisch anfühlte. Ein Ekel überkam mich. Ich wollte ihr meine Hand entziehen, aber sie hielt sie mit ihrer ganzen Kraft fest und murmelte mit den dicken Lippen:

— Was sind Sie denn eigentlich . . . ich kann es gar nicht begreifen, was sind Sie für ein Mensch . . . Herr Karmelli?

Ich musste es mir gefallen lassen. So saßen wir eine Zeitlang beisammen. Auf einmal schimmerte mir aus dem Dunkel die Spitze der Ahle entgegen. Ich streckte meine
freie Hand nach ihr aus. Anfangs stach ich mit ihr spielend nach dem Tisch, dann näherte ich sie verstohlen der Hand des Mädchens und bohrte rasch die scharfe Spitze tief in einen ihrer Finger. Mit einem wilden Aufschrei ließ sie meine Hand los und sprang verwirrt und betroffen von ihrem Sitz empor.

Ich entschuldigte mich, dass es aus Versehen geschehen sei, infolge der im Zimmer herrschenden Dunkelheit. Sie widersprach nicht und ließ sich schnell versöhnen. Ich zündete die Lampe an und brachte ihr einen Lappen zu einem kalten Umschlag. Die Wunde war nicht bedenklich, nur die Haut war leicht geritzt.

Nach etwa einer Stunde schickte sie sich an, zu gehen, und als sie mir zum Abschied die Hand reichte, zeigte sie lachend auf den wunden Finger und sagte:

— Nichts von Belang, Herr Karmelli. Wissen Sie, wir müssen jetzt recht gute Freunde werden. Ist ja Blut zwischen uns geflossen.

Ach, Hölle und Teufel!

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Januar 1893, Dorf N.

In meiner Lebensweise ist keine Änderung eingetreten. Dieselbe Langweile, dieselbe verdammte Einsamkeit wie früher. Reb Joakews jüngste Tochter, jene, die schon im verflossenen Jahre dreißig Sommer auf dem Buckel hatte, stattet mir jeden Abend einen Besuch ab. Zunächst erscheint sie dicht vor meinem Fenster, klopft vorsichtig an und ruft mit unsicherer Stimme ins Zimmer hinein:

— Herr Karmelli zu Hause?

Dann, ohne meine Antwort abzuwarten, tritt sie bei mir ein und beginnt mit einer Art hastender Wut ihr Geschwätz über mich auszuschütten. Aber ich komme ihr jedesmal zuvor und zünde die Lampe an, noch während sie draußen ist. Ich weiß, das regt sie furchtbar auf.

Häufig begegne ich ihrem Vater, Reb Joakew, auf der Straße. Er hält mich jedesmal einen Moment lang auf, sieht mich mit listigem Augenzwinkern an, und indem er bittersüß in seinen langen, weißen Bart hineinlächelt, wiederholt er kopfschüttelnd sein altes Lied:

— Michael, wie lange noch? Ist ja längst die höchste Zeit . . . Du versündigst Dich, vergehst Dich an Deiner eigenen Person . . .

Und da ich ihm darauf nichts erwidere, trollt er sich achselzuckend weiter, während er in kurz abgerissenen Silben brummt:

— Scheint auf den ersten Blick ein ganz vernünftiger junger Mensch zu sein und richtet sich mit eigenen Händen gutwillig zugrunde . . .

So fließt mein Leben einförmig hin. Am Tage kann ich wenigstens noch mit Arbeit die Zeit totschlagen, doch die Nächte, o die Nächte!

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Januar 1893, Dorf N.

Meine Seelenqual übersteigt schon jede Grenze. Dazu gesellen sich seit einiger Zeit beängstigende Träume, Alpdrücken und wahnsinnige Kopfschmerzen.

Was wird das Ende davon sein?

Ich muss mir irgend ein lebendes Wesen zum Zeitvertreib anschaffen. Vielleicht gelingt es mir auf diese Weise, der Langweile Herr zu werden.

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Januar 1893, Dorf N.

Heute gelang es mir, ein zweijähriges weibliches Füllen zu kaufen. Ich will es pflegen, wie ein Kind hätscheln. Ich gab ihm den Namen „Margolith".

Reb Joakews Tochter setzt ihre Besuche bei mir fort; sie sind mir bereits zur Last geworden. Was sie alles zusammenschwatzt. Mit meiner Geduld ist es bald aus. Schließlich werde ich sie einfach fortjagen müssen.

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Januar 1893, Dorf N.

Die Kopfschmerzen haben nachgelassen. „Margolith" ist berückend.

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(Hier war die Schrift unleserlich.)

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Anfang Februar 1893, Dorf N.

Ich habe mein Bett nach dem Stalle hinübergeschafft. Das setzte meine Bekannten in Erstaunen. Sie begannen bereits, mich argwöhnisch anzuschauen und mein guter Ruf leidet sehr darunter.

Wie sonderbar sind diese Geschöpfe, die man Menschen nennt! Sie können es mir nicht verzeihen, dass ihre Alltagsgeschäfte, ihr Tun und Lassen, ihre Freude und ihr Kummer mir kein Interesse abgewinnen und ich meine ganze Aufmerksamkeit meiner „Margolith" zuwende. Ah, jetzt begreife ich's, „Margolith" ist ein vierfüßiges Tier, ist nicht von ihrem Schlage.

Es würde sie gar nicht wundernehmen, käme ich jetzt zu Reb Joakew und erklärte ihm: Ich möchte deine Tochter zur Frau haben.

Und er selbst, dieser pfiffige Schlaukopf, würde mich mit seinem scharfen Blicke durchdringend vom Wirbel bis zur Zehe messen, würde anfangs tun, als ob er noch überlegen müsse, aus Furcht, ich könnte Spaß gemacht haben. Hernach, wenn er sich überzeugt hätte, dass ich es ganz ernst meine, würde er ganz nahe an mich herantreten, mir seine derbe, schwielige Hand auf die Schulter legen und sagen:

— Nimm sie, Michael. Habe ich Dir doch längst schon . . . als guter Freund, nach bestem Wissen und Gewissen . . . habe ich Dir doch nicht einmal geraten: Michael, werde mein Schwiegersohn . . .

Darauf würde er mir den Rücken wenden und mit hastigen Schritten nach Hause eilen, um die gute Nachricht seinen Hausgenossen zu bringen, die sie dann gleich weiter unter den Dorfbewohnern verbreiten würden. Und wenn die Kunde davon zu meinen Bekannten käme, würden sie anfänglich zwar die Achseln zucken, nach und nach aber sich mit dem Gedanken vertraut machen und versuchen, das Ereignis so auszulegen, als sei es etwas ganz Natürliches, als hätte es gar nicht anders kommen können. Und alles würde dann recht gut vonstatten gehen und kein Mensch würde es sich einfallen lassen, zu bedauern, dass meine Jugend total zuschanden geworden ist.

Doch jetzt, da ich nach dem Stalle übersiedelte, da sie sehen, dass ich so viel Liebe und Sorgfalt an „Margolith" verschwende, ihr bunte Bänder und allerlei Schmucksachen und Flitterwerk umhänge — oh, oh, es ist nicht ausgeschlossen, dass sie am Ende noch zähnefletschend gegen mich losgehen.

Ein Anfang ist bereits gemacht.

Vorgestern kam Reb Joakews Tochter und traf mich im Stalle, wie ich neben „Margolith stand und sie beim Schein eines Lichtes putzte. Auf ihrem hässlichen, welken Gesicht zeigte sich sogleich ein verächtliches Lächeln und sie sagte spöttisch:

— Ist es also wirklich wahr, Herr Karmelli, was die Leute da sagen, dass Sie außer für Ihr Füllen für nichts in der Welt mehr Interesse haben? . . . Sind Sie vielleicht in „Margolith" verliebt? . . . ha, ha, ha!

Das Blut kochte in mir. Ich wies ihr die Tür und zog sie geräuschvoll hinter ihr zu.

Ja, ein Anfang ist gemacht.

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Februar 1893, Dorf N.

Böse Gerüchte laufen im Dorfe über mich um — was geht mich das an? Was verstehen diese Leute, was wissen sie von der Einsamkeit, die mir seit fünf Jahren unausgesetzt so erbarmungslos zusetzt? Hatten sie jemals eine Ahnung von den nächtlichen Schrecken, von den bis zum Wahnsinn beängstigenden Träumen, von Herzensnot und Seelenpein, von solcher Schlaflosigkeit, dass einem die Haare, Dornen gleich, zu Berge stehen? Haben sie jemals jene fürchterliche Langweile gefühlt, da ein Tag dem andern in allem gleicht, da es weder Freund noch Verwandten gibt, keinen Schoß, um darin schluchzend das müde Haupt zu vergraben, kein Ohr, einen Seufzer aufzufangen, keine Brust, sich zärtlich an sie zu schmiegen, keine Hand, die einem tätschelnd über das wirre Haar fährt, keinen Lichtstrahl, keinen einzigen Lichtstrahl. Ach, Margolith, du, du, meine Einziggeliebte!

Margolith, Margolith!

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Februar 1893, Dorf N.

. . . Jetzt ist mein Geheimnis entdeckt, aber kann ich dafür?

Ich stand heute mit Sonnenaufgang auf, um der von der Weide zurückkehrenden Herde entgegenzugehen. Es war zu früher Morgenstunde. Der Himmel im Osten begann eben erst sich von der aufsteigenden Sonne zu röten.

Unten im Tale waren schon sämtliche Bauern versammelt und wir warteten alle auf unsere Tiere, die nachtsüber zwischen den Bergen weideten, wo das Gras bis ans Knie reichte.

Sie kamen dahergetrabt, eilig von den Bergen herabgleitend und in einen Knäuel zusammengedrängt, während der Hirt, hart hinter ihnen drein laufend, sie mit seiner Peitsche anspornte.

Noch von der Ferne unterschied ich unter der Menge von Köpfen meine „Margolith". Zum ersten Male sah ich sie so. Sie war ganz splitternackt, nicht einmal die Zügel hingen um ihren Hals. Ihr Fell schimmerte wie brauner Samt und war über und über mit Tautropfen bedeckt, die wie Perlen auf dem dunklen Untergrund blitzten. Ihr Schwanz hing züchtig und verschämt zwischen ihren Hüften und sie hüpfte und sprang auf eine sonderbare Art, da sie an allen vieren gebunden war.

Ich ging auf sie zu. Sie erkannte mich, wieherte mir mit ihrer feinen, hellen Stimme einen Gruß zu. Aus ihren großen Augen sprach grenzenlose Liebe und ihr ganzer Kopf lachte und strahlte vor Freude. Sie näherte sich mir springend und legte ihren schönen Kopf auf meine rechte Schulter. Ihr aschgraues Kinn bebte und die einzelnen Haare um ihre Lippen stachen nach meinem Ohr und erregten einen angenehmen Kitzel. Ein warmer, betäubender Geruch von Bergpflanzen, von Pfefferminze und Feldblumen verbreitete sich um mich her, so dass ich von einem leichten Schwindel erfasst wurde. Es war mir, als habe sich mein Gehirn verflüchtigt und in einen ätherischen Nebel aufgelöst. Und völlig unbewusst hoben sich meine Hände und legten sich fest um ihren weichen Nacken und drückten ihn zärtlich an meine Brust.

Als ich mich ermannte, war es bereits zu spät. Alle Anwesenden hatten es gesehen.

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(Hier war wiederum eine unleserliche Stelle.)

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April 1893, Dorf N.

Drei Uhr nachts. Margolith ist dahin!

Ich hatte eine schlaflose Nacht. Meine Kopfwunde verursachte mir unsägliche Schmerzen. Doch ich will versuchen, alle Einzelheiten des Vorfalles der Reihe nach niederzuschreiben.

Gestern lag ich auf meinem Bette im Stalle. Alle Stallbewohner lagen hingestreckt und im Schlafe wiederkäuend. Auch mein Hirn begann sich zu umnebeln und ich fühlte, dass ich bald vom Schlaf übermannt werde.

Plötzlich schlugen Glockentöne an mein Ohr. Das waren deutliche Alarmrufe, die um Hilfe und Schutz flehten. Ich sprang von meinem Lager auf und stürmte hinaus auf die Straße. Der erste, dem ich begegnete, rief mir zu:

— Geschwind, Michael! Überfall! . . . Man mäht unsere Felder!

Die nur schwach beleuchteten Häuser begannen nacheinander schwärzliche Schatten auszuspeien. Die Pferde wieherten. Auf den Freitreppen standen die Frauen und flehten ihre die müden Tiere besteigenden Männer an, vorsichtig zu sein. Und als sie keine Antwort bekamen, gingen sie zurück in die Wohnung, holten die Gewehre und übergaben sie ihren Männern mit zitternden Händen. Die Schar verschwand in der Dunkelheit der Nacht, begleitet von den traurigen Blicken ihrer besorgten Ehehälften.

Ich eilte in meinen Stall zurück, rüttelte Margolith auf und lief gleich wieder hinaus, mich einzureihen. Flinte und Patronentasche hingen kreuzweise um meine Schultern.

Pfeilschnell flog Margolith dahin. Sie überholte die anderen Pferde und jagte allen voran dem Bestimmungsorte zu. Sie begann unruhig zu werden und dehnte die Nüstern. Unter ihren Hufen spritzte die Erde auf und hochaufgerichtet schnaubte sie nach Kampf, nach blutigem Kampf.


Ringsum herrschte undurchdringliche Finsternis. Das Krachen der Schüsse erschütterte die Luft und die Kugeln flogen pfeifend dicht über unseren Köpfen. Im Herzen war etwas aufgeflammt. Das war keine Furcht. Nein; der Selbsterhaltungstrieb war ganz verschwunden, wild raste das Blut in den Adern und rief Rachegelüste wach. Ein längst vergessenes Gefühl, ein Vermächtnis der Urahnen, roher Bewohner der Wüste und ungeschlachter Nomadenhorden erwachte und alle Sinne vereinigten sich wie in einem Brennpunkte auf dem einen Gedanken: hier hast du Flinte und Kugel, lege an, nimm die dort zwischen dem Getreide sich bewegenden dunklen Schatten aufs Korn, ziele genau nach ihrem Herzen und — schieße sie über den Haufen!

Margolith hatte die Reihe der Reiter verlassen und, wie auf Flügeln getragen, war sie vorausgeeilt, den Räubern entgegen, die nun die Flucht ergriffen. Meine Genossen riefen mir warnend zu, doch ich konnte sie nicht mehr zurückhalten; ich musste die Zügel los- und Margolith ihrem Schicksal überlassen. Sie hatte mir selbst während ihres wilden Dahinstürmens eine tollkühne Unerschrockenheit eingeflößt. Ich fühlte, wie ich die Luft durchschnitt und zur Seite drängte. Da sie nicht besattelt war, empfand ich die Wärme ihres Leibes und hörte zugleich, wie der Schaum aus ihrem Maul über ihren Hals hinweg die Brust hinunterrann.

Da stieg aus dem Getreide ein heftiger Knall empor und gleichzeitig sah ich in einer Entfernung von etwa hundert Schritten einen schwarzen Schatten davonlaufen. Gleich darauf zuckte Margolith jäh zusammen und begann sich in einem Wirbel zu drehen. Und plötzlich stand sie still, hob den Vorderkörper, bäumte sich auf, stöhnte und — sank mit mir zu Boden. Ein heftiger Schlag gegen den Kopf raubte mir das Bewusstsein. Man fand mich und Margolith verblutend in der Nähe eines Felsens liegen.

Margolith ist nicht mehr.

Dort zwischen dem Getreide liegt sie verwesend im Sonnenschein, ein Raub der Raben und der Geier.

Sie ist nicht mehr, ist nicht mehr. Wie werde ich diesen Verlust verschmerzen?

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April 1893, Dorf N.

Die Wunde an meinem Kopfe ist vernarbt, aber das Sausen in den Ohren dauert fort. Es gibt Augenblicke, wo ich im Stalle wie wahnsinnig herumlaufe und es wirkt etwas in mir, das mich veranlassen könnte, alles um mich her zu zerstören und niederzureißen. Und im Kopfe ist mir's, als stünde jemand da und risse mir bedächtig nacheinander Zahn um Zahn aus.

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Mai 1893, Dorf N.

Glockenschläge, Pferdegetrapp, Flintenschüsse — woher kommen diese? Und Margolith ist nicht mehr. Mai.

Aha, jetzt weiß ich's. Jede Nacht mache ich es so. Das ist wundervoll, ein seltsames, ungewöhnliches Vergnügen.

Gestern schlich ich mich heimlich aus dem Hause, die Flinte im Arm. Ich näherte mich sachte der Glocke und zog zweimal am Stricke, dann begann ich zu feuern: trach, trach!

Wiederum erklangen an mein Ohr Hilferufe, wiederum entstand ein Tumult, die kleinen Lichter in den Häusern blitzten neuerdings auf, das Wiehern der Pferde durchbebte die Luft, im Herzen erwachte von neuem das alte zerstörungslustige Gefühl, das Blut wogte wieder stürmisch in den Adern und heischte Rache, grausame, erbarmungslose Rache.

Plötzlich umringte man mich von allen Seiten. Man fuhr mich wild an. Einer hatte bereits ausgeholt, mich ins Gesicht zu schlagen, und Reb Joakews Tochter schalt mich mit den schlimmsten Worten.

Das stört mich nicht. Ich werde immer wieder ein und dasselbe tun. Jede Nacht wiederhole ich es regelmäßig. In meiner Tasche liegen noch zwanzig Patronen.

Glockenschläge, Pferdegetrappel, Flintenschüsse — oh, mein Kopf, mein Kopf!

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Als mein Wagen bei den Häuserreihen anlangte, war ich mit dem Lesen zu Ende. Irgendein unangenehmes Gefühl bemächtigte sich meiner. Ich fürchtete mich, zu meinem Brotherrn zurückzukehren.

Auf der Freitreppe stand Michael düster, wie immer, und schaute nach mir aus und als er bemerkte, dass ich die Arbeit fortzusetzen gedenke, rief er mir zu:

— Die Sonne ist ja längst untergegangen.

Ich wandte mich nach dem Innern des Hofes und begann die Stricke und das Geschirr loszumachen.

Da kam Michael abermals durch die Hintertür des Hauses, trat nahe zum Wagen und fing an, mir bei der Arbeit zu helfen. Ich war ganz verwirrt und seine Nähe flößte mir eine namenlose Furcht ein.

Plötzlich kam er ganz dicht an mich heran und stand einen Augenblick mit gesenktem Haupte da, als wollte er sich längst Vergessenes wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Dann hob er seine Brauen, seine Stirn legte sich in tiefe Falten, die Haut seines Schädels und die Haare begannen zu zittern, sich fortzubewegen, die Schramme hinter seinem Ohr sich zu röten und anzuschwellen, und einen fremdartigen Ton anschlagend sagte er:

— Du schonst die Tiere nicht . . . Und nach einer Weile fuhr er fort:

— Ich hatte eine Stute . . . vor zwölf Jahren war es . . . sie hieß Margolith . . .

Auf einmal brach er ab. Seine Gesichtszüge verzerrten sich sonderbar, wie bei jemand, dessen Sinne nicht ganz in Ordnung sind, ein düsterer Schatten legte sich über sie und ein wildes, furchtbares Gelächter brach aus seinem Munde hervor.

Darauf wandte er sich ab und verließ mit hastigen Schritten den Hof.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Bauern