Eine Schreckensnacht

Der heiße Junitag ging zu Ende. Die große, rote Sonnenscheibe fiel auf einmal vom Firmament herab, als hätte sie sich von ihm losgerissen, und verschwand rasch hinter dem am Ufer des Ozeans gelegenen Eukalyptuswäldchen. Zum letzten Male leuchtete die glatte Oberfläche des Meeres hell auf, sich langsam und behaglich wiegend im dämmerigen Schein des bunt gefärbten Himmelszeltes — leuchtete auf und erlosch. Ringsum war es ganz still geworden. In den Höfen standen die Bäuerinnen über ihre Kochherde gebeugt und fachten mit Federfächern die glühenden Kohlen an, damit das Abendessen schneller gar werde, während ihre wohlbeleibten, dickwanstigen, zum größten Teil aus dem gesegneten Rumänien eingewanderten Männer, ohne Röcke, die Hemdärmel bis hoch über die Ellenbogen aufgestreift, die haarige, vom Fett sich faltende Brust weit entblößt, auf den nach der Straße hinaus liegenden Veranden saßen und sich aus den brummenden Teemaschinen die Gläser füllten, die sie dann allmählich leerten.

Von drüben, von den Berghängen und Getreidefeldern her, begann eine sanfte Brise herüberzuwehen, weich wie Samt, reichlich mit Feuchtigkeit getränkt und geschwängert von den Düften wohlriechender Kräuter — dem berauschenden, dem nahen Sumpfgelände entsteigenden Moderduft der dort üppig wuchernden Gewächse, vermengt mit dem würzigen Hauch der wilden Rosen, deren Gesträuch sich bescheiden aus der Tiefe zwischen den Felsenklüften emporrankt, der Ader einer still dahinrieselnden Quelle folgend.


Und dieser berauschend süß wirkende Abendzephir schien in Begleitung von irgend etwas schwärzlich Düsterem herbeigesäuselt, zu sein, das immer mehr um sich zu greifen und alles einzuhüllen begann, das ganze Dorf „Sichron" mitsamt seinem Zubehör, so dass man es bis in den letzten Winkel empfand: bald, bald bricht die Nacht ein.

Plötzlich entstand zwischen den Hühnersteigen eine große Verwirrung. Gackernd und schreiend flog das Hühnervolk in die Höhe, fiel bald ermattend auf den Erdboden zurück, versuchte sich ein paarmal nacheinander wieder emporzuschwingen, bis es sich zuletzt ruhig auf die Stangen niederließ, den ausgestreckten Hals wieder einziehend, um den Kopf zwischen den Flügeln zu verstecken und einzuschlummern. Und die Pferde wie auch das gesamte Hornvieh, die das ganze in dieser Zeit des Überflusses ihnen verabreichte Futter restlos verzehrt hatten, fingen an, sich vergnüglich an den Krippen zu reiben, unaufhörlich mit den massiven Ketten klirrend.

Um diese Zeit trat Naamon, der Dorfwächter, ein junger Mann von mittlerem Wuchs, hager, mit einem auffallend ernsten und schweigsamen Gesicht, umrahmt von wirrem, zerzaustem Haar, aus einem am Dorfende gelegenen niedrigen Hause, begrüßte seine verwitwete Hauswirtin, die ihm sein in ein rotes Tuch gewickeltes Essen herausreichte — und begab sich, wie allabendlich, auf seinen Wächterposten.

Die Flinte über der Schulter, den breitrandigen Hut auf dem Kopfe, ging er mit großen, schweren Schritten durchs Dorf, mit den benagelten Schuhen geräuschvoll gegen die spitzen Steine des Straßenpflasters schlagend, und ließ seine Blicke über die in schwarzes Dunkel gehüllte Häuserreihe gleiten. Aus jedem der Fenster schaute der Kopf eines jungen Mädchens hervor, nachlässig hingelehnt auf einen entblößten runden Arm, dessen blendende Weiße die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Hin und wieder wurde ihm ein Wort zugeworfen, leise ausgesprochen mit weicher, sanfter Stimme, die in den Wellen der mit linder Abenddämmerung gesättigten Luft herzinnig nachzitterte.

— Schalom, Naamon.

Er schüttelte den Kopf, lachte, wie verschämt, in sich hinein und entgegnete:

— Schalom!

Und setzte seine Wanderung mit denselben schweren und gemessenen Schritten fort, bis er an sein Ziel, die Dreschtenne, gelangte.

Gleich nachdem er den großen, geräumigen Platz betreten hatte, der über und über mit Garben verschiedenen Getreides, Bohnen und Wicken besät war, die im Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht den Eindruck erweckten, als wenn sie zu einem einzigen großen Klumpen zusammengewachsen wären, begann er seine erste Runde zu machen, besserte im Gehen hie und da am Zaun eine durchbrochene Stelle aus, die ihm verdächtig erschien, und prüfte mit geübtem Auge das im Laufe des Tages neu hinzugekommene Getreide und die Wandlung, die mit der Tenne in den paar Stunden vorgegangen war, während welcher er geschlafen hatte.

Darauf näherte er sich einem der Getreidehaufen, bohrte in denselben ein tiefes Loch, löste das Täschchen mit dem Mundvorrat von seinem Gürtel, schob es in die Höhlung und ließ sich selbst neben dem kleinen Schober niedersinken, während er prüfend die Augen nach dem Himmel emporhob, der bereits voller Sterne hing, die wie silberweiße Blasen auf der dunkelgrauen Oberfläche eines Flusses an stillen, wolkigen Sommertagen glitzerten.

Es war Neumond. Nur für einige Augenblicke erschien die Mondsichel wie ein feiner Goldstreifen am Himmel und verschwand sofort. Die sich immer mehr verdichtende Finsternis sank bleischwer auf die müde Erde herab, die Sterne zitterten, ihre kurzen, lauen Strahlen verschmolzen miteinander und es war, als höre man ihr fahles Licht leise und mysteriös sich regen, ähnlich dem geheimnisvollen, stummen Krabbeln im Innern eines Ameisenhaufens.

Es dauerte nicht lange, so kam eine Gruppe junger Männer und Mädchen lärmend dahergezogen, sämtlich Bewohner von „Sichron", eingeborene Kinder des Dorfes, die gewohnheitsmäßig jeden Abend einen Spaziergang nach der Tenne machten. Zunächst ließen sich Schritte und das Rascheln von Frauenkleidern hören, dann folgte ein Durcheinander von groben männlichen und feinen weiblichen Stimmen in mannigfachen Tonarten, mit welchen die lustige Gesellschaft, schon von weitem ihr Erscheinen ankündigend, sich jetzt geräuschvoll durch das Tor drängte. Man nahm auf einem der Getreidehaufen Platz, dessen Spitze nun infolge der ihn umwogenden bauschigen Röcke von weißem Linnen schneeweiß erglänzte, wie der Gipfel des Hermon in einer finstern Märznacht, und die gewohnte Abendbelustigung mit den üblichen Nummern: Gesang, Gelächter und Geschwätz nahm ihren Anfang.

Die Stimmen wurden immer lauter. Die jungen Leute versteckten sich hinter den Schultern ihrer arglosen Gefährtinnen und stießen sie von hinten an, dass sie kreischend von den abschüssigen Getreidehaufen herabrutschten.

So hatte beinahe zweieinhalb Stunden, in wilder Ausgelassenheit und unter allerlei mutwilligen Streichen die fröhliche Jugend ihren Übermut ausgetobt. Der jubelnde Lärm hörte während der ganzen Zeit nicht für einen Augenblick auf, die Luft zu erschüttern. Endlich, nachdem sie sich müde geschrien hatten, fingen sie an, sich paarweise zu zerstreuen, ließen sich vereinzelt hier und dort auf den Getreidehaufen nieder und verhielten sich ruhig und stillschweigend. Nur von Zeit zu Zeit brach bald von der einen, bald von der anderen Ecke ein Jüngling oder ein Mädchen in ein schallendes Gelächter aus.

Während der ganzen Dauer dieses geräuschvollen Spektakels lag Naamon, im vollen Bewusstsein, dass andere jetzt für ihn wachten, ruhig ausgestreckt, als ob er schlummere. Erst als die letzten Schritte der Spaziergänger in der Ferne verhallten, raffte er sich auf, warf die Flinte um die Schulter und begann zwischen den Garben langsam auf und ab zu gehen.

Seine Gangart war jetzt leicht, bedächtig. In einen schwarzen Mantel gehüllt, bewegte er sich sachte vorwärts, indem er seine Augen nach allen Seiten wandte, mit jenem spähenden Blick, der sich bemüht, zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden, und mit jenem zaghaften Gefühl gespannter Erwartung, das der beständige Argwohn bei solchen nächtlichen Rundgängen unbewusst im Herzen aufsteigen lässt und fortwährend wach erhält.

Nachdem er seine zweite Runde vollendet hatte, ging Naamon, wie es stets seine Gewohnheit war, zum Tor der Tenne hinaus, setzte sich auf einen der Steine und steckte seine Pfeife in Brand. Es war kurz nach Mitternacht, im Dorfe lag bereits alles im tiefen Schlafe. Zuweilen tönte von dorther der abgerissene Schrei eines Esels oder das Winseln eines weinerlichen Hundes zu ihm herüber. Von weiter Ferne sausten dumpfe Schüsse durch die Luft, ohne dass man wusste, woher sie kamen und wem sie galten. Ein leichter Wind hatte den Staub aufgewirbelt, die Eukalyptusbäume und Akazien auf dem gegenüberliegenden Friedhofe, die sich wie dicke, schwarze Flecke vom düsteren Hintergrunde der Nacht abhoben, lispelten einander geheimnisvoll zu und der Marmor der Grabsteine schimmerte zwischendurch in einem sonderbaren schaurigen Zwielicht. Die Stoppelberge jenseits des Tores schienen einander bebend zuzunicken und die Sterne, jene unabsehbare Sternen weit, die im fernen Luftraum ihr eigenartiges Leben führt, vermehrten sich zusehends bis ins Unzählige.

Plötzlich glaubte Naamon ganz in der Nähe ein Geräusch von Schritten zu vernehmen und bevor er noch Zeit hatte, im Dunkeln etwas zu unterscheiden, wuchs vor seinen Augen die Gestalt eines Menschen empor, als habe sie jemand mit einem Schlage aus dem Boden gestampft.

Er erschrak und rief:

— Wer da!

Obgleich er mit seinem Blicke die unmittelbare Nähe des Menschen erfasste, sah er von ihm fast gar nichts. Er hörte nur kurze Lachläufe vor sich herrollen, gleich darauf fühlte er eine große, schwere Hand auf seine Achsel niedergleiten und der Mann sprach:

— Hab' keine Angst, Freund. Das bin ich, Ephraim.

Und in demselben Augenblicke fuhr er fort:

— Und Du stehst noch immer Wache bei den Toten, hi, hi. — Und er wies mit der Hand nach dem Friedhof hinüber.

Ephraim war ein hoher, kräftiger Bauer, der bereits sein sechzigstes Lebensjahr zurückgelegt hatte. Er stand in jenem Alter, wo der Schlaf bereits den Menschen zu fliehen beginnt, zumal wenn er sein ganzes Leben in rastloser Arbeit verbracht und viele schwere Erlebnisse hinter sich hat. Ephraim hatte die Gepflogenheit, nach Mitternacht aufzustehen und eine Zeitlang spazieren zu gehen. Das tat er so Nacht für Nacht, als sei es seine Absicht, mit den paar Jahren, die er noch zu leben hatte, sparsam umzugehen, und als fürchte er sich, in Unterwäsche, mit geschlossenen Augen und bewusst und gefühllos im Bette zu liegen, was ihn an den nahen Tod erinnerte.

Er blieb hart neben Naamon stehen, ließ sich von ihm ein Streichholz geben, zündete sich die Zigarette an, die er im Munde stecken hatte, und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein, wobei er ein Bild nach dem anderen aus seinen Jugendjahren vor Naamon aufrollte, Erinnerungen aus längst vergangener Zeit, da er selbst bei der Verwaltung angestellter Wächter war und durch unbewohnte Einöden auf unfahrbaren Wegen hatte wandern müssen. Und aus seinen Worten klang es wie verhaltener Verdruss und unterdrücktes Murren, als sehnte er sich zurück nach jener Vergangenheit, die für ewige Zeiten verronnen war.

Dann seufzte er leise auf, reichte Naamon zum Abschied die Hand, tat einige Schritte vorwärts und drehte sich gleich wieder gegen Naamon um, indem er in ernstem Tone warnend sagte:

— Nun, Freund, nur genau aufgepasst. In einer Nacht, wie diese, gibt es mehr Diebe als Mücken. Wir kennen das.

Naamon erwiderte:

— Wahrhaftig, eine ungewöhnlich finstere Nacht.

Und Ephraim fügte hinzu: — Ja, ja . . . ungewöhnlich. Sagte ich's doch.

Er ging davon. Wiederum ließen sich Schritte vernehmen, diesmal aber verliefen sie sich im Dunkel der Nacht. Dann erdröhnte in der Luft das Knattern eines Tores, das von innen zugezogen wurde, wie das durch öffnen eines Krans verursachte Aufbrausen eines Wasserstrahls, und wieder war alles finstere, lautlose Stille.

Naamon blieb auf seinem Platze sitzen und begann im Dunkeln um sich zu spähen, indem er dieses mysteriöse Raunen der Nacht, das ihn von allen Seiten umgab, in sich einsog und unaufhörlich auf sich wirken ließ. Plötzlich wurde er ein wenig unruhig. Weshalb? Er wusste es selber nicht. Es hatte etwas Peinliches an sich, so ganz mutterseelenallein hier zu sitzen und diesen kurzen, bruchstückartigen Halblauten zu lauschen, die der Gehörsinn kaum aufzufangen vermag und deren Ursprung unbekannt ist. Er fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn und sprach hörbar zu sich selbst:

— Wahrhaftig, eine ungewöhnlich finstere Nacht.

Darauf begann er die Asche aus seiner Pfeife zu entfernen, indem er mit dem Pfeifenkopf gegen einen Stein schlug, stopfte sie frisch und — steckte sie an. Er tat nacheinander ein paar tiefe Züge und blies den Rauch in Ringelchen vor sich hin, in der Absicht, seine Gedanken auf andere Gegenstände zu lenken, es ging aber nicht.

Er hob den Kopf und schaute um sich. Es war alles wie früher. Dieselbe Finsternis schlug ihm voll ins Auge, dass er sich wie blind vorkam. Die Bäume setzten ihr unheimliches Geflüster fort. Der Sand unter seinen Füßen, mit zerwühltem Stroh und zerhackten Stoppeln vermengt, bewegte sich und gab leise knisternde Laute von sich. Die Luft war inzwischen etwas feuchter geworden und all die von weit her kommenden Töne umwallten ihn nach wie vor.

Er hatte so mit der größten Anstrengung seiner Sehnerven eine gute Stunde lang vor sich hingeschaut und gespannt aufgehorcht. Diese gedämpften Laute hatten ihn mit einer förmlichen Flut von sonderbaren Gelüsten Übergossen, über deren Beschaffenheit er sich keine Rechenschaft geben konnte und die in seinem Hirn eine große Verwirrung anrichteten. Seine erstarrten Glieder begannen unter dem taudurchnässten Mantel langsam zu zittern und seine Haut zog sich, wie von einem Schauer durchrieselt, zusammen.

Er fragte sich selber:

— Soll das Furcht bedeuten?

Und er lachte laut auf, sprang in die Höhe, griff nach der Flinte und begann in der Tenne mit dem gewohnten spähenden und forschenden Schritt sich behutsam vorzutasten, wie wenn er jemandem auflauere, um sich über ihn zu stürzen. Er hatte bereits die Hälfte der Tenne zurückgelegt, als er sich von allen Seiten von Strohhaufen und Garben verschiedener Form und Größe umgeben sah. Hier war die Finsternis etwas von goldig fahl flimmernden Streifen, welche die Getreidehaufen um sich verbreiteten, gelichtet und hie und da huschten Johanniskäfer zwischen den Sangen, wie grünliche Lichtpunkte, wie die Blicke einer Natter.

Plötzlich stockte sein Herz, als ob er etwas erwarte, seine Ohren hörten nicht auf zu saugen und zu schlürfen und über seinen ganzen Körper lief ein Zittern. Es kam ihm vor, als höre er Schritte ganz in der Nähe. Er wandte seinen Kopf, sah über die eigene Schulter hinweg nach hinten, gewahrte aber nichts. Er setzte seine Wanderung langsam fort und gebrauchte dabei noch größere Vorsicht, indem er seine ganze Aufmerksamkeit darauf richtete, was hinter seinem Rücken vorging. Das Geräusch ließ sich von neuem hören, folgte ihm dicht auf dem Fuße, als wäre es an seine Fersen gebunden. Er erbebte abermals, fuhr hastig herum, suchte mit seinem scharfen Wächterauge neuerdings die Finsternis zu durchdringen, in der Hoffnung, etwas zu erhaschen, doch vergeblich.

Eine Weile blieb er so regungslos stehen, dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, die unter den perlenden Schweißtropfen brannte, und sprach zu sich selbst mit gebrochener Stimme:

— Ich bin heute wieder so aufgeregt. Ich fürchte, das verdammte Fieber hat mich wieder gepackt.

Er schaute zum Himmel empor, und als er sah, dass vom Großen Bären nur noch die drei letzten Sterne geblieben waren, mutmaßte er, dass es zwei Uhr nach Mitternacht sei, und beschloss, zu jenem Getreidehaufen hinzugehen, wo er vorhin das Essen versteckt hatte, um einen Imbiss zu sich zu nehmen.

Er schloss für einen Moment lang die Augen, um sich genau über den Ort zu orientieren, an dem er sich befand, dann raffte er sich auf und näherte sich mit festen und großen Schritten dem Getreidehaufen, zupfte von demselben einen Arm voll Stoppeln, die vom Nachttau feucht geworden waren, ab, holte seine Tasche hervor, setzte sich gemächlich hin und begann sein Brot zu verspeisen.

Er aß, aber ohne sonderliche Lust, als habe er den ganzen Appetit verloren. Seine Kauwerkzeuge arbeiteten lässig, das Brot zerbröckelte und fiel ihm in Krumen auf den Mantel herab. Der ganze Essprozess war ihm diesmal zuwider, als hätte man ihn gezwungen, gegen seinen Willen irgend eine schwere Arbeit zu verrichten; und im Munde fühlte er einen bitteren Geschmack, wie wenn man ihn mit irgend welchem feuchten, breiigen Stoff ausgepicht hätte.

Schließlich wurde ihm die Sache zu arg und er schleuderte unwillig das Essen weit von sich weg, hob es aber gleich wieder auf, steckte es in die Tasche und brachte aus einer Ecke des Getreidehaufens einen angetauten, eiskalten Wasserkrug zum Vorschein und begann in großen Zügen zu trinken, bis er den Krug bis auf den Grund geleert hatte.

Als sein Durst gestillt war, spuckte er aus vollem Munde aus, streckte sich seiner ganzen Länge nach am Fuße des Getreidehaufens hin und vergrub seinen Kopf tief, tief in die Stoppeln, in der Absicht, einzuschlafen. Es ging nicht. Zwischen den Sangen wimmelte es von Insekten, die unaufhörlich krochen, summten und zirpten. Er begann nun absichtlich dem Treiben dieses Ungeziefers zuzuhören, um sich zu zerstreuen und die ihn beunruhigenden Gedanken auf etwas anderes hinüberzuleiten. Es waren da verschiedene Arten vertreten. Kleine und große Mücken und Ameisen von jeder Gattung, allerlei Kriech- und Kerbtiere krochen rings um ihn her, rüttelten und wühlten im Stroh herum, flogen auf und ab, einige von ihnen setzten sich auf seinen Nacken und bohrten ihm ihren Stachel tief ins Fleisch, spazierten ihm juckend auf Hals und Wangen umher und setzten ihm arg zu.

Plötzlich wurde er von einer Erschütterung in der Luft aufgeschreckt. Es war, als würde etwas hin und her geschleift. Er riss mit einem wilden Ruck den Kopf in die Höhe und lauschte. Nichts war passiert. Im Gegenteil. Jetzt war die Stille noch vollkommener denn zuvor: kein Windchen wehte, kein Baum rührte sich — alles befand sich in einem Zustand der Erstarrung, wie er nur in dunklen Juninächten etwa eine Stunde vor Tagesgrauen eintritt. Die Getreideschober lagen, als wären sie aus Erz, sie regten und bewegten sich nicht.

Naamon blieb sitzen, den Körper auf beide Arme gestützt, die er nach hinten zu gegen die Erde gestemmt hatte, das Gesicht nach oben gerichtet, den Mund weit aufgesperrt und die Ohren gespitzt, als wollten sie etwas auffangen, sich an etwas festsaugen.

Einige Minuten verrannen in anhaltendem, eifrigem Lauschen. Die Stille ringsum war fortdauernd erstickend schwer. Doch plötzlich entstand unweit des Getreidehaufens, wo Naamon sich befand, von neuem ein Geräusch. Diesmal hörte er es ganz deutlich, dieses wunderliche Schaben, wie wenn eine Schlange sich kriechend fortbewegt.

Er stand sachte auf, griff nach seiner Flinte, beugte den Oberkörper zur Erde herab und begann wiederum angestrengt zu horchen. Jetzt war es für ihn kein Zweifel mehr, dass etwas in der Tenne herumschlendere, mit leisen, vorsichtigen Schritten, schleichend, wie ein Dieb.

Naamons Herz stand einen Moment lang still. Doch bald fing es an heftig zu pochen, mit jenen häufigen, unmittelbar aufeinanderfolgenden Schlägen, die durch den Körper einen Schauder jagen, dass er bebend zusammenzuckt. Gleich darauf ermannte er sich, umklammerte fest den Flintenkolben und schob sich, wie ein Fuchs, auf den Zehen, leise gegen die Stelle vor, woher ihm das Geräusch zu kommen schien, bis an einen der Schober am äußersten Ende der Tenne, hart am Zaun.

Auf einmal hielt er inne. Er sah rings umher nichts, aber er fühlte auf eine unmittelbare Weise ganz in seiner Nähe die Anwesenheit eines lebenden Wesens und hörte ganz deutlich, wie es die Garben mit Gewalt aus dem Schober herausriss. Er legte sich neben einem der Getreidehaufen in den Hinterhalt und wartete noch einige Augenblicke, um sich zu vergewissern. Als nun das Geräusch auch dann nicht aufhörte, warf er, um in seinen Bewegungen unbehindert zu sein, mit raschem Griff den Mantel ab, legte den Finger auf den Hahn des Gewehres, tat springend einen Schritt vorwärts und rief mit fester Stimme: — Wer da!

Niemand antwortete. Er wiederholte die Frage, bekam wiederum keine Antwort. Als er auch zum dritten Male auf seinen scharfen Zuruf ohne Antwort blieb und anstatt dessen vor seinen Augen irgend ein schwärzlicher Gegenstand an ihm vorbeihuschte, der, die Luft durchschneidend, mit einem Satze hinter dem jenseits des Zauns befindlichen Drahtverhau verschwand, so dass die Drähte schwirrend auseinanderfuhren — überlegte er nicht lange, sondern drückte los, ein-, zwei-, dreimal, bis er sämtliche Kugeln abgefeuert hatte.

Polternd, wie Hagelkörner, die gegen ein Ziegeldach schlagen, flog die letzte Kugel dahin und fiel, als wäre sie mitten in ihrem Lauf abgeschnitten worden, in einiger Entfernung nieder. Unmittelbar darauf hörte er einen Gegenstand schwer zu Boden sinken. Ein kurzer, gellender Schrei, wie der eines verwundeten Tieres, durchschnitt die Luft, und dann wurde es ganz still.

Naamon verharrte noch eine Zeitlang, auf seine Flinte gelehnt, in seiner früheren Stellung, während seine aufgerissenen Augen weit aus den Höhlen hervortraten und sich immer noch vergeblich abmühten, die Finsternis zu durchdringen. So lauschte er angestrengt eine längere Zeit ohne Unterlass, bis ihn ein Schwindel erfasste und aus den Augen die hellen Tränen zu laufen begannen. Er sah aber trotzdem nichts, und je mehr er seine Augen anstrengte, um so verschwommener und unklarer wurde alles um ihn herum, als hätte man ihm einen dicken schwarzen Vorhang vor die Augen gehängt. Endlich übermannte ihn eine große Müdigkeit. Er kletterte die Spitze des Schobers hinauf, lud die Flinte von neuem und nahm eine abwartende Haltung an, indem sein Blick unverwandt an dem Punkte haften blieb, von woher nach dem Schießen der seltsame dumpfe Schrei zu ihm gedrungen war.

Ringsum war es still, mausestill und schwül zum Ersticken. Auf einmal tauchte eine kühle Luftwelle auf, strich leise über die Wipfel der Getreideschober hin und verschwand; nach einem Augenblick folgte eine zweite und fegte schon etwas wirbelig durch die Tenne, dann eine dritte, eine vierte und so ohne Unterbrechung in einem fort; und ein frischer, duftgeschwängerter Zephir erhob sich und peitschte die umherliegenden Stoppelreste mit solcher Gewalt gegen die Getreideschober, dass sie wie losgerissen und sich zu bewegen schienen.

Da erbebte etwas dort jenseits des Zauns, wie das erste Erwachen eines Vogels in den Zweigen, dann folgte ein leiser Seufzer, wie der eines Kindes, das vom vielen Weinen müde wurde, und es trat wieder lautlose Stille ein.

Naamon fühlte, dass ihm die Haare zu Berge standen. Sein Blick hing noch unverwandt an demselben Punkte, er wollte ihn abwenden und vermochte es nicht, als hielte ihn eine geheime Kraft fest.

Der Seufzer quoll von neuem auf, leise, gedämpft, als käme er aus der Brust eines Menschen, den man am Halse würgt. Naamon fühlte das Blut in seinen Adern erstarren. Er erhob sich und wollte hingehen zu der Stelle, woher diese Seufzer so geisterhaft schaurig tönten, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Da das Stroh unter seinen Füßen ganz durchnässt war, glitt er aus und kollerte langsam den Abhang des Getreideschobers hinunter, als sinke er in einen Abgrund, dessen Tiefe unergründlich ist.

Er fühlte jetzt, wie das Blut ihm nach dem Kopfe stieg, wie es, gleichsam einen Ausweg suchend, ihm in die Schläfen drang, dass sie mächtig anschwollen. Eine eigenartige Wärme, die jedes Glied einzeln durchschauerte, überflutete seinen Körper. Er wollte die Augen schließen, aber die Lider gehorchten ihm nicht, so dass er gegen seinen Willen fortfahren musste, zu schauen, bis ihm die Augen von Blut überliefen. Sein Verstand verdüsterte sich, seine Sinne entwichen ihm und es war ihm, als wäre das Hirn ausgetrocknet und verraucht. Nur seine Ohren sogen unermüdlich die Seufzer ein, die ununterbrochen von jenseits der Tenne herüberhallten:

Ja . . . ja . . . bo . . . ja . . .

Und so in einem fort, in einem fort.

Mittlerweile begann die Morgenröte sich aus dem Dunkel herauszuschälen. Die Bäume nickten lebensvoll mit ihren Wipfeln nach allen Seiten. Die Sangen rieben sich nach wie vor gegeneinander und schienen herumzukriechen wie lebende Wesen. In den Höfen wurde es lebendig. In weiter Ferne schlug ein Hahn mit den Flügeln und krähte.

Ephraim trat um diese Stunde an seinen Fensterladen, stieß ihn von innen auf, atmete mit voller Lunge die frische Morgenluft ein, zog sich eilig an und ging nach dem Hofe. Darauf band er die an die Leitern eines Wagens festgebundenen Pferde los und schritt, seine Tiere nach sich nachziehend, zum Tor hinaus.

Als er bei der Tenne anlangte, graute bereits der Tag und das Morgenlicht begann sich immer mehr über die Erde zu verbreiten. Er wandte seinen Kopf dem Friedhofe zu und als er Naamon, der um diese Zeit rauchend auf dem Zaun des Friedhofes zu sitzen pflegte, nicht gewahrte, zog er seine Stirn in Falten, schüttelte verwundert den Kopf, ließ die Pferde stehen, trat ins Innere der Tenne und rief:

— Naamon, he, Naamon!

Plötzlich stand er still und stieß einen leichten Schrei aus. Vor ihm lag Naamon quer hingestreckt neben einem der Getreidehaufen mit stramm gereckten Beinen, die Flinte unter dem Arm, das Gesicht flammend rot, die Augen blutunterlaufen und mit einem Blick, der gleichzeitig gläsern starr und wahnsinnig schien, ohne mit einer Wimper zu zucken und nach einem Punkte hinstierend, dort jenseits des Zauns.

Unwillkürlich folgte Ephraims Blick dem Naamons und er fuhr erschrocken zurück.

Jenseits des Zauns, in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten, lag der Körper eines Menschen mit dem Gesicht erdwärts, Burnus und Turban beiseite geschoben. In seinen Armen hielt er einige Strohbündel, die er mit Aufbietung seiner letzten Kräfte fest an sich drückte, und aus seiner Schulter nahe der linken Achsel klaffte eine tiefe Wunde, aus der reichlich das Blut quoll und seine Kleider rot färbte.

Plötzlich begann der Körper sich zu rühren. Dann hob er mit sichtlich großer Anstrengung den Kopf, ließ ihn einen Augenblick lang in der Luft hängen und umfasste alles ringsum mit einem trüben Blick, wie ein von seinem Herrn gezüchtigter Hund. Endlich sank der Kopf schwer zurück, während aus dem schlammbedeckten Munde ein kurzer Seufzer hervorbrach. Er blieb erstickt zwischen den Strohbündeln stecken, die er mit beiden Armen umschlungen hielt und fest an seine Brust presste, in der der letzte Herzschlag verstummte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdische Bauern